Glaube und Werke
Es gibt in der Bibel nur wenige Widersprüche. Und was widersprüchlich wirkt, lässt sich meist auflösen, wenn man beachtet, dass verschiedene biblische Autoren für dieselbe Sache verschiedene Begriffe verwenden und ihrer persönlichen Perspektive entsprechend verschiedene Akzente setzen. An einem Punkt ist es aber komplizierter, und die Irritation größer, weil sich das Neue Testament wirklich zu widersprechen scheint. Und das betrifft das Verhältnis von Glaube und Werken, wie es einerseits Paulus und andererseits Jakobus beschreiben.
Paulus sagt sehr deutlich, dass der Mensch nicht wegen seiner guten Werke gerettet wird, sondern einzig und allein durch den Glauben an Jesus Christus. Jakobus hingegen lehrt, dass der Glaube allein ohne gute Werke tot ist und nicht selig macht (Jak 2,17). Paulus betont, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke allein durch den Glauben (Röm 3,28). Und Jakobus hält dagegen, dass der Mensch durch Werke gerecht wird und nicht durch Glauben allein (Jak 2,24). Als Bibelleser reibt man sich da die Augen und staunt. Denn das sind nicht bloß unterschiedliche Akzente, sondern allem Anschein nach unvereinbare Positionen. Nach den Worten des Paulus scheinen gute Werke nicht nötig zu sein, weil man auch ohne sie in den Himmel kommt. Und nach Jakobus scheint genau das unmöglich zu sein, weil der Glaube allein nicht reicht. Welcher Apostel hat nun Recht, wenn doch beide nicht gleichzeitig Recht haben können?
Um in der Sache weiterzukommen, müssen wir sehen, gegen wen die beiden sich wenden. Denn ihre Situation ist sehr verschieden. Paulus schlägt sich mit Christen herum, die auf das Gesetz pochen, die sich fromme Werke zugutehalten und damit durch eigene Verdienste gerecht und selig werden wollen. Denen schärft Paulus ein, dass sie entweder durch das Verdienst Christi die Seligkeit erlangen – oder gar nicht. Nicht das, was der Mensch tut, bringt ihn in den Himmel, sondern das, was Christus für den Menschen tut. Und weil „glauben“ heißt, sich dieses Tun Christi gefallen zu lassen und das Geschenk der Gnade aus seinen Händen anzunehmen, darum hängt das Heil allein am Glauben. Die guten Werke tragen zu unserer Rettung nichts bei, sondern sie kommen, wenn der Glaube uns gerettet hat, ganz automatisch hinterher. Sie sind ein Effekt des Gnadenstandes, der nicht fehlen sollte, sind aber keine Bedingung – und von daher auch nicht nötig, um das Heil zu erlangen. Diese klare paulinische Position muss festgehalten werden, damit Christen nicht etwa auf sich selbst vertrauen, sondern allein auf Christus. Jakobus aber macht nicht Front gegen Paulus selbst, sondern er hat es in seiner Gemeinde mit Gegnern zu tun, die aus der richtigen Lehre des Paulus falsche Konsequenzen ziehen. Jakobus streitet gegen Menschen, die sich auf Paulus berufen, ohne Paulus wirklich verstanden zu haben. Denn die hören, dass nur der Glaube selig macht, und folgern, dass die guten Werke dann ja überflüssig sind, und man leben kann, wie es einem gerade gefällt. Diese Leute nehmen die Gnade Jesu Christi als einen Freibrief, um munter drauflos zu sündigen! Sie pfeifen auf die Gebote und auf die Nächstenliebe, folgen ihren Gelüsten und fragen nicht, was Gott gefällt, nennen sich aber trotzdem „Christen“, denn Paulus hat ja gesagt, man bräuchte keine guten Werke! Natürlich hat Paulus das so weder gesagt noch gemeint. Aber Jakobus hat es mit Leuten zu tun, die Paulus so verstehen wollen. Und Jakobus will dem entgegenwirken durch seine These, die Werke seien durchaus nötig, und der Glaube allein sei ohne Werke tot. Man kann den Jakobus an diesem Punkt gut verstehen! Auch er hat ein wichtiges und richtiges Anliegen! Denn wer mit Gott versöhnt ist, wird selbstverständlich Gottes Willen folgen und in seinem Sinne leben. Von Gottes Liebe umfangen wird er die erfahrene Liebe an andere weitergeben, statt mutwillig auf Vergebung hin immer weiter zu sündigen! Das Anliegen des Jakobus ist völlig berechtigt!
