Gottes Strafen
Wenn schlimme Dinge geschehen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Kriege und Seuchen, taucht immer wieder die Frage auf, ob das wohl Strafen Gottes sind. Und auch wenn‘s nur einen Einzelnen betrifft, weil er Krebs bekommt, weil seine Familie zerbricht oder er finanziell ruiniert ist, wird bald zum Thema, ob Gott ihn damit vielleicht straft. Denn wir haben das Bedürfnis, uns diese Dinge zu erklären. Und wenn einer sein Unglück wirklich „verdient“ hätte, würde uns das einleuchten. Dass wir dabei aber die große Not mit Gott in Beziehung bringen, ist nur naheliegend. Denn wenn Gott allwissend und allmächtig ist, kann kein Unheil geschehen, ohne dass er es zulässt. Nach biblischem Zeugnis lenkt Gott die Geschicke aller Menschen. Und wenn’s ihnen dabei übel ergeht, liegt es nahe, das schon deshalb als Strafe Gottes zu deuten, weil die Bibel das Elend dieser Welt ganz allgemein auf den Sündenfall des Menschen zurückführt. Gott straft ja auch nicht ohne Grund: Der Bosheit gibt’s genug! Man kann’s gar nicht übersehen! Und betrachtet man das aus Gottes Perspektive, so ist ihm eine zornige Reaktion nicht zu verdenken. Denn schließlich liegt ihm seine Schöpfung am Herzen! Sie lebt von den guten Ordnungen, die Gott ihr eingestiftet hat. Das Gute in der Welt ist überhaupt nur deshalb „gut“, weil es mit der gottgewollten Ordnung übereinstimmt. Und dass der Schöpfer das Böse als Störung seiner Ordnung tolerieren könnte, ist gar nicht denkbar. Denn in demselben Maße, wie Gott das Gute bejaht, verneint er das Böse. Und weil er nie untätig ist, folgt aus dieser Verneinung ein aktiv strafendes Widerstreben, so dass in der Bibel immer zwei Linien nebeneinander her laufen: Gott fördert das von ihm bejahte Gute durch sein Erwählen und Retten, Segnen, Erhalten und Führen. Und Gott hemmt das von ihm verneinte Böse durch sein Verwerfen und Richten, Strafen und Zürnen. Die Mittel und Wege des göttlichen Strafens sind aber zahllos, individuell und verschieden. Denn dass der Mensch infolge des Sündenfalls nicht mehr ewig lebt, sondern sterben muss, ist ja nur der Anfang (1. Mose 2,17). Gott straft den Adam mit schwerer Arbeit, die Eva mit körperlichen Schmerzen (1. Mose 3,16-17) und Kain mit einem ruhelosen Leben (1. Mose 4,12). Noahs Zeitgenossen ertrinken kläglich (1. Mose 7,21), und die Menschen in Babel bezahlen für ihren Turmbau mit scheiternder Kommunikation (1. Mose 11,7). Über Sodom regnet es Pech und Schwefel (1. Mose 19,24). Lots Frau erstarrt zur Salzsäule (1. Mose 19,26). Der Betrüger Jakob (1. Mose 27,24) wird mit einem ebenso betrügerischen Schwiegervater gestraft (1. Mose 29,25), die Ägypter mit den zehn Plagen (2. Mose 7,14ff.) und der Pharao mit dem Tod seines Erstgeborenen (2. Mose 12,29). Den Tanz um das Goldene Kalb bezahlen 3000 Israeliten mit dem Leben (2. Mose 32,28). Aarons Söhne werden vom Altarfeuer gefressen (3. Mose 10,2). Die aufmüpfige Mirjam schlägt Gott mit Aussatz (4. Mose 12,10). Und das murrende Volk muss wegen seines Kleinglaubens weitere 40 Jahre durch die Wüste wandern (4. Mose 14,34). Die Rotte Korach verschwindet in dem Erdboden, der sich unter ihr auftut (4. Mose 16,31-33). Mose darf das gelobte Land nicht betreten (5. Mose 32,51-52). Und die Philister, die Gottes Lade rauben, werden mit schweren Seuchen geplagt (1. Sam 5). Saul verliert wegen seines Ungehorsams die Königswürde (1. Sam 15,26), und der Ehebrecher David verliert sein Kind (2. Sam 12,14). Weil aber König Salomo zu fremden Göttern betet, lässt Gott sein Reich auseinanderbrechen (1. Kön 11,1-13). 