Lauterkeit vor Gott

Lauterkeit vor Gott

Manchmal ist das Leben eine verwirrende Sache und ein seltsames Getümmel. Freunde werden plötzlich zu Feinden, und Feinde zu Freunden. Das Unwahrscheinliche tritt ein, das Wahrscheinliche aber nicht. Was gestern noch sicher schien, ist heute ungewiss. Und oft findet man nicht mal heraus, ob man getäuscht wurde oder sich selbst getäuscht hat. Man gewinnt nicht nur, sondern verliert auch vieles. Und nicht mal das ist klar, ob man jeden Verlust tragisch nehmen muss. Man fragt sich: „Ist das jetzt schlimm? Ich hab‘s mir mit diesem und jenem verdorben – war das dumm? Ich fühle mich plötzlich überfordert – habe ich mich gehen lassen? Ich zweifle an vertrauten Menschen – darf ich das überhaupt? Versage ich gerade – oder sind das nur die Nerven? Mache ich mich zum Narren – oder komme ich gerade erst zur Vernunft? Ist das im Spiegel überhaupt noch mein Gesicht? Ist es vielleicht nur eine oft genutzte Maske, die inzwischen festgewachsen ist?“ Wenige geben zu, dass sie solche Verunsicherung kennen. Und sie gestehen es schon gar nicht vor fremden Ohren. Doch solange unser Geist wach ist, kann er auch verunsichert werden. Und so stößt man schließlich auf die Frage, ob’s denn etwas gibt, was man bei all den Wandlungen und Verlusten um keinen Preis verlieren darf. Ist da etwas tief Verborgenes, das wir nicht loslassen können, ohne uns selbst zu verlieren? Verdient etwas unbedingten Schutz, so dass wir‘s uns nicht nehmen lassen – auch wenn sonst alles den Bach runter geht? Die Arbeit wird es wohl nicht sein, denn schließlich gibt es ein Leben nach dem Renteneintritt. Die Heimat wird es auch kaum sein, denn anderswo auf der Welt ist es ebenso schön. Die liebe Familie kann im Streit auseinanderfallen, lang bevor „der Tod uns scheidet“. Und über die Illusion, dass wir „gute Menschen“ wären, sind wir hoffentlich längst hinaus. Wer über 50 ist, hat genug Dummheiten gemacht, um sich nicht mehr klug vorzukommen. Er hat wohl auch erfahren, dass er sich auf andere Menschen nur bedingt verlassen kann. Und ist es mit uns selbst denn wirklich anders? Auch der eigene Kopf wird vergesslich, die Knochen werden morsch – und vor dem Rest unsrer Herrlichkeit wird das Alter nicht haltmachen. Der Lack ist irgendwann ab, die Konzentration lässt nach. Die meisten Felle sind schon davongeschwommen. Und das übrige holt sich der Tod. Wenn aber so vieles durch unsere Finger rinnt – gibt‘s dann trotzdem etwas, das wir nicht zur Disposition stellen dürfen? Etwas, was man auf jeden Fall aus dem brennenden Haus retten muss? Etwas, was man nicht verlieren darf, auch wenn man sonst alles verliert? Ja, ich denke, es gibt das. Und ich will es mit einem altertümlichen Wort unsere „Lauterkeit vor Gott“ nennen. Denn wer alles verlöre, und nur dies nicht – der wäre immernoch ein glücklicher Mensch. Was meint aber der Begriff „Lauterkeit“? Ich verstehe darunter den Willen, Gott gegenüber redlich und wahrhaftig zu bleiben – und auch auf einem Scherbenhaufen sitzend ihm noch Ehre zu erweisen und ihm nach Kräften Genüge zu tun, sodass wir tief im Herzen wenigstens mit Gott keine Tricks versuchen und ihm gegenüber keine Maske tragen. Man denke nun nicht, das sei eine große Leistung oder Tugend. Denn es ist gerade der Verzicht darauf, Tugendhaftes vorzutäuschen. Man versucht gerade nichts „vorzuweisen“ oder zu beschönigen. Man verzichtet darauf, etwas zu simulieren, was man nicht ist. Man besteht aber darauf, bei aller Schwäche doch jedenfalls nichts anderes zu wollen, als dass man vor Gottes prüfendem Auge (wenn schon nicht besteht, so doch) um Christi willen Gnade findet. Man ist deswegen längst nicht „gut“, bewahrt sich aber wenigstens den Willen, in diesem Punkt nicht falsch zu sein. Man schreibt sich keinen großen Glauben zu, hätte ihn aber gern. Man steht vor Gott in schmutzigen Kleidern, hofft aber auf die reinigende Kraft seine Barmherzigkeit. Und wenn man auch schon