Selbsterkenntnis am Gegenüber
Können sie sagen, wer das maßgebliche Gegenüber ihres Lebens ist? Wessen Urteil zählt für sie? Wer ist ihnen so wichtig, dass sein Lob sie wirklich freut – und seine Kritik sie wirklich betrübt? Vielleicht denken sie, das sei eine seltsame Frage. Doch ist sie entscheidend für unser Selbstverständnis und unsere Identität. Denn ein Mensch erkennt sich selbst auf die Weise, dass er beobachtet, wie andere auf ihn reagieren. Es ist uns wichtig, was andere von uns halten. Und wenn auch nicht die Meinung aller zählt, so gibt es doch jene, die mein maßgebliches Gegenüber sind, und von deren Wertschätzung abhängt, wie ich mich selbst bewerte. Um sich selbst ins Auge zu schauen, braucht der Mensch einen Spiegel. Der Spiegel zeigt mir das Bild, das ich nach außen hin abgebe. Und will ich nicht bloß mein Gesicht sehen, sondern mein inneres Wesen, so müssen mir andere Menschen widerspiegeln, wer ich für sie bin. Denn meine eigene Wirklichkeit erfahre ich durch meine Wirkung auf andere. Schon ein Säugling kennt sich nicht „einfach so“. Er kann aber der zärtlichen Fürsorge seiner Mutter entnehmen, dass er wohl etwas Wertvolles sein muss. Wenn das Kind später etwas zerschlägt, erfährt es nicht anders als durch die Reaktion der Eltern, dass es etwas falsch gemacht hat. Und wenn ein Mädchen heranwächst, kann sie irgendwann an den Blicken der Jungs ablesen, ob sie schön ist oder nicht. Immerzu treffen wir Menschen, die uns schätzen oder missbilligen, suchen oder meiden, bewundern oder belächeln. Manche verstummen, wenn wir den Raum betreten, und andere strahlen uns an. Eben daraus aber, was und wer wir „für die anderen“ sind, leiten wir ab, wer wir überhaupt sind. Wir brauchen zur Selbstwahrnehmung diesen Spiegel des Gegenübers. Welches Gegenüber dafür aber maßgeblich ist, verändert sich mit der Zeit. Denn der Jugendliche will bei der Clique seiner Altersgenossen gut ankommen. Der Student möchte den Professor beeindrucken. Und der ehrgeizige Angestellte seinen Chef. Was der Pförtner sagt, zählt demgegenüber wenig – denn nicht alle Meinungen fallen ins Gewicht! Ist der Mensch aber verliebt, will er seiner Herzensdame gefallen. Und spielt er Fußball, will er bei den Vereinskameraden etwas gelten. Die ich heimlich bewundere, deren Urteil wiegt schwer. Und von denen, die ich respektiere, will ich auch selbst respektiert werden. Meine Selbstachtung hängt an der Achtung derer, die mir wichtig sind. Denn wer wäre ich schon, wenn ich‘s nicht für jemanden wäre? So spielt sich unser Leben vor den Augen der anderen ab, als stünden wir auf einer Bühne. Doch wer ist das maßgebliche Publikum? Für wen spielen wir das Schauspiel unseres Lebens? Wen wollen wir beeindrucken und wem etwas beweisen? Es gibt Menschen, die sich ein Leben lang nach der Anerkennung eines strengen Vaters sehnen, und andere, die zeitlebens mit einem bestimmten Rivalen konkurrieren. Manche umgeben sich mit Hilfsbedürftigen, weil sie das Gefühl brauchen, von denen gebraucht zu werden. Und mancher hat nur deshalb einen Hund, damit er jemandes „Herr“ sein kann. Verliert der Mensch sein gewohntes Publikum, droht er aber zugleich seine Identität zu verlieren. Denn was bleibt von einer schönen Frau, wenn da weit und breit keine Männer sind, denen sie Eindruck macht? Ohne Schüler ist auch der beste Lehrer kein Lehrer mehr. Und ohne einen Feind kann der wildeste Krieger kein Krieger sein. Im luftleeren Raum ist keiner etwas. Man ist auch nicht vor sich selbst stolz und schämt sich nicht vor sich selbst, sondern vor den Instanzen, deren Wertmaßstäbe man anerkennt. Und so ist unser Leben auf ein Publikum berechnet, das möglichst nicht „Buh“ rufen soll. Doch welches ist das? Sind es die Nachbarn, die sehen, wie mein Garten verlottert? Ist es die eigene Ehefrau, bei der ich nicht in Ungnade fallen will? Oder ist es das Lob eines Vorgesetzen, das mir den Tag versüßt? Gewiss kann man es nicht allen recht machen – das wäre zu anstrengend! Wie wählt man dann aber die Richtigen? Oder ist es überhaupt schon ein Fehler, auf das Urteil anderer etwas zu geben? Sind Menschen überhaupt kompetent, für andere das maßgebliche Publikum zu sein? Ist es wirklich wichtig, ob sie mich „toll“ finden – oder ich sie? Sind wir füreinander Punktrichter wie in einer Castingshow? Oder ist es am Ende Gott