Erbsünde

Erbsünde

Wenn wir mit Außenstehenden über den christlichen Glauben reden, werden wir oft missverstanden und ärgern uns darüber. Manchmal liegt es aber an uns selbst, und an den Ausdrücken, die wir benutzen. Denn mancher Begriff ist unglücklich gewählt und provoziert dadurch Missverständnisse, die gar nicht nötig wären. Haben Sie z.B. mal überlegt, was der Begriff „Erbsünde“ sagen will, warum wir also nicht einfach von „Sünde“ reden, sondern von „Erbsünde“? Das ist ein Ausdruck, der fast zwangsläufig Widerspruch hervorruft! Denn Sünde hat immer mit Schuld zu tun. Und Schuld ist nichts, was man von seinen Eltern erben könnte, wie die Hypothek auf dem Haus. Wir halten Schuld für „individuell“, für „persönlich“, für „nicht-übertragbar“. Und darum fänden wir es ungerecht, wenn jemand zur Verantwortung gezogen würde für das, was ein Anderer getan hat. Sollte der Begriff „Erbsünde“ also besagen, dass uns heute noch die Sünde Adams und Evas angelastet wird, dann würden wir uns dagegen verwehren. Denn es ist nicht einzusehen, warum man uns vorwerfen sollte, was nicht wir, sondern Adam und Eva getan haben. Als Theologe beeilt man sich, das richtigzustellen. Denn tatsächlich erben wir nicht fremde Schuld, sondern wir erben Sünde als die fatale Neigung, uns durch eigene Schuld von Gott zu entfernen! Aber kaum hat man das gesagt, droht ein neues Missverständnis, weil der Gesprächspartner meint, Erbsünde als fatale Veranlagung müsse dann so etwas wie eine Krankheit sein, die man von Generation zu Generation weitervererbt, wie man blonde Haare oder große Nasen vererbt. Doch ist das genauso ein Irrweg, wie der erste. Denn man „erbt“ Sünde weder, wie man ein mit Hypotheken belastetes Haus erbt, noch „erbt“ man Sünde auf biologischem Wege, wie man die Augen oder die Nase des Vaters erbt. Wenn das alles aber nicht gemeint ist – was will das Wort „Erbsünde“ dann besagen? Ich denke, es ist ein unglücklich gewählter Ausdruck für die wichtige und notwendige Erkenntnis, dass Sünde nicht bloß im individuellen Versagen des Einzelnen besteht, sondern in einem alle und alles übergreifenden Verhängnis, dem keiner entrinnt. Denn diesen oder jenen Fehltritt kann man vermeiden. Aber ein Sünder zu sein – das kann keiner vermeiden! Konkrete Tatsünden sind Einzelereignisse. Doch dass wir Sünder sind, ist ein Dauerzustand. Und der kommt uns nur deshalb „normal“ vor, weil wir nie anders waren. Schon als wir auf die Welt kamen, und jeder uns unschuldig und niedlich fand, hatte Sünde uns auf verborgene Weise im Griff. Und so wie diese Welt beschaffen ist, entrinnen wir ihr auch nie. Denn Sünde beschränkt sich nicht auf punktuelle Fehltritte, die man überspielen könnte, sondern sie ist ein permanenter Gestank, der uns immer und überall anhaftet. Diesen Geruch loszuwerden ist unmöglich, weil er von innen kommt. Und das heißt: Es geht bei diesem Thema nicht um moralische Schwächeanfälle, die vorübergehen, sondern um einen permanenten Schaden, der uns tief in den Knochen steckt. Unser Leben in der gefallenen Schöpfung ist so beschaffen, dass sich das Sündigen darin gar nicht vermeiden lässt. Genauso gut könnte man ins Meer springen und dabei hoffen trocken zu bleiben! Warum aber ist das so? Wie kommt es? Ich meine es hat drei wichtige Gründe:

 