viele Menschen (und dazu sich selbst) getäuscht haben mag, will man‘s doch mit Gott ehrlich meinen. Nicht so, als ob man jemals eine der Wahrheit Gottes entsprechende Haltung einnehmen könnte und ihm damit gerecht würde! Aber doch so, dass man diese Haltung einzunehmen wünschte, wenn man’s denn könnte – damit, wenn von der eigenen Person auch sonst nichts bliebe, doch immerhin dieser Wunsch übrig bliebe, nicht aus der Gemeinschaft mit Gott herauszufallen. Lauterkeit weigert sich, den Wunsch nach Gottes Gemeinschaft mit anderen Motiven zu vermischen. Und sie stellt ihn auch nicht hintenan. Sondern sie ist entschlossen, sich wenigstens Gott gegenüber keines Verrats schuldig zu machen. So kann der Mensch dann offen gestehen, schändlich, schwach und dumm zu sein, gierig, stolz, überfordert und aller Verwerfung wert – Gott weiß das alles ja sowieso! Aber man lässt darüber keinen Zweifel aufkommen, dass man trotzdem auf Gottes Seite zu stehen wünscht und die faktische Entfernung von ihm, dies tägliche Zuwiderhandeln, für das denkbar größte Unglück seines Lebens hält. Redlichkeit in diesem Punkt ist das Eine, was man nicht verlieren darf, ohne damit alles zu verlieren. Für den aber, der die Redlichkeit bewahrt, ist jeder andere Schaden durch Gottes Gnade heilbar. Und das ist die gute Nachricht! Denn wer sich dies Eine bewahrt, kann aufs Ganze gesehen nicht mehr scheitern. Versuchen wir nämlich an Gott festzuhalten, so hält er an uns fest. Und die entstehende Bindung ist dann nicht etwa so schwach wie unsere Kraft, sondern so unfehlbar stark wie seine. Was sich Gott preisgibt, das lässt er nicht fallen, sondern erhält es um seiner Ehre willen. Und keiner, der bittend gelaufen kommt, ist ihm zu schäbig, als dass er sein Wort nicht hielte, dass er den Mühseligen und Beladenen gab. Sie dürfen sich in Gott hinein verlieren – und machen dabei den größten Gewinn! Nur müssen wir uns dafür ganz im Ernst abgewöhnen, Gott gegenüber die taktischen Spielchen zu spielen, mit denen wir uns sonst behelfen. Denn wem begegneten wir sonst schon restlos offen und unverstellt? Höchstens mit seinem Kind meint es der Mensch ganz ehrlich! Doch mehr als gegen das eigene Kind muss man vor Gott aufrichtig sein und sich vor ihm so ehrlich machen, dass man ihm sozusagen in die Augen schauen kann, ohne noch anderswohin zu schielen oder nervös zu zwinkern. Ohne Ironie und innere Reserve müssen wir vor ihm stehen, ohne einen Hauch von Raffinesse, Verstellung, Hintersinn oder Strategie. Gott gegenüber darf es keine Berechnung geben und keinen heimlichen Vorbehalt – auch nicht das Hintertürchen, dass man sich später ja noch umentscheiden könnte! Lauterkeit kennt keine Ausflüchte, kein Versteckspiel und keinen Flirt mit dem Gegner, als Vorbereitung für einen „Plan B“. Vielmehr muss ein Mensch tief im Herzen vor Gott aufrecht stehen, damit keine Unklarheit aufkommt in der Hauptsache, dass er nämlich – wenn er auch einer der schlechtesten Jünger sein mag – doch jedenfalls auf Gottes Seite steht und sich nichts anderes zu wollen einfallen lässt. Mit Schuld besudelt sind wir allemal und erröten zu Recht! Wir können aber wenigstens darin redlich sein, dass wir nicht anders zu erscheinen suchen, sondern (ohne beschönigende Absicht und doppelten Boden) das Innere und das Äußere übereinstimmen lassen in dem ehrlichen Wunsch, nur so bei uns selbst zu sein, dass wir ganz bei Gott sind – ja, damit an unserem Leben, wenn schon sonst nichts, so doch wenigstens dieses „richtig“ und „gut“ sei, dass wir es unserem Schöpfer zu Füßen legen und seinem Urteil darüber unbesehen Recht geben. Wir sollten da lieber einfältig sein als schlau, lieber schlicht als verschlagen. Und keinen anderen Vorteil sollten wir bei Gott suchen, als den Vorteil, ganz bei ihm zu sein. Denn wer das mehr will als alles andere, dem wird es nicht verwehrt. Und wenn er lauteren Sinnes beim himmlischen Vater anklopft, wird er garantiert nicht