allein, dessen Urteil zählt? In dem Fall sollten wir uns wohl darum kümmern, ob wir Gott gefallen. Und das wäre tatsächlich klug! Denn all die Menschen, deren Meinung wir fürchten, werden bald neben uns auf irgendeinem Friedhof liegen und schweigen. All die ungefragten Kritiker, deren Kommentare wir jetzt wichtig genug nehmen, um verletzt oder geschmeichelt zu sein – die sind bald alle vergessen. Und im Jüngsten Gericht wird nicht mein Arbeitgeber über mich urteilen, nicht die Schwiegermutter oder der Schwager. Sondern wenn’s drauf ankommt, werden die genauso betreten schweigen wie ich selbst, weil in letzter Instanz nur Gottes Meinung zählt. Was er von uns hält, wird gelten in Ewigkeit. Gottes Urteile sind in Stein gemeißelt. Niemand holt da noch eine zweite Meinung ein! Und darum ist Gott nicht erst am Ende, sondern schon jetzt das eigentlich relevante Publikum unseres Lebens. Wenn wir wissen wollen, wer wir wirklich sind, ist Gott der Spiegel, der über unsere Verfassung untrüglich Auskunft gibt. Denn Thomas von Kempen sagt völlig zurecht: „Was der Mensch in Gottes Auge ist, das ist er, und mehr ist er nicht.“ Gott ist die Öffentlichkeit, vor der sich unser Leben abspielt. Nur er kann uns den Applaus spenden, auf den es ankommt. Und sollte der ausbleiben, hätten wir die Bühne umsonst betreten. Wenn‘s aber so ist: Warum sind wir dann ständig damit beschäftig, der Welt zu gefallen und Menschen zu beeindrucken, die doch ebenso große Narren sind wie wir selbst? Leben wir nicht unter falschen Voraussetzungen, wenn wir versuchen einander zu imponieren auf dem großen Jahrmarkt der Eitelkeiten? Die braven Schüler schauen, ob sie vom Lehrer ein Sternchen bekommen, und die frechen wollen mit Frechheit ihre Freunde beeindrucken. Männer haben Angst, sich vor Kollegen zu blamieren. Und Frauen sorgen sich um das Geschwätz der Nachbarn. Wehe, wenn uns die Welt mal nicht von unserer Schokoladenseite sieht – da fallen wir gleich in Depressionen. Aber die Missbilligung Gottes kümmert die Wenigsten! Hat einer Unkraut im Garten, Läuse auf dem Kopf oder Schulden bei der Bank, will er vor Scham im Boden versinken. Aber was ihn vor Gott blamiert, daran stört er sich gar nicht. Das ist kurzsichtig – und muss dringend korrigiert werden! Denn kein Mensch ist das maßgebliche Gegenüber unseres Lebens, sondern Gott allein. Nur er kann uns direkt ins Herz sehen. Nur sein Urteil hat ewige Konsequenzen. Und darum weiß kein Mensch, wer er wirklich ist, wenn er nicht weiß, wer er in Gottes Augen ist. Nur dann sehen wir uns realistisch, wenn wir erkennen, wie wir unter Gottes Augen von seiner Gnade leben und auf ihn hin sterben. Und so ist die Verantwortung, die zählt, die Verantwortung vor ihm. Was ich über sie denke, und sie über mich – danach fragt bald keiner mehr. Es weiß ohnehin niemand, wie es sich anfühlt, in den Schuhen des anderen zu gehen! Was aber Gott von uns hält, wird in Ewigkeit wichtig sein. Und so lebt jeder verkehrt, der sich für Seinesgleichen zum Kasper macht. Traurig ist es anzusehen, wie Menschen für ein bisschen Applaus und ein bisschen Liebe fast alles tun! Sie verkrümmen sich, um gemocht zu werden, und sind doch immer arm dran, solange sie vom schwankenden Beifall ihrer Mitmenschen leben. Wär’s also nicht klüger, wenn wir Gott zu Gefallen lebten, und nur auf die Resonanz achteten, die wir bei ihm haben? Nur sein Urteil kann uns selig machen oder verdammen. Denn sein Leben zu verantworten, heißt zwar jemandem Antwort zu stehen, der mich auf meine Lebensführung hin befragt. Doch zu solcher Nachfrage berechtigt ist nur der, der mir dies Leben gab. Und das waren nicht meine Freunde, der Arbeitgeber, der Staat oder die Kirche – sondern Gott allein. Was soll also das Schaulaufen vor anderen Menschen? Und warum soll einer über das Stöckchen springen, das ihm die anderen hinhalten? Was scheren mich die Maßstäbe anderer Leute, wenn es nicht Gottes Maßstäbe sind? Er ist das Gegenüber, auf das es ankommt, und ist der wahre Bezugspunkt unserer Existenz. Denn wir Menschen lieben es zwar, uns gegenseitig zu benoten und einander mit Lob oder Tadel zu versehen – wir glauben so gern, unsere Meinung fiele ins Gewicht! Doch vor Gottes Thron werden die selbsternannten Punktrichter sehr stille sein. Und selig ist dann, wer in Gottes Sinne zu leben wenigstens versucht hat...
