Die Freiheit zur Dummheit

Die Freiheit zur Dummheit

Warum Gott den Sündenfall nicht verhindert hat, ist eine alte Frage, die man nicht seriös beantworten kann, weil die Bibel darüber schweigt. Aus irgendeinem Grund muss Gott eine Weltgeschichte mit Sündenfall und Erlösung „besser“ erschienen sein als eine Weltgeschichte ohne diese Komplikation. Und ohne biblische Basis sollte man sich hüten, über Gottes Beweggrund zu spekulieren. Soviel ist aber sicher, dass er den Menschen (als er wild darauf war, einen Selbstversuch mit der Sünde zu unternehmen) nicht gehindert hat, diese Erfahrung zu machen. Gott hat uns die Freiheit zu dieser Dummheit gelassen. Und wir, die wir sie nicht hätten nutzen müssen, konnten nicht widerstehen. Der Mensch wollte sich von Gott „emanzipieren“. Er wollte ohne Gott aus eigenem Vermögen etwas sein. Und obwohl unser Schöpfer wusste, wie es enden würde, hat er das üble Experiment nicht unterbunden. Denn der Mensch besteht ja darauf, Erfahrungen immer erst zu machen, bevor er etwas lernt. Auf Warnungen hört er selten. Und so legte ihm Gott auch keine Steine in den Weg. Von seiner Seite war die Schöpfung eine Einladung an den Menschen, mit Gott aus freien Stücken in Gemeinschaft zu bleiben. Aber er zwang den Menschen nicht, seinen Schöpfer zu lieben. Bei den Naturgesetzen verfuhr er anders – die hat Gott in weiser Voraussicht so gestaltet, dass man sie gar nicht brechen kann. Doch zu der persönlichen Hingabe, die sich einsichtig und liebend dem Willen Gottes unterordnet, wollte er uns nicht nötigen. Und so rief der dumme Mensch auch gleich: „Haha, schau her, ich kann auch anders!“ Gott hätte sich gewünscht, dass wir – um die Möglichkeit des Bösen wissend – diese Möglichkeit verwerfen. Aber er ließ die Tür offen und hinderte uns nicht, hindurchzugehen und das Vaterhaus zu verlassen. Der Mensch durfte versuchen (ohne Gott auskommend), die Rolle Gottes mit etwas anderem zu besetzen. Aber freilich – das ist wichtig zu bemerken: Gott ermöglicht kein Leben, in dem die Rolle Gottes unbesetzt bleibt. Wohl hat der Mensch die Freiheit, sich andere Herren zu suchen, andere Ideale, Regeln und Trostgründe, andere Gegenstände liebender Hingabe, andere Orientierungspunkte. Aber der Mensch, der Gott verwirft, hat nicht die Freiheit, die entstehende Lücke offen zu lassen. Sondern wenn einer an Gott nicht glauben mag, muss er stattdessen an die Menschheit glauben, an sich selbst oder an sein Glück, an die Vernunft, an den Fortschritt, an das Lustprinzip – oder irgendetwas anderes. Und eben dies (dass der Mensch, der Gott ablehnt, trotzdem nicht an „nichts“ glauben kann) ist vielen bis heute nicht klar. Gott ließ sich zwar verdrängen, aber er hinterließ kein Vakuum, sondern eine Leerstelle, die gefüllt werden muss. Denn so ist der Mensch nun mal, dass er Wertmaßstäbe braucht, um Entscheidungen zu treffen, dass er Ziele braucht, um sein Leben als sinnvoll zu empfinden, dass er sich an etwas hingeben möchte, das über ihn hinausreicht, und sich an etwas festhalten muss, das fester steht als er selbst. All das hätte er in Gott gehabt, all das wollte Gott für uns sein. Doch wer meint, dass er Gott nicht braucht, muss, nachdem er mit ihm gebrochen hat, einen Ersatz finden. Und – nach diesem Ersatz greifend – unterwirft er sich dem entsprechenden Gesetz. Denn was immer ich zu meinem Gott erhebe, damit es mir Gottes Funktion erfüllt, verlangt anschließend auch die Opfer, die einem Gott gebühren. Die einen vergöttern ihr Glück. Und dann sieht man sie, wie sie ihrem Glück vergeblich hinterherlaufen. Die andern vergöttern die Schönheit. Und – Himmel! – wie sieht man sie dann fasten und trainieren, sich schminken und beim Schönheitschirurgen