Du sollst Vater und Mutter ehren...
Der betrunkene Noah und seine Söhne (1. Mose 9,18-29)

Du sollst Vater und Mutter ehren...

Das vierte Gebot

Zu den Kennzeichen unserer Zeit gehört ein großer Individualismus, denn heute wird jedem das Recht zugebilligt, „speziell“ und „anders“ zu sein. Jeder will als Einzelner gesehen werden. In ein Schema zu passen, gilt als peinlich. Und wer sich über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert, dem unterstellt man einen Mangel an persönlichem Profil. Nichts ist schlimmer, als in der Masse unterzugehen oder „nichts Besonderes“ zu sein! Und erst recht will keiner auf sein Herkunft oder seine Vergangenheit festgelegt werden. Denn nur das „hier und jetzt“ soll zählen. Nötigenfalls beschließt man, sich neu zu erfinden! So wird dann jeder Fall zum Sonderfall. Und jeder steht nur noch für sich selber gerade. Selbstbestimmung hat Vorrang vor Gemeinschaft. Und Abgrenzung ist wichtiger als Zugehörigkeit. Denn der moderne Mensch will niemandem etwas schulden und auch niemandem verantwortlich sein – außer sich selbst. Er tut gern, als habe die Geschichte erst mit seiner Geburt so richtig angefangen. Und dass er kulturell und biografisch auf den Schultern früherer Generationen steht, wird dabei gern übersehen. Denn man will ja nicht abhängig, sondern autonom und niemandem zu Dank verpflichtet sein. Das große Ideal ist der „Selfmademan“! Doch – gibt’s das überhaupt, dass einer sich „selber macht“? Ist Gottes Schöpfung denn so eingerichtet, dass neues Leben sich selbst erzeugt oder aus dem Nichts kommend senkrecht vom Himmel fällt? Gilt nicht ganz im Gegenteil, dass neues Leben sich organisch aus vorhergehendem heraus entwickelt und mit seinem Ursprung zeitlebens verflochten bleibt? Gewiss ist jeder Mensch ein Original! Und doch ist auch keiner ohne familiären Zusammenhang! Kein Kind wächst ohne hilfreiche Bindungen heran, ohne dass sich irgendwer kümmert und es fördert! Keiner ist eine Insel, jeder ist Teil eines Netzwerks. Und auch kulturell verfügt der Einzelne vorwiegend über das, was er von anderen empfing. 