(1.) Der erste ist, dass wir von Geburt an egozentrisch sind, und das, was uns selbst betrifft, immer stärker empfinden und ernster nehmen als das, was die Anderen betrifft. Denken sie nur einmal an Schmerzen: Ich fühle meinen eigenen Schmerz unmittelbar. Dass aber der andere Mensch auch Schmerzen hat, muss ich erst mühsam lernen und mir bewusst machen. Wenn ich den Anderen anschaue, kann ich seinen Schmerz vielleicht am Gesicht ablesen und kann mir vorstellen, wie er sich fühlen mag. Sobald ich aber wegschaue, tut mir der Schmerz des Anderen gar nicht mehr weh, und ich vergesse ihn leicht. Oder wäre das mit der Freude anders? Meine eigene Freude fühle ich unmittelbar und genieße das gute Gefühl so sehr, dass ich es immer wieder haben will. Auf mein eigenes Streben nach Glück bin ich jeden Tag konzentriert und tue alles mögliche, damit es mir gut geht. Dass aber auch die Anderen glücklich sein möchten, das beschäftigt mich kaum, das fühle ich auch nicht, sondern muss es mir erst klar machen – und fühle mich auch dann noch nicht für deren Glück zuständig! Meinen Schmerz und meine Freude sehe ich ganz groß, wie unter einer Lupe. Doch den Schmerz und die Freude der Anderen sehe ich nur klein, wie durch ein trübes Fernglas hindurch. Denn wie es mir selbst geht, das spüre ich jederzeit, wie es aber dem Anderen geht, muss ich mir erst von ihm sagen lassen. In mir selbst bin ich immer, in die Anderen muss ich mich hineinversetzen. Und weil mir nichts so unmittelbar gegeben ist wie meine eigene kleine Gefühlswelt, darum messe ich ihr übergroße Bedeutung zu. Ich selbst bin erst mal alles was ich habe! Und um so größer ist der Schrecken, wenn ich merke, dass auch die Anderen nicht etwa um mich und meine Bedürfnisse kreisen, sondern um sich selbst. Die Anderen nehmen meine Not genau so leicht, wie ich ihre. Und von den engsten Angehörigen abgesehen, ist ihnen auch mein Hunger nach Glück egal. Nun wäre das nicht so tragisch, wenn von dem, was zum Glück beiträgt, für jeden genug da wäre. Aber dem ist nicht so. Und das ist der zweite Grund, weshalb wir der Sünde nicht entrinnen.

 

(2.) Viele der irdischen Güter, die ich brauche, können nur einmal verteilt werden, so dass ich sie den Anderen nicht einfach überlassen kann. Will ich einen bestimmten Arbeitsplatz, muss ich ihn den Mitbewerbern streitig machen. Und wenn ich erfolgreich bin, geht deswegen ein Anderer leer aus. Liebe ich eine Frau, so muss ich sie anderen Männern streitig machen. Und wenn ich sie für mich gewinne, ist sie für die Anderen verloren. Wo ich mein Haus baue, da ist für die Anderen kein Platz mehr. Und an dem Essen, das ich mir schmecken lasse, wird auch kein Anderer satt. Selbst im engen Fahrstuhl muss ich bereit sein, Raum in Anspruch zu nehmen und diesen Raum für mich zu besetzen, so dass ein Anderer draußen stehen bleibt. Denn die Welt ist so gestrickt, dass ich mich nicht in ihr behaupten könnte, wenn ich mich ständig den Anderen aus dem Weg räumen wollte. Die Luft, die ich atme, das Bett, in dem ich schlafe, und das Geld, das ich ausgebe, muss ich für mich beanspruchen, muss es gegebenenfalls auch verteidigen und muss billigend in Kauf nehmen, dass mein Erfolg für einen Anderen eine Niederlage bedeutet. Denn das Leben gleicht jenem Spiel, das man „Reise nach Jerusalem“ nennt. Kennen sie das? Alle Mitspieler laufen um eine Reihe von Stühlen herum, und auf Kommando versucht sich jeder schnell hinzusetzen. Weil es aber immer weniger Stühle als Teilnehmer sind, findet der Langsamste keinen Platz mehr und muss ausscheiden. In jeder Runde ist es ein Stuhl weniger. Immer fällt der Schwächste hinten runter. Und so ist das im Leben auch. Denn wer seinen Stuhl erobert und verteidigt, nimmt in Kauf, dass irgendwo ein Anderer leer ausgeht. So lebt jeder von uns auf Kosten Anderer. Und möchte er ein Schnitzel auf dem Teller haben, muss er auch wollen, dass das Schwein stirbt. Gebrauche ich meine Ellenbogen nicht, werde ich die der anderen spüren. Und wollte ich ernsthaft versuchen, keinem Mitmenschen im Weg zu stehen und mich den anderen ganz aus dem Weg zu räumen, müsste ich wohl die Welt verlassen. Will ich mich aber behaupten, scheint es unmöglich, den Nächsten dabei genauso zu lieben, wie mich selbst. Wir ahnen oder wissen, dass wir bei alledem schuldig werden. Aber welche Wahl lässt uns diese Welt, in der all die Anderen genauso egozentrisch sind, wie wir selbst?