Schlange stehen! Wieder andere vergöttern die Vernunft, als wäre sie der Schlüssel zu jedem Problem. Und diese Übergescheiten tanzen dann um das Goldene Kalb der akademischen Titel und Würden. Manche vergöttern ihren geliebten Partner, der seine Macht dann leider spürt und selten widerstehen kann, sie am Nasenring durch die Manege zu führen. Und ist der Sport mein Gott, so duldet er nicht, dass ich noch Kraft und Aufmerksamkeit für etwas anderes aufwende, sondern das Training verschlingt mich ganz und gar. So hat die Trennung von Gott immer ihren Preis. Denn wer die wahre Religion nicht will, braucht eine Ersatzreligion – selbst wenn sein eitles Ich ihr einziger Gegenstand sein sollte. Ja, auch wer nichts will, als nur die eigene Originalität zu beweisen, selbst der macht einen Kult um die eigene Person und bringt dafür schwere Opfer. Denn der, dem ich mich hingebe, der „hat“ mich dann auch. Und will ich etwas unbedingt besitzen, so ergreift es Besitz von mir. Will ich gefallen, gilt als oberstes Gesetz der Geschmack dessen, dem ich zu gefallen versuche. Und wie es gerecht ist, empfange ich dabei immer nur das Glück und die Seligkeit, die der Gegenstand meiner Hingabe zu geben vermag. Du willst als Genießer den Genuss an Gottes Stelle setzen? Nun, bitte, du wirst erfahren, was du davon hast, denn kein Genuss ist von Dauer. Du willst nicht Gott, sondern deiner Karriere oberste Priorität geben? Nun gut, du weißt, was der Preis ist. Du musst buckeln, schleimen und arbeiten ohne Ende. Du willst überall beliebt sein? Naja, ist dir nicht klar, dass du dafür heucheln und dich prostituieren musst? Du willst nicht, dass der Allmächtige über dich herrscht? Gut, du hast die Freiheit, deine Seele einem anderen zu verkaufen. Wenn der dann aber über dir die Peitsche schwingt – was beschwerst du dich? Wie? Dein neuer Gott ist erbarmungslos? Na, den hast du dir doch selbst ausgesucht! Er lässt dich im Stich, wenn du ihn am nötigsten hast? Ja, was hast du erwartet? Wohl hattest du die Freiheit zu solcher Dummheit. Doch Gott hat dich nicht gezwungen, davon Gebrauch zu machen. Worüber willst du dich also beklagen? Wer Gott entläuft, ist darum nicht frei, ohne Bindung zu leben. Er ist nur frei, eine andere Bindung zu wählen. Er kann eine gläubige Deutung seines Daseins durch eine ungläubige ersetzen. Danach aber gilt: Wie man sich bettet, so liegt man. Ersetzt du Gott durch Kälte, wirst du frieren. Ersetzt du ihn durch Feuer, wirst du dich verbrennen. Aber wer ist schuld? Wenn ich von der Liebe, vom Geld oder von der Vernunft erwarte, was nur Gott leisten kann – ist dann die Liebe, das Geld oder die Vernunft an meiner Enttäuschung schuld? Sind die Dinge „schlecht“, wenn ich ihnen die falsche Funktion zuweise und dann dem Schraubenschlüssel vorwerfe, dass er nicht als Säge taugt? Nein! An sich sind die Dinge gut, richtig und nützlich. Aber meine Erwartung an sie ist falsch und überzogen. Denn wenn sie mir Gott ersetzen sollen, versagen auch die höchsten Güter – und werden sie angebetet, frustrieren sie jeden Beter, ohne dass sie viel dafür könnten. Du hast dich dem Erfolg verschrieben? Ok! Dafür hassen dich dann alle, über deren Rücken du die Leiter hinaufgeklettert bist. Du wolltest immer die Schönste sein? In Ordnung! Aber wusstest du nicht, dass bald Jüngere kommen, die dich in den Schatten stellen? Du hast um Liebe gebettelt – und bald haben dich alle ausgenutzt? Du wolltest besonders schlau sein – und nun mag niemand deine belehrende Art? Du hast alles für die Kinder gegeben – und nun brauchen sie dich nicht mehr? Du hast dich krumm geschuftet für ein Haus – und bald musst du es fremden Händen hinterlassen? Du wolltest berühmt werden – und wunderst dich