Wenn wir aber beide Seiten verstehen, und jeder auf seine Weise Recht hat – wie kann es dann sein, dass sich Paulus und Jakobus widersprechen? Ich meine der verwirrende Eindruck entsteht, weil die guten Werke, die aus dem Glauben hervorgehen, in einer Hinsicht nicht notwendig und in einer anderen Hinsicht notwendig sind:
( 1. Satz )
Nicht notwendig sind die Werke im Blick auf das Heil des Menschen, denn dafür sorgt Jesus Christus ganz allein.
( 2. Satz )
Notwendig sind sie aber, insofern der Glaube gar nicht anders kann, als auf die eine oder andere Weise die Frucht guter Werke hervorzubringen.
Beide Sätze sind richtig und wichtig! Denn der erste muss feststehen, um alles „Rühmen“ aufgrund von Werken auszuschließen. Und der zweite muss feststehen, damit die erfahrene Gnade nicht folgenlos bleibt, sondern wirklich in Nachfolge mündet. Das eine ist der Indikativ der Heilszusage (= du bist mit Gott versöhnt!), das andere der Imperativ der Heiligung (= also lebe auch entsprechend!). In Spannung tritt beides aber nur, wenn man eins davon missversteht. Jakobus tritt Christen entgegen, die den 2. Satz ignorieren. Sie ziehen aus dem 1. Satz libertinistische Konsequenzen. Sie halten gute Werke für überflüssig. Und gegen diesen missverstandenen Paulinismus will Jakobus den 2. Satz verteidigen. Er tut es aber leider in der ungeschickten Weise, dass er dabei den 1. Satz angreift und relativiert. Er streitet gegen etwas, das Paulus so nie gesagt hat, schießt dabei über das Ziel hinaus und behauptet, die Werke seien zum Heil notwendig. Wenn Jakobus aber in gutem Eifer eine falsche These vertritt (oder eine richtige These auf sehr ungeschickte Weise), wie kann dann so etwas ins Neue Testament gelangen? Hat da der Heilige Geist „nicht aufgepasst“? Nein, ich denke der Jakobusbrief hat im Neuen Testament eine wichtige warnende Funktion, indem er uns (wie ein altes Schiffswrack) auf die Klippe aufmerksam macht, an der er gescheitert ist. Man kann an dieser Klippe in doppelter Weise scheitern. Einmal nämlich so wie die Gegner, gegen die Jakobus streitet, weil sie Satz 1 auf Kosten von Satz 2 groß machen: unter Berufung auf die vergebende Gnade Christi vernachlässigen sie die guten Werke. Und zum anderen kann man an dieser Klippe scheitern wie Jakobus selbst, der den 2. Satz auf Kosten des 1. retten will: um das Gewicht der Werke zu betonen, behauptet er, sie könnten uns in den Himmel bringen. Beides ist falsch und beides entfernt uns vom Evangelium! Weil uns das Neue Testament aber so deutlich auf die gefährliche Klippe aufmerksam macht, sind wir gewarnt und können beide Irrwege vermeiden. Es ist nämlich gar nicht nötig, eine der beiden Wahrheit gegen die andere auszuspielen. Man kann durchaus an beiden Sätzen festhalten, ohne dass ein Widerspruch entstünde. Das ist kein logisches Problem, denn die Notwendigkeit der Werke wird durch die Sätze 1 und 2 nicht in derselben Hinsicht bejaht und bestritten, sondern in zwei verschiedenen Hinsichten. Und es liegt darin auch kein existentielles Problem, denn man kann die Frage seines persönlichen Heiles völlig von den eigenen Werken lösen, sie ganz und gar in Christi Hände legen – und trotzdem entschlossen nach guten Werken streben. Es bleibt dabei unbestritten, dass ich als Christ ganz viel Gutes tun soll! Aber zu meiner Erlösung muss ich – Gott sei Dank! – nicht das Geringste tun. Denn als Christus für mich starb, hat er keine halben Sachen gemacht. Er hat am Kreuz den ganzen Preis gezahlt, den meine Erlösung kostet. Und ich würde ihn beleidigen, wenn ich daran mit eigenen Leistungen noch etwas „ergänzen“ wollte! Bin ich aber das drückende Problem meiner Rettung los, weil ich es Christus überlassen darf, habe ich den Kopf umso freier, um nicht aus Zwang, sondern aus reiner Dankbarkeit die erfahrenen Liebe an meinen Nächsten weiterzugeben.