450 Baals-Propheten finden durch Elia den Tod (1. Kön 18,40), und 42 spottende Kinder werden von Elisa verflucht (2. Kön 2,24). Zuletzt ruft Gott die Babylonier herbei, um seinem Volk die Heimat, den Tempel und die Freiheit zu nehmen (2. Kön 24,18ff.). Es meine aber niemand, Gott haben das Strafen zur Zeit des Neuen Testaments aufgegeben! Denn da kündet schon Johannes der Täufer von Gottes kommendem Strafgericht (Mt 3,7-12). Und auch Jesus redet viel von der Hölle und von ihren Strafen (Mt 5,22.29; Mt 13,41-42; Mt 18,8-9; Mt 25,41), vom kommenden Gericht (Mt 11,22-24; Mt 12,36-37), und der drohenden Verdammnis (Mt 7,13; Mt 22,13; Mt 23,33; Mt 24,51; Mt 25,30). Jesus lässt einen Feigenbaum verdorren, weil er keine Früchte trägt (Mt 21,19). Zacharias verliert wegen seiner Zweifel vorübergehend die Sprache (Lk 1,20). Und bei Lukas lesen wir von einem reichen Mann, der im höllischen Feuer brennt (Lk 16,23-24). Hananias und Saphira fallen tot um, weil sie die Gemeinde belügen (Apg 5,1-11). Herodes Agrippa wird von Würmern zerfressen, weil er Gott nicht die Ehre gibt (Apg 12,23). Und den blutigen Rest von den Schalen des Zorns, den apokalyptischen Reitern und dem Jüngsten Gericht kann man in der Offenbarung des Johannes nachlesen. Spätestens da wird dann klar, dass Gottes Gericht im Neuen Testament ebenso vielgestaltig ist wie im Alten. Und es beschränkt sich keineswegs auf Einzelaktionen oder seltene Katastrophen. Sondern – wie Paulus sagt – straft Gott viele Sünder einfach dadurch, dass er sie gewähren lässt und nichts weiter tut, als dass er sie in ihre Sünde „dahingibt“, die dann ganz von selbst das Unheil gebärt, das sie verdienen (Röm 1,24-32). Gott überlässt diese Sünder dem Bösen, das sie gewählt haben, und schaut zu, wie sie an den Folgen ihres Tuns zugrunde gehen. So straft Gott viele, die seine Warnungen in den Wind schlagen. Und nirgends steht, er habe diese Praxis seither aufgegeben. Denn Gott hat nun mal eine große Leidenschaft für das Gute, das es zu bewahren und zu schützen gilt – und einen entsprechend großen Wider-Willen gegen das Böse. Allerdings ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Bibel längst nicht alles Leid, das von Gott ausgeht, als Strafe versteht. Denn da gibt‘s auch allerhand Not, die mit Schuld nichts zu tun hat. So muss Abraham, als er Isaak opfern soll, eine schreckliche Prüfung bestehen, ohne dass er sich zuvor etwas hätte zuschulden kommen lassen (1. Mose 22,1-19). Und auch Hiobs Leiden haben ihren Grund nicht in irgendeiner Verfehlung, sondern gehen darauf zurück, dass Gott mit dem Satan eine Wette schloss (Hiob 1,8-12; 2,3-6). Der Prophet Jeremia trägt so bitteres Unglück, dass er den Tag seiner Geburt verflucht. Doch ist das keine „Strafe“, sondern lediglich eine Konsequenz seines Auftrags (Jer 15,10). Und auch Daniel leidet nicht wegen einer Schuld unter Verfolgung, sondern gerade wegen seiner