 

(3.) Die Welt nimmt den Einzelnen bei weitem nicht so wichtig, wie er sich selbst. Und sie fühlt auch nicht seine Schmerzen mit ihm. Wenn ihm das aber bewusst wird, resultieren daraus Existenzangst und Misstrauen. Wir verschließen uns innerlich in uns selbst. Und das ist der dritte Grund, weshalb wir der Sünde nicht entkommen. Denn diese Welt enthält große Drohungen, und unsere menschliche Kraft ist demgegenüber gering. Es gibt zahllose Gefahren, gegen die sich der Einzelne nicht zu schützen vermag! Doch anders als das Tier hat der Mensch einen Begriff von Zukunft. Er kann die Gefahr in bewusster Vorstellung vorwegnehmen, und wenn er dabei gedanklich vorausläuft bis zu seinem Tod, dann packt ihn das Entsetzen, weil dieser Tod ihn mit seinem ganzen privaten Universum auslöschen wird. Der Mensch entdeckt, dass die Welt ihn entbehren kann! Er aber kann die Welt nicht entbehren! Und wenn er mal nicht von Lebenslust und Gier getrieben wird, dann von Angst und Sorge. Dem Schicksal älterer Mitmenschen kann er entnehmen, dass auch er den Lebenskampf früher oder später verlieren wird. Und um so mehr kränkt es ihn, dass die Anderen sich trotzdem nicht um ihn, sondern um sich selber kümmern. Keinem bedeutet er so viel, wie er sich selbst bedeutet. Darum misstraut er den Anderen – und misstraut zuletzt auch seinem Gott und Schöpfer, der ihm dieses sorgenvolle Leben zumutet. So verhärtet sich der Mensch immer mehr, schließt sich nach außen ab und verkrümmt sich in sich selbst, um am besten nur noch für sich selbst und von sich selbst zu leben. Doch eben damit überfordert er sich – und hält selbst die Hilfe fern, weil er Gott (der eigentlich in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit gehörte) an den Rand schiebt, um selbst mit seiner menschlichen Person den Mittelpunkt zu bilden. Der besorgt um sich kreisende Mensch würde Gott vielleicht gelten lassen, wenn Gott bereit wäre, um diesen Menschen zu kreisen, wie ein Planet um seine Sonne. Wenn Gott das aber nicht tut, misstraut der Mensch ihm umso mehr. Als Sünder hat er Gott verlassen – und fühlt sich nun verlassen. Er hat sich innerlich getrennt – und empfindet Gott als abwesend. Er will sich von Gott nichts sagen lassen – und hört ihn darum nicht reden. Er starrt auf sich selbst – und kann Gott deshalb nicht sehen. Er bekommt Gott nicht in den Griff – und meint darum, er sei nicht da. Kommt ihm aber einer mit „Moral“, so empfindet der um seine Selbstbehauptung besorgte Mensch das als Zumutung. Denn: Lehrt nicht die Natur mit ihrem „Fressen und gefressen werden“, dass es normal ist, auf Kosten anderer zu leben? Und lehrt nicht schlechte Erfahrung, dass wir zur Selbsterhaltung all die schmutzigen Tricks nötig haben, die Gott uns verbieten will? „Sorge für dich selbst“, sagt man trotzig, „sonst tut es keiner“! „Kämpfe für dich selbst, sonst verteidigt dich keiner! Sei dir selbst der Nächste, denn die anderen tun es auch! Verlass dich auf keinen, denn sonst bist du verlassen! Und zeige keine Skrupel, sonst nutzen die Anderen deine Schwäche aus!“ Wer sich mit solchen Sprüchen rechtfertigt, ahnt, dass er dauernd schuldig wird, und will es doch als Notwehr sehen. Weil er nur seine eigenen Schmerzen fühlt, nimmt er nur diesen wichtig. Und weil er sich selbst alles bedeutet, lebt er in ständiger Sorge. Er liebt das Leben und das Glück, hat aber nicht die Kraft es festzuhalten. Und die so einseitig geliebte Welt hasst er dafür, dass sie ihn nicht braucht. Er will im Mittelpunkt stehen, obwohl er weiß, dass er da von Rechts wegen nicht hingehört. Und wenn er an Gott denkt, wurmt es ihn, nicht selber Gott zu sein. Alle denken nur an sich, sagt er, nur ich denke an mich! Und so reiten ihn Angst und Lebensgier immer tiefer in die Selbstabschließung hinein, bis er im gierigen Zugriff auf das Leben dieses Leben verwirkt und schließlich verdient, was ihm am Ende droht…