Wie verhalten sich demnach Glaube und Werke zueinander? Ich will es mit Bildern beschreiben. Wenn jemand ein schönes Holzfeuer anzündet, um sich daran zu wärmen, dann entsteht dabei notwendig auch Rauch. Und zu Recht sagt man: wo Rauch ist, ist auch Feuer. Doch was wärmt, ist natürlich nicht der Rauch, sondern das Feuer. So sind die guten Werke eine Begleiterscheinung des Glaubens, mit der man sicher rechnen kann. Wo Glaube ist, werden gute Werke nicht ausbleiben! Doch was uns in den Himmel bringt, ist trotzdem nicht der Rauch der Werke, sondern das Feuer des Glaubens. Und einfach nur viel Rauch zu erzeugen, um ein Feuer vorzutäuschen, wäre zu gar nichts nütze.
Ganz entsprechend gilt, dass man Sport treibt, um gesund zu bleiben, und davon nebenbei auch eine gute Figur bekommt. Der Zusammenhang ist sehr eng! Man kann ziemlich sicher sein, dass jemand mit einer muskulösen Figur sie nicht ohne Sport bekommen hat. Und doch verdankt niemand seine körperliche Gesundheit dem guten Aussehen, das er hat, sondern er verdankt seine Gesundheit dem gesunden Sport, der ihn als Begleiterscheinung auch noch schöner gemacht hat. Was aber würde es nützen gesund auszusehen, wenn man es in Wahrheit gar nicht ist? So sind auch gute Werke die schöne Begleiterscheinung einer geheilten Seele, der Glaube aber ist es, durch den die Seele dieses Heil erlangt.
Drittes Beispiel: Wenn ein Mann eine Frau liebt, die in einer anderen Stadt wohnt, dann äußert sich das in Telefonaten, in Briefen, in Blumen und anderen Geschenken. Der Zusammenhang ist so eng, dass, wenn lange Zeit keine Telefonate, Briefe oder Grüße kämen, die Frau Grund hätte, an den Gefühlen des Mannes zu zweifeln. Sie nimmt die Briefe entsprechend wichtig und wartet darauf. Ihr eigentliches Interesse gilt aber nicht dem Besitz von Briefen oder Blumen, sondern ihr Interesse gilt der Liebe, die in diesen Dingen Ausdruck findet. Ebenso können wir sagen, dass der Glaube sich in Werken manifestiert, und es höchst verdächtig ist, wenn sie ausbleiben. Doch viel wichtiger als der Ausdruck des Glaubens ist der Glaube selbst. Und Werke ohne Glauben wären darum genauso wertlos wie Liebesbriefe ohne Liebe.