Frömmigkeit und Treue (Dan 6). Von dem Blindgeborenen sagt Jesus ausdrücklich, sein Leiden gehe nicht auf irgendeine Sünde zurück, sondern es sollten an ihm bloß die Werke Gottes offenbar werden (Joh 9,1-3). Und wenn Paulus von der schmerzhaften Krankheit spricht, die Gott trotz mehrfacher Bitten nicht von ihm nahm, so hält er die auch nicht für eine Folge irgendwelcher Sünden, sondern nimmt umgekehrt an, dass sie der Sünde der Überhebung vorbeugen soll (2. Kor 12,7-9). Aus diesen Beispielen ist zu folgern, dass die Bibel zwar sehr oft einen Zusammenhang von Tun und Ergehen, Schuld und Strafe annimmt, dass es ihr aber fern liegt, dies schematisch auf alles und jeden anzuwenden. Nein! Auch wenn jede göttliche Strafe mit Leid einhergeht, dürfen wir nicht alles Leid auf göttliches Strafen zurückführen. Denn dieser Umkehrschluss ist falsch: Das Gericht Gottes bringt zwar Leid mit sich. Aber das bedeutet nicht, dass alles Leid auch Gericht sein muss. Es kann dafür ganz andere Gründe geben! Denn wenn Ahab, Judas und Herodes sterben, sieht das zwar äußerlich genauso aus, als wenn Johannes der Täufer, Stephanus oder Jakobus sterben – Gott scheint ihnen allen denselben Tod zu geben. Doch gibt ihn Gott unter so verschiedenen Voraussetzungen und mit so anderen Konsequenzen, dass der Tod nur seinen Feinden zum Verderben gereicht, seine Freunde aber zu ihrem Heil vollendet. Und dieser Unterschied ist unbedingt festzuhalten. Denn wenn die schmerzvollen Hemmungen auch allesamt von Gott kommen (und gewiss nicht ohne ihn), sind sie doch je nach Adressat sehr unterschiedlich gemeint und müssen nach ihrem jeweiligen Ziel unterschieden werden. Nicht immer, wenn’s weh tut, muss Schuld im Spiel sein. Und auch wenn sie’s ist, kann der Schmerz immer noch einen konstruktiven Sinn haben! Denn wie Martin Luther in einer Tischrede betont, straft Gott völlig anders als der Teufel. Gott straft seine Kinder nicht in blindem Zorn, sondern tut’s nur in Maßen, wie ein Vater seinen Sohn straft, wenn er’s für nötig hält. Er verwundet dann, um zu heilen, und zeigt Härte, um zu bessern. Er ist nur streng, um zu korrigieren und vor größerem Schaden zu bewahren. Er ruft die Seinen zur Ordnung, weil er’s gut mit ihnen meint, und verpasst ihnen Dämpfer, wenn’s unumgänglich ist. Das stellt seine Liebe aber durchaus nicht in Frage – und ein verständiges Kind weiß das auch. Doch ist es nach Luthers Ansicht etwas völlig Anderes, wenn Gott seine Feinde straft und zu diesem Zweck den Teufel von der Kette lässt. Denn der betrübt und erschreckt, verwundet und bestraft ohne positiven Hintersinn, sondern tut’s in der alleinigen Absicht, die Sünder verzweifeln zu lassen und ins Verderben zu führen. Wo immer Gott ihm dazu freie Hand lässt, betätigt sich der Teufel als Henker, peinigt und mordet, führt in die Hölle und nicht wieder heraus. Nun kann der betroffene Mensch das nicht gleich unterscheiden – allzu leicht verwechselt er Gott und den Teufel, denn zunächst tut die Strafe nur weh! Und doch sind es ganz verschiedene Dinge, ob Gott einem zu seiner Besserung den Kopf zurechtrückt – oder ob er ihn zu seinem Verderben dem Henker überlässt. Was der himmlische Vater seinen Kindern zumutet, dient allemal zum Leben, während