 

Ja, Sünde ist eine Abwärtsspirale, in die wir mit unserer Geburt hineingeraten, und aus der wir keinen Ausweg finden, wenn der Impuls dazu nicht von außen kommt. Denn die drei genannten Gründe, (1.) dass wir vor allem unsere eigenen Nöte spüren, (2.) dass wir unseren Lebensbedarf Anderen streitig machen müssen und, (3.) dass wir, um unsere Schwäche und unsere Sterblichkeit wissend, in ständiger Sorge leben – das sind die Gründe, weshalb wir uns vor Gott und dem Nächsten verschließen. Weil das aber nicht den Charakter einer freien Entscheidung, sondern eines Verhängnisses hat, ist der Begriff der Erbsünde völlig berechtigt. Man kann zwar konkrete Schuld nicht erben. Aber die Neigung, durch eigene Sünde schuldig zu werden, bestimmt uns von Anfang an. Keiner muss sich erst entschließen, ein Sünder zu werden, sondern sobald wir Bewusstsein entwickeln, finden wir uns so vor. Sünde ist kein individuelles Versäumnis, sondern ein generationsübergreifendes Verhängnis, dessen Wurzeln tief in unsere Naturanlagen hinabreichen. Und darum ist Sünde auch kein Merkmal, das die „bösen“ von den „guten“ Menschen unterscheiden würde, sondern der Normalzustand aller Menschen, die in diese Welt geboren werden. Sie ist als gefallene Schöpfung stets eine fatale Mischung aus „Gottes Werk“ und „Teufels Beitrag“ – und wir sind es auch. Wir werden in eine Situation hinein geboren, in der wir nicht anders können, als so viel Schuld anzuhäufen, dass wir das geliehene Leben verdientermaßen wieder verlieren. Wir werden mit hineingezogen in das Verhängnis, das mit Adam und Eva begann, bis jeder ganz persönlich den Beweis erbringt, dass er von derselben Art ist, wie diese beiden. Und ertragen kann man diese Selbsteinschätzung nur, weil Gott sich die Tragödie des Menschen nicht unbegrenzt anschauen wollte, sondern ihr eine unverhoffte Wendung gegeben hat. Paulus schreibt in Römer 5:

„Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.“ Dem Verhängnis in Adam stellt Paulus dann aber sogleich die Rettung in Christus gegenüber und sagt: „Wenn durch die Sünde des Einen die Vielen gestorben sind, um wie viel mehr ist Gottes Gnade und Gabe den Vielen überreich zuteil geworden durch die Gnade des einen Menschen Jesus Christus (…) Denn das Urteil hat von dem Einen her zur Verdammnis geführt, die Gnade aber hilft aus vielen Sünden zur Gerechtigkeit.“

Nur weil Adam Christus gegenübersteht, treibt uns die Betrachtung der Erbsünde nicht zur Verzweiflung. Und wenn es auch wahr ist, was ich über die schicksalhafte Schuld des Menschen sagen musste, so ist es doch – Gott sei Dank! – nur die halbe Wahrheit über den Menschen. Soweit wir im Glauben stehen, sind wir nicht mehr „in Adam“, sondern sind „in Christus“ und dürfen uns der Zusage freuen, dass wir nicht mit Adam sterben, sondern mit Christus leben werden!

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Muzyka pól (Autoportret)

Jacek Malczewski, Public domain, via Wikimedia Commons