jetzt, dass dein Ruhm vergänglich ist? Das war doch zu erwarten! Jeder Kult gibt nur, was dieser Kult zu geben vermag. Und hat man sich nicht an Gott gewandt, so ist es wenig genug. Wer sich an Vergängliches hängt, wird mit dem Vergänglichen vergehen. Und wer sich an Ewiges hängt, wird mit dem Ewigen verewigt. Das eigene Leben ist immer soviel wert, wie der Zweck, dem man es widmet. Warum also sehen wir bei der Wahl unsres Lebensinhaltes nicht besser hin? Warum investieren wir unser Leben so oft in Nichtiges, das uns dann seinen Stempel aufdrückt? Bernhard von Clairvaux erkannte den Zusammenhang und sagte, dass jene, die nicht Kinder Gottes sein und seinem Gesetz nicht folgen wollen, dennoch einem Gesetz unterliegen. Und zwar immer dem, das sie sich selber geben. Sie beschließen, etwas anderes mehr zu lieben als Gott. Und da sie sich Gott nicht hingeben wollen, dienen sie zwangsläufig einem Götzen, der nicht halten kann, was sie sich von ihm versprechen. Sie haben die Freiheit, sich ein eigenes Gesetz zu wählen. Sie vermögen aber nicht ohne Gesetz zu sein. Denn – den Willen Gottes verneinend – müssen sie zumindest ihren eigenen Willen ganz bejahen. Sobald Gott nicht mehr ihr Leitstern ist, beginnen sie sich an etwas anderem zu orientieren – und zwar gewöhnlich am eigenen Gutdünken, an ihren Launen und Gelüsten. Nur, ganz ohne Orientierung kann der Menschen niemals sein. Es steht ihm frei, Gott vom Thron stoßen. Aber die Möglichkeit, diesen Thron anschließend leer zu lassen, besteht nicht. Der Mensch muss die entstandene Lücke schließen. Er muss den Gott ersetzen, den er aus seinem Leben verbannt hat. Und natürlich erweist sich alles, wonach er greift, als ungenügend und als „zweite Wahl“. Der Mensch ohne Gott übernimmt dann selbst Gottes Rolle – und ist eine Zeit lang mächtig stolz, alle Fäden in der Hand zu haben. Aber bald entdeckte er, dass ihm Gottes Schuhe zu groß sind – und macht einen überforderten Eindruck. Denn wie schließt man eine Lücke von solchem Ausmaß? Jeder hat die Freiheit, diese Dummheit zu begehen. Jeder kann versuchen, sich selbst Gesetz zu sein. Und das lockt uns gewaltig! Es lockt den Menschen, Gott gleich zu sein – oder wenigstens in eigener Regie der Gott des eigenen Lebens zu werden! Denn Gott ist beneidenswert autonom. Er wird durch nichts bestimmt, als nur durch sich selbst. Und wir träumen davon, es ihm gleich zu tun. Doch als wir’s taten und im Sündenfall das leichte Joch abwarfen, das von Gott kam, luden wir uns damit ein viel schwereres Joch auf unsre Schultern. Plötzlich waren Herr und Knecht dieselbe Person. Und des Menschen Wille geschah! Nur war sich der Mensch zur eigenen Überraschung ein sehr schlechter Herr – und war sich zugleich ein schlechter Knecht. Denn als Herr ist er tyrannisch, und als Knecht rebellisch. Auf Dauer wird er mit sich selbst nicht glücklich. Und in die Rolle Gottes schlüpfend ist er sich nicht mal so barmherzig, wie es Gott jederzeit wäre. Vielmehr ist der „autonome“ Mensch der Tyrann seiner selbst. Seine Begehren, von Gott nicht nur unterschieden, sondern getrennt zu sein, trägt die angemessene Strafe schon in sich, dass der Mensch nämlich mit sich selbst gestraft ist und den Gott nicht mehr findet, den er leichtfertig aus seinem Leben verbannte. Er wollte ohne Gott glücklich sein. Er wurde genau dadurch sehr unglücklich. Gott aber „gab ihn dahin“. Er ließ ihn den gewünschten Weg laufen, indem er ihm erlaubte, sich selbst zum Gott seines Lebens zu erheben – um gleich anschließend in der angemaßten Rolle kläglich zu versagen. Wie schrieb Bernhard? „Es ziemte dem ewigen und gerechten Gesetze also zu wirken, dass, wer immer sich weigert, auf sanfte Weise von Gott sich lenken zu lassen, auf