Der Rauch ist ein Nebeneffekt des Feuers, und die gute Figur ein Nebeneffekt des gesunden Sports, Blumengeschenke sind ein Nebeneffekt der Liebe, und gute Werke ein Nebeneffekt des Glaubens. All diese Dinge sind mit der jeweiligen Hauptsache so regelmäßig verbunden, dass ihr Fehlen unnatürlich erscheint und irritiert. Wenn das Feuer keinen Rauch erzeugt, der Liebende nicht anruft, und der Christ nichts Gutes tut, sind das deutliche Indizien, dass etwas nicht stimmt! Und trotzdem sind die Begleiterscheinungen nicht das, worauf es an-kommt. Sie können die Hauptsache weder ersetzen noch herbeiführen. Denn wenn da noch so viel Rauch wäre, ohne Feuer, würde er doch nicht wärmen. Und wenn ich noch so gesund aussähe, ohne es zu sein, hätte ich wenig davon. Da würde nur simuliert, was in Wahrheit nicht ist. Und darum nützt es wenig, sich zu guten Werken zu zwingen, die man nur tut, um der Verdammnis zu entgehen und sich den Himmel zu verdienen. Was Gott von uns will, ist kein verkrampfter Gehorsam, der seinen Vorteil sucht und sich durch Wohlverhalten die Seligkeit erkauft, sondern Gott will ein gläubiges Herz, das leicht, fröhlich und selbstvergessen das Gute bloß um des Guten willen tut. Nur solche Werke sind wirklich „gute Werke“! Und sie werden erst möglich, wenn der Mensch durch den Glauben innerlich geheilt und mit Gott versöhnt ist. Denn ein schlechtes Herz wird – von den schlechten Motiven der Angst und des Eigennutzes getrieben – immer schlechte Werke hervorbringen, während ein geheiltes und befreites Herz – von guten Motiven getrieben – zu guten Werken fähig ist. Die Werke sind immer so wie der Mensch, der sie tut! Sie sind so gut oder schlecht wie das Herz, aus dem sie hervorgehen! Und schon daraus ist zu ersehen, dass sich das Verhältnis von Glaube und Werken nicht umkehren lässt. Denn zuerst muss der Mensch gut sein – und erst dann können gute Werke folgen. Mit den Worten Martin Luthers gesagt:
„Gute fromme Werke machen nimmermehr einen guten frommen Mann; sondern ein guter frommer Mann macht gute fromme Werke. Böse Werke machen nimmermehr einen bösen Mann; sondern ein böser Mann macht böse Werke. Also, dass allewege die Person zuvor muss gut und fromm sein vor allen guten Werken, und gute Werke folgen und ausgehen von der frommen guten Person. Gleichwie Christus sagt Matth. 7,18: „Ein böser Baum trägt keine guten Früchte. Ein guter Baum trägt keine bösen Früchte.“ Nun ist's offenbar, dass die Früchte tragen nicht den Baum, so wachsen auch die Bäume nicht auf den Früchten, sondern wiederum, die Bäume tragen die Frucht und die Früchte wachsen auf den Bäumen. Wie nun die Bäume müssen ehe sein denn die Früchte, und die Früchte machen nicht die Bäume weder gut noch böse, sondern die Bäume machen die Früchte; also muss der Mensch in der Person zuvor fromm oder böse sein, ehe er gute oder böse Werke tut, und seine Werke machen ihn nicht gut oder böse, sondern er macht gute oder böse Werke. (…) Wer gute Früchte haben will, muss zuvor an dem Baum anheben, und denselben gut setzen. Also, wer da will gute Werke tun, muss nicht an den Werken anheben, sondern an der Person, die die Werke tun soll. Die Person aber macht niemand gut, denn allein der Glaube, und niemand macht sie böse, denn allein der Unglaube.“
Eigentlich ist damit alles gesagt. Und wir müssen uns nur noch selbst fragen, was für Bäume wir denn sind. Bringen wir gute Früchte hervor? Tun wir, was Gott von uns erwartet? Nennen wir uns bloß Kinder Gottes – oder leben wir auch so? Treibt uns Gottes guter Geist, so dass ein Fremder schon von den sichtbaren Früchten unseres Lebens auf unseren Glauben schließen könnte? Wenn es daran aber hapert, nehmen wir‘s besser nicht auf die leichte Schulter. Denn Christus kam nicht und starb nicht, um uns den Gehorsam gegen Gottes Gebot zu ersparen, sondern um uns zu eben diesem Gehorsam zu befreien, zu stärken und zu befähigen. Christus ist nicht angetreten, um Gottes Gebot aufzuheben, sondern um es in Liebe zu erfüllen. Und an seinen Jüngern sollte man das sehen können!
Bild am Seitenanfang: Thomas Gerlach (privat)