das, was durch den Teufel den Gottlosen widerfährt, einzig ihrem Untergang dient. Und als Christen müssen wir das unbedingt auseinanderhalten, damit uns das Leid nicht etwa von Gott weg, sondern zu ihm hin treibt. Auch wenn uns Gott bittere Medizin verabreicht, ist es doch eben Medizin – und kein Gift! Das von Gott kommende Leid korrigiert unsere Fehler und bricht unseren Eigensinn. Es baut den alten Menschen aber nur ab, damit der neue umso besser in uns wachsen könne! Die Schläge, die uns da treffen, rütteln uns auf, wo wir nicht schlafen dürfen. Aber sie nehmen uns die falsche Sicherheit nur, damit wir bei Gott bessere Sicherheit suchen und finden! Wir sollen uns nicht so blindlings auf Gottes Vergebung verlassen, dass wir darüber einschlafen und in völliger Beruhigung unsere Fehler nicht mal mehr zu bessern versuchen! Wir dürfen nicht träge werden und im Glauben nachlassen, sondern sollen diesen Glauben üben und betätigen wie einen Muskel, der nur stärker wird, wenn man ihn fordert und gebraucht! Damit wir vorankommen, muss Gott uns manchmal Beine machen! Er betrübt uns, damit wir nach ihm fragen, und erschreckt uns, damit wir bei Christus Schutz suchen. Er durchkreuzt unsere Pläne, damit wir uns weniger auf diese Pläne als auf ihn verlassen. Er prüft, ob wir „Schönwetterchristen“ sind, oder ob wir‘s ernst meinen. Doch ist der harte Zugriff nie böse gemeint, sagt Luther, sondern ist in Wahrheit Gnade und Wohltat, weil uns Gott nicht zur Verdammnis straft, sondern zur Seligkeit. Er setzt seinen Gläubigen nur so weit zu, wie’s nötig ist, um sie munter zu machen. Er verstört und jagt sie, damit sie nie aufhören, seine Gnade zu suchen. Aber Gott ist ihnen gegenüber nur ungern streng. Er kämpft in Wahrheit nicht gegen die Seinen, sondern kämpft um sie! Was hingegen der Teufel – als von Gott beauftragte Henker – an den anderen tut, das ist wirklich Strafe zum Verderben und hat keinen freundlichen Hintersinn, sondern es dient nur dem Zweck, das Böse, das nicht sein soll, ins Nicht-Sein zu befördern, wie es nun mal das Geschäft eines Henkers ist. Da muss sich keiner Illusionen machen! Mit denen, die Gottes Feinde sind und es bleiben wollen, hat er keine weiteren Pläne als mit den Einwohnern Sodoms. Hier schafft Gott das Unheil aus der Welt, indem er die Person aus der Welt schafft, die es verursacht. Er greift dem Übel an die Wurzel, indem er die Quelle verstopft. Er tritt das Feuer aus, damit es nicht um sich greift. Er beseitigt die Störung und stellt seine Ordnung wieder her. Gott sorgt dafür, dass sich Böses auf lange Sicht nie lohnt! Wir aber müssen uns jenen Unterschied bewusst halten, um den Vater nicht misszuverstehen. Denn er kennt Strafen zur Seligkeit und Strafen zur Verdammnis, gnädige Heimsuchungen zur Besserung und ungnädige zum Verderben. Die ersten treffen nur die Christen und jene, die Gott dazu erwählt hat, dass sie Christen werden sollen. Und die zweiten treffen nur Nicht-Christen, die ihrerseits Gottes Gnade verwerfen und darum verworfen sind. Warum sich ein Christ aber sicher sein kann, dass er nicht zum Verderben gestraft wird, ist leicht zu sehen. Denn für all jene, die Gott zum Heil erwählt hat, ist ja schon Jesus Christus ans Kreuz gegangen. Gottes