weggeschickt. „Lauter“ ist, wer dem Blick Gottes nicht ausweichen muss, weil er keine Hintergedanken verbirgt. Es gibt dafür auch den Ausdruck „Geradheit“, der krumme Wege ausschließt. Und es gibt den Begriff der „Integrität“, der alles bezeichnet, was nicht korrumpiert wurde. „Rechtschaffenheit“ und „Redlichkeit“ meinen ganz Ähnliches – wie auch „Aufrichtigkeit“, „Wahrhaftigkeit“ und „Loyalität“. All diese Begriffe sind in der Hauptsache negativ bestimmt durch die Täuschungsabsicht, die fehlt. Man muss bloß alles Verschlagene unterlassen! Weil uns in der Umsetzung aber selbst das misslingt, und wir unsere Unschuld so gründlich verloren haben, zählt vor Gott auch schon die ehrliche Absicht, die Philipp Spittas Lied so deutlich auf den Punkt bringt: „Ich steh in meines Herren Hand und will drin stehen bleiben; nicht Erdennot, nicht Erdentand soll mich daraus vertreiben“ (EG 374). Dies zu wollen, ist beileibe nichts Großes oder Selbstloses. Nicht aus Gottes Hand vertrieben zu werden, liegt ja im eigenen Interesse. Wer das aber begriffen hat, wird künftig alles unterlassen, was ihn zu Gott in einen inneren Abstand versetzen könnte. Und durch Gottes Geist geläutert wird er sich nicht erlauben, mit anderen Möglichkeiten zu spielen, sondern wird – sobald lästerliche Gedanken auftauchen – Gott bitten, davon befreit zu werden. Denn mit gedanklichen Spielen ist es eine ernste Sache. Wie die Bergpredigt lehrt, ist das Zürnen bereits ein inneres Töten, und das Begehren bereits ein innerer Ehebruch. Es genügt daher nicht, sich das Verkehrte äußerlich zu „verkneifen“, sondern man soll es sich innerlich schon gar nicht wünschen. Und bezogen auf die Lauterkeit des Glaubens muss das bedeuten, sich innere Reserven Gott gegenüber nicht etwa mühsam zu „verbieten“, sondern sie als großes Übel von vornherein zu verabscheuen. Mit dem, was uns ekelt, spielen wir auch nicht gedanklich herum. Und in diesem Sinne sollte uns jede Falschheit Gott gegenüber Widerwillen erregen. Denn der gesunde Zustand der Lauterkeit kennt keine Spannung zwischen dem, was man heimlich wünscht, und dem, was man außen zeigt. Lauterkeit will in aller Einfalt nichts anderes, als von Gott geduldet und bei ihm gut aufgehoben zu sein. Und sie toleriert daher nichts, was die Beziehung stören könnte. Denn in Lauterkeit weiß der Sünder, dass er Gottes Zorn verdient – und dennoch Gottes Gnade braucht. Er weiß natürlich, dass auch Gott das weiß. Und so macht er nicht mal den Versuch, das Offensichtliche zu verbergen. Seine Schuld ist vor Gott restlos aufgedeckt, sein Glaube ist es aber auch! Und derart durchschaut, kann, will und muss der Mensch nichts mehr verhehlen. Nicht nur Gott ist ihm offenbar geworden, sondern auch er seinerseits ist vor Gott ein aufgeschlagenes Buch. Alles Versteckspiel ist zu Ende. Die Seele hat Frieden mit ihrem Gott. Und gerade so ist es dann auch gut, und so soll es bleiben. Denn wer die Gemeinschaft Gottes gewonnen hat, kann es sich leisten, im Laufe seines Lebens alles andere zu verlieren – und muss aus dem brennenden Haus nichts anderes heraustragen als eben dies. Seine Unschuld mag längst dahin sein, die Schönheit und die Gesundheit gleichermaßen. Sein guter Ruf ist vielleicht zerstört, das Konto geplündert und der beste Freund gestorben. Vielleicht hat er die meisten seiner Ideale selbst verraten, sitzt wie Hiob in der Asche und wird von aller Welt mit Spott geplagt. Manches Leben ist eine lange Geschichte von Verlusten! Und doch bliebe diesem Menschen ja das eine, das er sich nicht nehmen lässt, weil es ihn für alles übrige entschädigt – dass er nämlich den Wunsch nicht verliert, vor Gott zu bestehen und bei aller Verkehrtheit doch wenigstens ihm gegenüber aufrichtig zu sein. Gelingt das aber bis zuletzt, so muss man sich um solche Menschen keine Sorgen machen. Denn für die hat Gott längst gesorgt. Und wenn sie – von sich selbst enttäuscht, aber auf seine Gnade hoffend – die Augen