In der Bibel finden wir darum ein realistischeres Bild des Menschen. Sie verortet ihn nicht im luftleeren Raum, sondern sieht den Einzelnen als Bindeglied in einer langen Folge von Generationen, die wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Denn so hat Gott seine Schöpfung tatsächlich eingerichtet! Als großer Freund des Lebens ist er an dessen Fortsetzung interessiert. Und er erwartet von seinen Geschöpfen, dass sie Leben nicht nur empfangen, sondern auch weitergeben und darin den Prozess bejahen, dem sie sich verdankt. Denn die Möglichkeit, in Gottes Schöpfungswerk mitzuwirken, ist ehrenvoll und verleiht dem Dasein des Einzelnen große Bedeutung, weil er als Bindeglied zwischen seinen Eltern und seinen Kindern nicht zu ersetzen ist. Ein jeder soll zwischen seinen Vorfahren und seinen Nachfahren die Brücke bilden. Und die Bibel hält das für so wesentlich, dass sie ein Ausbleiben des Kindersegens als persönliche Katastrophe wertet. Wer kinderlos bleibt, ist von der aktiven Teilnahme am Schöpfungsprozess ausgeschlossen. Und die Unfruchtbaren erleben das in der Bibel als große Schmach, weil sie sich vorkommen wie tote Äste an einem ansonsten grünen Baum. Für heutige Ohren klingt das vielleicht übertrieben. Aber in biblischer Sicht ist die Weitergabe des Lebens nichts, das ohne großen Schaden auch fehlen könnte, sondern alles gelingende Leben ehrt dort die Quelle, aus der es geflossen ist, und will auch seinerseits in neues Leben hinein münden. Denn wie anders könnte der Mensch mit dem Willen des Schöpfers im Einklang sein? Gott erwartet, dass wir an dem Prozess, dem wir uns verdanken, bereitwillig mitwirken. Und er gibt uns die nötigen Kräfte nicht etwa, damit wir sie aufsparen und behalten, sondern damit wir sie verausgaben und in die nächste Generation investieren. Hinter unserem Leben soll kein abschließender Punkt stehen, sondern ein auf Fortsetzung verweisender Doppelpunkt. Denn menschliches Leben kann zwar nicht „konserviert“ werden. Es kann aber hinüberfließen in das Leben der Kinder und wird dadurch zum Wanderpokal! Wer den Wanderpokal aber für sich behalten und nicht mehr hergeben will (indem er sich absichtlich den Kindern versagt, für die er da sei könnte), der verneint damit den Schöpfungsplan, aus dem er selbst hervorgegangen ist. Er hat empfangen und will nicht weitergeben. Er steht biologisch und kulturell auf den Schultern der Altvorderen. Und doch soll auf seinen Schultern niemand stehen dürfen. Er unterbricht willkürlich den Rhythmus des Lebens und kann so schwerlich im Frieden sein mit dem, der dieses Leben schuf. Denn in der Geschichte sollen die Güter und Kenntnisse stets von Hand zu Hand und von Generation zu Generation gehen, wie wenn Feuerwehrleute bei einem Brand eine Eimerkette bilden. Man nimmt, man behält, man reicht weiter. Man lernt, man wendet an, man lehrt. Man wird beschenkt, freut sich und gibt dem Nächsten. Das ist wie einatmen, ausatmen und wieder einatmen! Wenn aber jemand nur einatmen will und nichts mehr hergibt (wenn er die Eimerkette mutwillig unterbricht), dann ist das gravierend und geht nicht nur ihn selber an. Denn er verhindert nicht nur jene, die nach ihm noch hätte sein können, sondern stellt auch die Mühe derer in Frage, die vor ihm waren. Bei denen, die ungewollt kinderlos bleiben, liegen die Dinge natürlich anders! Und bei manchen mag es sich aus einer besonderen Berufung ergeben. Doch für die große Mehrheit sieht Gottes Schöpfungsplan vor, dass sie nicht etwa zugunsten ihrer „Selbstverwirklichung“ auf Elternschaft verzichten, sondern gerade in und durch die Elternschaft ihr bestes „Selbst“ verwirklichen. In die Familie verflochten sollen wir Kräfte aus der einen Richtung empfangen und in die andere Richtung weiterreichen. Denn ein Mensch erlangt Bedeutung nicht durch das, was er in vornehmer Isolation „an und für sich“ ist, sondern durch das, was er „für andere“ ist. Wir dürfen daher unsere Verflechtung in den Zusammenhang der Familie als gottgewollt bejahen und auch die damit verbundene Verantwortung willig übernehmen. Denn wie anders wäre das vierte Gebot zu verstehen? Es lautet: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Und es erinnert uns daran, dass Alt und Jung aufeinander angewiesen sind. Der Schöpfungsprozess käme ins Stocken, wenn jeder nur „für sich“ da sein wollte. Und wenn nicht alle Eltern „gute Eltern“ sind, ändert das wenig. Denn bevor man als Kind mit ihnen hadert, gilt es sie erst einmal in der ihnen von Gott verliehenen Funktion zu sehen – und sie zu würdigen als jene Werkzeuge, durch die uns zu erschaffen dem Allmächtigen gefallen hat. Man hat sich seine Eltern ebenso wenig ausgesucht, wie die sich ihr Kind aussuchen konnten! Und doch – indem der Schöpfer sie zur Elternschaft