eigener Sohn hat stellvertretend für sie ihre Strafe getragen und ihre Schuld auf sich genommen. Und so ist es ganz undenkbar, dass Gott sie für die bereits beglichene Schuld nochmals büßen ließe. Denn jede Straftat wird nur einmal gesühnt. Und da dies an Christus schon vollzogen ist, wird’s an den Christen nicht wiederholt. So sind zwar alle Menschen vor Gott schuldig – und die Christen sind‘s nicht weniger als die Heiden! Doch die Schuld der einen ist durch Christus getragen, beglichen und erledigt. Und die Schuld der anderen ist weiterhin eine offene Rechnung, weil sie Christus nicht glauben und die angebotene Gnade ablehnen. Einem Christen ist es regelrecht verboten, in Gottes väterlichen Strafen etwas Destruktives zu sehen. Denn damit würde er die ihm zugesagte Gnade nicht ernst nehmen! Den Christen wird darum im Neuen Testament ausdrücklich versichert, dass ihnen alle Dinge zum Besten dienen – gerade auch die schmerzhaften (Röm 8,28; Hebr 12,4-11). Die anderen hingegen, die Christi Angebot ablehnen, haben keinen Grund in ihren Leiden etwas Konstruktives zu sehen. Denn ihnen gegenüber ist, was feindlich aussieht, auch feindlich gemeint. Und wenn sie den Wider-Willen Gottes noch nicht in diesem Leben zu spüren bekommen, dann im nächsten. Das erklärt nun auch, warum die Frage, ob ein Erdbeben oder eine Krankheit „Strafe Gottes“ sei, nicht pauschal beantwortet werden kann. Denn keiner von uns schaut dem anderen so tief ins Herz, dass er sagen könnte, wie Gott zu ihm steht. Und darum darf sich auch keiner anmaßen, er wüsste darüber Bescheid, was Gott mit diesem oder jenem Menschen vorhat. Wie oben gezeigt, kann von Gott kommendes Leid mancherlei bedeuten. Und wenn‘s bei einem großen Unglück Hunderte oder Tausende zugleich betrifft, lässt sich noch viel weniger eine Aussage treffen. Denn Gott schießt nicht mit Schrot in die Menge, als wenn’s ihm nicht drauf ankäme, sondern wenn, dann trifft er präzise und ist sehr darauf bedacht, keinen Gerechten in das Schicksal der Ungerechten mit hineinzuziehen (vgl. 1. Mose 18,16ff.). Wenn’s auch so aussehen mag, als seien viele miteinander in dieselbe Not geraten, kann dasselbe Unglück doch für den Einen die letzte Warnung sein und für den Anderen eine Lektion in Geduld. Für den Dritten mag es eine Prüfung sein, den Vierten heilt der Schreck von seiner Überheblichkeit und für den Fünften ist es vielleicht wirklich der verdiente Untergang. Bei diesem kann‘s Strafe sein und mit Schuld in Verbindung stehen – und bei jenem hat’s wieder ganz andere Gründe. Darum unterlasse man als Außenstehender jede Zuschreibung! Der Betroffene selbst muss sich fragen, was Gott ihm durch dies Leid sagen will. Ihm kann auch eine Antwort geschenkt werden. Doch wenn neugierige Zaungäste darüber spekulieren, warum’s jenen so böse getroffen hat, wird das von Jesus mit klaren Worten abgewehrt (Lk 13,1-5). Man fragte ihn einst nach einigen Galiläern, die Pilatus ermorden lies, ob sie wohl sündiger waren als andere. Und Jesus sagt „Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen“. Er fragt sie nach 18 Menschen, die ein einstürzender Turm in Jerusalem erschlug, ob die wohl schuldiger waren als andere. Und Jesus sagt nochmal „Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen“. Jesus