peinliche Art von seinem eigenen Willen gelenkt werde, und dass, wer das sanfte Joch, die leichte Bürde der Liebe abwirft, die unerträgliche Last seines eigenen Willens, selbst gegen seinen Willen, tragen müsse“ (B. v. Clairvaux, Über die Gottesliebe). Darüber kann man dann klagen. Aber – was willst du, Mensch? Du wolltest doch deinen Träumen und deinen Launen folgen! Nun, herzlichen Glückwunsch. Dein Wunsch ging in Erfüllung und brachte dir den verdienten Lohn, dass du nun Dummes tust, weil du dumme Träume hast, und ständig deinen Launen folgen musst, die sich schneller ändern als das Wetter. Du wolltest glänzen? Nun wirst du alles deinem Glanz opfern und dich damit zum Narren machen. Du wolltest herrschen? Jetzt wirst du alles tun, um mächtig zu werden, wirst Konkurrenten ausschalten und dabei Blut vergießen. Du wolltest dir von Gott keinen Platz anweisen lassen? Nun hast du weder einen Ort in der Welt noch eine Aufgabe oder einen Lebenssinn. Die Freiheit, die du wolltest, wurde zum freien Fall. Dein Traum wurde zum Alptraum. Der eigene Plan hat dich überfordert. Und an alledem soll nun Gott schuld sein, weil er den Sündenfall nicht verhindert hat? Soll er etwa richten, was wir Menschen verbockt haben? Das Verblüffendste an der Sache ist, dass er es tatsächlich tut. Gott löffelt die Suppe aus, die wir uns eingebrockt haben. Und obendrein schenkt er uns den Heiligen Geist, der in uns den Glauben weckt und damit den Schaden heilt. Durch den Glauben rückt Gott wieder an den Platz, der keinem anderen gebührt. Denn eben darin besteht der Glaube, dass sich unsre Wertmaßstäbe wieder an Gott orientieren, dass wir uns keinem in der Weise hingeben wie ihm, dass wir uns Gott zur Verfügung stellen, unsre Seele in seine Hände legen, unsere Aufmerksamkeit auf ihn fokussieren und unsre Hoffnungen und Erwartungen wieder ganz auf den richten, der sie zu erfüllen vermag. Denn jeder Ersatz für Gott war schlechter Ersatz. Und an den Surrogaten Gottes hat sich die Neuzeit den Magen verdorben. „Das christliche Europa hat sich seines Christentums entledigt, wie ein Mensch sich der Vitamine entledigt“ (G. Bernanos). Es geht nun an Mangelerscheinungen zugrunde – und weiß nicht mal warum! Gott aber ist bereit, die Leerstelle in uns wieder auszufüllen. Wir hatten die Freiheit zu einer großen Dummheit – und haben nicht gezögert, davon Gebrauch zu machen. Doch im Glaube schenkt uns Gott die Freiheit, den Fehlgriff rückgängig zu machen. Denn dem Gläubigen ist Gott seine Zuflucht in allen Nöten und sein Leitstern in allen Entscheidungen. Er verlässt sich auf Gottes Güte, er ruht in Gottes Treue und zieht daraus seine Zuversicht. Der Glaube schweift nicht umher und fragt, was sich wohl zu lieben lohnt, sondern liebt nur den einen. Und wenn er Hilfe sucht, sucht er sie bei Gott und baut auf keinen anderen. Der Glaube äugt nicht umher, wer ihm wohl Versprechungen macht, sondern dient nur einem Herrn. Was der sagt, ist ihm verbindlich. Keiner gilt ihm als „groß“, als nur Gott selbst. Und er gibt auch auf niemandes Urteil etwas, als nur auf Gottes Urteil. Der Glaube lässt gern alles fahren, wenn ihm nur Gott bleibt. Und er hält sich für glücklich, wenn er mit Gott in Gemeinschaft steht. Sonst aber erwartet er von niemandem viel – und vor allem nicht von sich selbst. Er will nicht mehr Gott spielen. Er wird eben dadurch menschlich. Und wenn am Schlechten schon sonst nichts gut ist, lernt der Glaube doch daraus, die Ordnung zwischen Gott und Mensch künftig nicht mehr durcheinander zu bringen. Gottes Joch ist sanft, seine Last ist leicht. Und wer sie gerne trägt, ist gesegnet!

 

 

Bild am Seitenanfang: Tamed (circa 1910)

Marian Wawrzeniecki, Public domain via Artvee