ausersah und ihnen ein Kind anvertraute, hat er Alt und Jung dazu bestimmt, füreinander da zu sein. Denn es entspricht der Konstitution des Menschen, dass er für lange Jahre abhängig und bedürftig ist. Schon am Anfang des Lebens sind wir so schwach, dass andere für uns sorgen müssen. Und am Ende unseres Lebens sind wir‘s dann wieder. Das heißt aber: Gott schuf den Einzelnen gerade nicht „autark“! Er schuf den Einzelnen nicht, damit er ohne sozialen Zusammenhang sich selbst genug sei, sondern fügt einen jeden in die lange Kette der Generationen ein, in der alle Glieder gleichermaßen nehmen und geben sollen. Eltern sind demnach Gesegnete, die Gott ehrenvoll damit beauftragt, das ihnen anvertraute Leben zu pflegen, zu nähren, zu schützen und zu erziehen. Eltern handeln stellvertretend für Gott an ihren Kindern. Und um dieses Auftrags willen sind sie als Mitarbeiter Gottes wert zu schätzen. Luther würde sagen: Väter und Mütter haben ein von Gott gegebenes „Amt“! Und es ist ein alltäglicher Gottesdienst, wenn sie darin auch nur halbwegs ihre Schuldigkeit tun. Wenn sie darüber dann aber ihre Kräfte verzehren und gebrechlich werden, weil Geist und Leib verfallen, dann sind die Kinder gefordert, die Würde der Alten zu schützen, ihre Not zu stillen und ihre Schwächen zu bedecken. Denn das ist ebenso der Kinder Pflicht, wie es vorher der Eltern Pflicht war, alles für ihre Kinder zu geben. Wie Feuerwehrleute in der Eimerkette sollen die Generationen zu einander stehen! So nämlich, dass keiner nur gibt und keiner nur nimmt, keiner bloß Anfang und keiner bloß Ende ist, sondern jeder Einzelne ein Durchgang, eine Brücke und ein Mittler, der fröhlich nimmt und fröhlich gibt, möglichst wenig verliert und nichts für sich behält, sondern stolz ist, das ihm Anvertraute treu zu bewahren und weiterzureichen. Jede Generation soll sich dessen bewusst sein, dass sie auf den Schultern der vorangegangenen steht. Und jede soll der folgenden dasselbe gönnen. Denn so hat Gott es geordnet und so gefällt es ihm. Wir ernten vieles, das wir nicht selbst gesät haben. Warum sollten wir also nicht säen, was andere ernten werden? Eine jüdische Geschichte erzählt von dem alten Mann, der einen Johannisbrotbaum pflanzt. Ein Wanderer, der vorbeikommt, wundert sich darüber und sagt: „Alter, weißt du eigentlich, wann dieser Baum zum ersten mal Früchte tragen wird?“ „Sicher“ erwidert der Greis, „bei einem Johannisbrotbaum kommen die Früchte erst nach 70 Jahren.“ Der Wanderer schüttelt darüber den Kopf und sagt: „Dann muss du doch ein Narr sein! In siebzig Jahren wirst du nicht mehr leben und die Früchte deiner heutigen Arbeit also niemals genießen!“ Den Alten stört der Einwand aber gar nicht, sondern er sagt: „Als ich zur Welt kam, da fand ich schon Johannisbrotbäume vor und aß von ihnen, ohne dass ich sie gepflanzt hätte, denn das hatten meine Väter getan. Habe ich nun genossen, wo ich nicht gearbeitet habe, soll ich da nicht auch arbeiten, damit andere genießen, und Bäume pflanzen für Kinder und Enkel?“ Jener Greis hat Recht. Alt und Jung können nur bestehen, wenn sie sich die Hand reichen. Leben funktioniert nicht, wenn der Einzelne nur sein eigenes Leben fördert und nicht auch das der anderen. Denn ein jeder kommt nackt auf die Welt und findet vieles vor, wofür er nicht erst arbeiten muss. Als Kind nähren wir uns ganz selbstverständlich von dem, was die Eltern erwirtschaften. Und wir lernen in der Schule, was viele Generationen vor uns an Wissen gesammelt haben. Wir bewohnen Häuser, die fleißige Hände etliche Jahre vor uns gebaut haben. Und wenn wir krank werden, heilt man uns mit Methoden, die seit Jahrhunderten immer weiter verbessert werden. Mit Selbstverständlichkeit eignen wir uns an, was wir von den Vorfahren ererben! Und ist es dann nicht auch selbstverständlich, dass man – alt geworden – das ererbte und vielleicht vermehrte Gut neidlos und fröhlich an folgende Generationen weitergibt? Solcher Zusammenhalt ist mehr als bloß ein Gebot der Vernunft. Er ist auch Gottes Wille! Denn der hat seine Welt so geordnet, dass Egoismus das Leben tötet, während Gemeinschaft das Leben fördert und mehrt. Es ist kein Unglück, dass wir aufeinander angewiesen sind, sondern ist eine Ordnung göttlicher Weisheit. Und darum sollen Jung und Alt so zusammen-stehen, dass keiner geben muss, ohne dass er vorher empfangen hätte, und keiner empfängt, ohne seinerseits auch etwas zu geben. Dass aber in diesem großen Verbund ein jeder seinen Platz finde, so dass keiner einsam und keiner abgeschnitten sei – darum wollen wir unseren Schöpfer bitten, der barmherzig ist und treu in Zeit und Ewigkeit.

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Drunkenness of Noah

Giovanni Bellini, Public domain, via Wikimedia Commons