schließen, stehen die Engel bereit, um sie heimzuholen. Andere erscheinen in den Augen der Welt vielleicht „fitter“ und „erfolgreicher“. Andere mögen bis ins hohe Alter blitzgescheit sein, willensstark und lustig. Doch was nützt es ihnen? Die Hölle ist voll von dieser Sorte! Manche von ihnen sind allseits beliebt und bekommen in der Zeitung einen langen, lobhudelnden Nachruf. Aber wird Gott sie deshalb bei sich willkommen heißen? Je mehr die Welt sie liebt, umso weniger fragen die Stolzen nach Gott. Und um diese, ihrer selbst allzu Gewissen, muss man wahrlich Angst haben. Denn kein Bundesverdienstkreuz wird ihnen den Himmel aufschließen. Jene anderen aber, die kein weiteres Anliegen hatten, als bei Gott anzukommen, und die ihm auch in Nöten noch auf ihre schlichte Weise treu sein wollten – jene, die nie an Gottes Güte zweifelten, sondern immer nur an der eigenen Kraft, und die Gott darum inständig baten, ihnen durchzuhelfen: um deren Heil fürchte ich keine Sekunde, und ihre Beerdigungen sind recht verstanden Freudenfeste des Glaubens. Nun sterben auch diese Lauteren noch elend genug. Auch diesen Redlichen nimmt der Tod alle Reste ihrer einstigen Kraft, Schönheit und Weisheit. Aber was macht das schon, wenn er sie doch nicht von Gott trennen und ihnen den Siegespreis nicht nehmen kann? Was macht’s, wenn sie bis zuletzt aufrichtig bemüht sind, vor Gott zu bestehen und seine Hand nicht loslassen? Wer das mit Gottes Hilfe hinbekommt, dem mag ansonsten alles genommen werden – er bleibt doch reich genug. Wer hingegen dies Eine verlor, dem wird’s aller Reichtum dieser Welt nicht ersetzen können. Man verwechsle nur nicht die Lauterkeit vor Gott mit ihrer entfernten Verwandten, der Ehrlichkeit gegen sich selbst! Denn mit Gott, oder mit sich selbst „im Reinen zu sein“, ist durchaus nicht dasselbe. Vielen scheint es einerlei, ob der Bezugspunkt ihrer Rechenschaft Gott ist oder das eigene „Ich“. Sie sagen „Hauptsache, ich verliere nie die Selbstachtung. Hauptsache, ich bleibe mir treu. Hauptsache, ich kann mein Tun vor mir selbst verantworten.“ Das scheint eine der Lauterkeit ähnliche Haltung zu sein! Und doch ist es etwas völlig andres. Denn wer meint, er habe sein Leben „vor sich selbst“ zu verantworten, erhebt eigene Maßstäbe zu der Norm, an der er sich misst. Er rückt Gott beiseite, um Richter in eigener Sache zu sein. Doch was nützt ihm die Treue zum selbstgewählten Weg, wenn er ihn von Gott wegführt? Und was nützt ihm seine Selbstachtung, wenn doch sein Schöpfer nichts von ihm hält? Nicht mit uns selbst müssen wir im Reinen sein, sondern mit Gott – er ist unser maßgebliches Gegenüber! Und darum werfe man das nicht durcheinander, ob einer versucht, sich selbst treu zu bleiben, oder sich aufrichtig der Gnade Gottes anbefiehlt. Es ist fatal, wenn er sich treu bleibt in dem, was verkehrt ist – genau diese „Treue“ besiegelt dann seinen Untergang! Doch bleibt zugleich die gute Nachricht bestehen, dass alles, was ein Mensch lauteren Sinnes in Gottes Hand legt, von dieser Hand weder verdorben noch verworfen wird. Vielmehr gilt umgekehrt: all jenes, was wir Gott vorenthalten, ist im höchsten Grade gefährdet. Was wir ihm dagegen in Demut anvertrauen, findet seine Gnade. Und was wir ihm überlassen, damit er es reinige und bewahre, ist gut aufgehoben und kann nicht mehr verloren gehen – denn wir haben es in Gott „hineingerettet“. Weil wir aber nichts Wertvolleres besitzen als die eigene Seele, machen wir mit der am besten den Anfang – und bleiben dann ganz undialektisch, humorlos und stur bei jenem guten Vorsatz: „Ich steh in meines Herren Hand und will drin stehen bleiben“. Erlaubt Gott uns aber dies Eine, so mag ansonsten fallen, was nicht bleiben will. Da mögen Berge weichen und Hügel hinfallen – wir werden doch durch Gottes Gnade immernoch reich genug sein!

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Grace (Fotografie)

Eric Enstrom, Public domain, via Wikimedia Commons