erlaubt uns also nicht, im Gerichtsgeschehen die Rolle des Zuschauers einzunehmen, der mit wohligem Schaudern erwägt, was die anderen „verdient“ haben. Sondern Jesus spricht uns als Beteiligte an, denen ganz Ähnliches droht. Er wendet unseren Blick auf uns selbst zurück. Er will nicht, dass uns irgendein Strafgericht mit bitterer Befriedigung erfüllt (vgl. Jona 4; Lk 9,54-55). Wir sollen lieber darüber nachdenken, was wir selbst „verdienen“. Und nur so macht es dann Sinn, sich mit der Frage zu beschäftigen. Denn – was werde ich wohl selbst tun, wenn Gott mir nimmt, was ich liebe, wenn er mich in Angst versetzt und mir Schmerzen zufügt? Vertraue ich dann auch noch seiner Güte und halte fest daran, dass er‘s um Christi willen nicht böse mit mir meint? Oder ist mein Herz dann voller Groll und Furcht und lästerlicher Gedanken? Luther würde sagen: Pass auf was du denkst! Denn glaubst du Gott jene Gnade, die er dir in Christus anbietet, so ist er dir auch gnädig. Hältst du ihn aber für einen Feind, dem man nicht trauen kann, wird er dir genau so gegenübertreten. Die Gedanken verraten uns – und Gott kennt sie alle! Ist ein Betroffener aber unsicher, so gibt‘s einen einfachen Weg, um Klarheit zu gewinnen. Denn wenn Gottes Strafe dich von Gott weg treibt, ist sie dazu bestimmt, dich von ihm weg zu treiben. Und wenn sie dich zu ihm hin treibt, ist sie dazu bestimmt, dich zu ihm hin zu treiben. Dass es dieselbe Not ist, die für den einen „dies“ und für den anderen „das“ bedeutet, muss uns nicht wundern. Denn an einem heißen Sommertag ist es ja auch ein und dieselbe Sonne, die einen Klumpen Wachs weich und einen Klumpen Ton hart macht. Und Ähnliches bewirkt das von Gott kommende Leid. Denn es offenbart weniger, wer Gott ist, als wer du bist. Stehst du im Glauben, so fördert und vertieft es deinen Glauben. Stehst du aber im Unglauben, verhärtet und verstockt es dich in deinem Unglauben. So oder so kommt ans Licht, wer der Mensch ist. Und vielleicht liegt darin auch die tiefere Absicht... Was sagen wir also? Hat Gott aufgehört zu strafen? Keineswegs! So wenig er aufhört, das Gute zu fördern, so wenig hört er auf, dem Bösen zu widerstehen. Und es ist ganz falsch, bloß anlässlich großer Katastrophen daran zu denken. Denn in Wahrheit ist hier kein Unterschied zwischen einem plötzlichen Tod durch Unfall, Gewalt oder Seuche – und dem „friedvollen Entschlafen“ eines wohlversorgten Greises. Dem Gläubigen wird weder das eine noch das andere zum Verderben, denn ihn holt Gott nur nach Hause. Für den Nicht-Gläubigen hingegen ist auch das scheinbar friedvolle und sanfte Sterben eine Strafe. Denn ihm entzieht Gott das Leben, von dem er nicht im Sinne des Spenders Gebrauch machen wollte. Gottes Gericht kommt nicht bloß „manchmal“, sondern ergeht jederzeit. Nur dass es eben viele nicht sehen und darum lange denken, Gott machte Scherze, während andere sich hinter Christus in Deckung bringen, wo die Gnade sie schützt. Lassen sie uns klug sein – halten wir uns zu den Letzteren. Denn das ist auch Gott viel lieber: „So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe“ (Hes 33,11).
Bild am Seitenanfang: Die Sintflut
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