Was besagt das aber über das Wesen des Menschen, wenn der Fluchtpunkt menschlichen Lebens in der Verantwortung vor Gott liegt, wenn alles von ihm kommt und auf ihn hinausläuft? Es besagt, dass man das Wesen des Menschen ohne den Bezug zu Gott gar nicht recht in den Blick bekommt – und damit das Mensch-Sein insgesamt missversteht. Denn was Philosophen, Psychologen und Naturwissenschaftler über den Menschen sagen, ist zwar richtig. Es ist aber nie die Hauptsache, die das Mensch-Sein ausmacht. Wohl haben wir Vernunft, Bewusstsein und Sprache. Wir beherrschen den aufrechten Gang, bestehen aus Leib und Seele, haben große Erkenntnis und mancherlei Freiheit – mit alledem unterscheiden wir uns vom Tier. Doch wenn das oben Gesagte stimmt, ist für das eigentliche Wesen des Menschen gar nicht maßgeblich, was uns vom Tier unterscheidet, sondern was uns mit Gott verbindet! Und eben das übersehen Philosophen genauso wie Biologen und Soziologen, denn sie definieren den Menschen nur nach seiner Beziehung zur Welt und zu den Mitmenschen – nicht aber nach seiner Beziehung zu Gott. Martin Luther hat das heftig kritisiert und in der Disputation über den Menschen (1536) dagegen gehalten, das wahre Geheimnis des Menschen liege in seiner Bestimmung zum Ebenbild Gottes. Und dieser Bestimmung werde er nicht anders gerecht als durch das rettende Werk Christi, das ihn so reinigt, heiligt und begnadigt, dass er Gott gefallen kann. Dazu, dass der Mensch vor Gott besteht, wie er bestehen soll, dazu hilft ihm gerade nicht die Vernunft, sondern der Glaube allein, so dass nach Luthers Überzeugung alles am Menschen auf eben diesen Glauben zielt, in dem allein seine Bestimmung zur Erfüllung kommt. Das ist – christlich gesehen – die eigentliche Definition des Menschen, dass er durch Christus gerettet werden soll (Röm 3,32; Disputation über den Menschen, Th. 32). Das ist des Pudels Kern, den nur die Theologie erfasst. Denn Gott will sein durch Sünde verzerrtes Ebenbild im Menschen wiederherstellen und es – so erneuert – im Himmel vollenden. Der Mensch, der wir heute sind, ist aber nur die Vorstufe jener künftigen, viel herrlicheren Gestalt, und ist darauf angelegt, durch Gottes Gnade neu zu werden. Es ist demnach das verborgene Wesen und die wahre Definition des Menschen, dass er – von Anfang an auf Gott bezogen – sich nicht anders als in und durch Christus auf Gott hin vollendet. Und gerade so sehr, wie er in versöhnter Gemeinschaft mit Gott steht, so nah ist er auch diesem Ziel.
Wer sind wir also? Unsere Vernunft ist da überfragt. Doch Gottes klare Antwort können wir dem Evangelium entnehmen. Denn das ist der Spiegel, in dem wir uns richtig sehen. Da spricht Gott: „Du bist mein Kind, egal was die anderen sagen. Und bist du auch tief in den Dreck gefallen und mit Schuld besudelt, bist du es mir doch wert, dass ich mich in Christus ganz tief nach dir bücke. Du bist wahrlich noch weit entfernt von dem, was du sein sollst, und verstehst dich selbst nicht recht. Aber du bist es mir wert, dass ich meinen Geist sende, dich zu erleuchten. Du bist gewaltig in die Irre gelaufen, ich aber habe dein Ziel nicht vergessen. Du hast mich schwer beleidigt, aber ich will es in Ordnung bringen. Und bist du auch mit dir selbst nicht im Reinen, so habe ich doch noch Großes und Gutes mit dir vor.“ Da spiegelt sich in Gottes Wort, wer wir wirklich sind: wir sind Gegenstand seiner treuen Fürsorge! Das ist die Resonanz, die wir bei Gott haben! Und erst durch sie erfahren wir die Wahrheit über uns und schauen verwundert in diesen Spiegel. Denn wir sind momentan zwar nur das Material zu dem Menschen, der wir werden sollen – ein grober Entwurf zu etwas, das noch nicht erschienen ist (1. Joh 3,2; Röm 8,19). Doch Gott hält es der Mühe für wert, mit dem Aufwand seiner Liebe an uns zu arbeiten. Er bleibt uns zugewandt. Er zieht seine Hand nicht ab. Und das zu wissen, ist doch recht besehen nicht wenig. Denn bei diesem Gott, der uns kennt, finden wir zu uns.
Bild am Seitenanfang: Le grand juge
James Ensor, Public domain, via Wikimedia Commons