Sind wir Sünder "von Natur"?
Ich sprach kürzlich mit jemand über Jesus. Und ich erwähnt beiläufig, dass er ohne Sünde war. Mein Gegenüber machte aber ein ungläubiges Gesicht dazu und meinte, so ganz ohne Sünde sei Jesus doch wohl ein ziemlich seltsamer und „künstlicher“ Mensch gewesen, denn Sünder zu sein, läge dem Menschen schließlich in der Natur. Ich wunderte mich über den Einwand. Denn das Neue Testament ist in diesem Punkt völlig klar. Jesus kannte zwar Versuchungen, ist ihnen aber nicht erlegen (Mt 4,1-11), d.h. er war ohne Sünde (Hebr 4,15). Seine Gehorsam dem Vater gegenüber wurde schwer angefochten, Jesus ist aus diesem Gehorsam aber nie ausgebrochen (Mt 26,36-46). Niemand konnte ihm irgendetwas vorwerfen, denn er wusste von keiner Sünde (Joh 8,46). Er hatte kein Unrecht getan (2. Kor 5,21; 1. Petr 2,22; 1. Joh 3,5), kein Betrug war in seinem Mund (Jes 53,9) und keine Bosheit in seinem Herzen. Denn wie anders hätte Gottes Sohn auch mit dem Vater „eins“ sein und die Menschheit erlösen können (Joh 10,30)? Wie sollte einer das Übel der Sünde überwinden, wenn er selbst davon infiziert wäre (Joh 8,34)? Wie sollte Christus die Last fremder Schuld auf sich nehmen, wenn er schon an der eigenen zu tragen hätte? Und wie könnte Christus stellvertretend unseren Tod erleiden, wenn er – um eigener Sünde willen – zu sterben schuldig wäre? Wie könnte er Gnade zusagen, wenn er unter dem Zorn stünde? Wie könnten wir an seiner Gerechtigkeit teilhaben, wenn er ungerecht wäre? Oder wie könnte er uns heiligen, ohne selbst heilig zu sein? Anders als sündlos hätte er den Sündern nicht zu helfen vermocht! Und trotzdem meinen manche, ein Mensch ohne Sünde sei etwas Seltsames und geradezu Unnatürliches. Denn außer diesem „Sonderfall“ kennen wir keinen. Und so kommt uns Jesus vor wie eine kuriose Ausnahme von der Regel. Wir geben vielleicht zu, dass er weit über uns steht. Aber das ganz normale Sünder-Sein scheint uns für gewöhnliche Menschen viel naheliegender als das hohe Ideal. Und so fühlen wir uns mit unseren Fehlern auch schon halb entschuldigt, weil wir ja nur tun, was alle tun – und man keinem Geschöpf seine Natur vorwerfen kann. Die Katze frisst nun mal Mäuse. Der Haifisch hat seine Zähne nicht umsonst. Und dem Wolf vorzuwerfen, dass er Appetit auf Lämmer verspürt, macht wenig Sinn. Denn wer kann schon etwas für seine Natur? Hat Gott den Löwen nicht zum Raubtier geschaffen – und den Mensch fehlbar und schwach? Geschichte und Gegenwart scheinen zu beweisen, dass der Mensch gar nicht anders kann. Und der Darwinismus scheint zu belegen, dass sowieso immer einer auf Kosten der anderen lebt. Wir erklären das gern zum „Gesetz der Natur“ – und behaupten im nächsten Schritt, Gott sei an allem selbst schuld, denn er habe uns ja mit bösen Neigungen geschaffen. Das ist dann super-bequem! Denn Natur ist Natur. Und niemand kann etwas dagegen tun. „Im Einklang mit der Natur“ wollen schließlich alle sein! Und nur dieser komische Jesus mit seinen vielen Tugenden wirkt dabei wie ein ganz unnatürlicher und künstlicher Mensch. Etwa so, wie ein Jongleur mit vier Armen, der zwar tolle Sachen macht, den sich aber niemand ernsthaft zum Vorbild nimmt. Doch merken sie, wohin das führt? Es klingt wie Realismus – und scheint dasselbe zu sagen wie die alte Lehre von der Erbsünde: Der Sünde entkommt keiner. Sie haftet uns schon an, wenn wir geboren werden. Und doch ist es in dieser Form ein fataler Irrtum, dem man widersprechen muss. Denn auch wenn die Sünde zur Regel wurde, ist sie doch nicht unsere „Natur“, sondern unsere „Unnatur“. Auch wenn das Böse durch seine Verbreitung „normal“ erscheint, wird es dadurch nicht zur Norm, sondern bleibt ein Verstoß gegen die Norm. Selbst wenn eine Krankheit auf einen Schlag alle Menschen erfasste, würde sie dadurch nicht zu einem Teil der menschlichen Natur. Und wenn ausnahmslos alle Männer ihre Frauen schlügen, würden wir daraus doch nicht folgern, das läge in der Natur des Mannes, sondern würden Einspruch erheben. Denn was die Natur des Menschen ausmacht, ist nicht einfach an der gängigen Praxis abzulesen, sondern unsere wahre Natur besteht in dem, was sich Gott bei der Erschaffung des Menschen gedacht hat – und worin bis heute sein Ziel liegt: Dass wir nämlich Gott im Guten entsprechen und mit ihm im Frieden leben sollen. Das ist unsere Berufung! In Gerechtigkeit und Liebe, Sanftmut und Barmherzigkeit liegt unsere wahre Bestimmung! Und je näher wir der kommen, umso menschlicher sind wir. Sünde aber ist (ganz im Gegenteil) Trennung von Gott, Widerspruch, Egozentrik und Bosheit. Sie entstellt, verzerrt und verdeckt, was wir dem Wesen nach sind. Und blieben wir ihr ewig verhaftet, könnte aus der Gemeinschaft mit Gott überhaupt nie etwas werden – ja, gehörte die Sünde tatsächlich zum Wesen des Menschen, könnten wir gar nicht von ihr erlöst werden, ohne zugleich unser Wesen einzubüßen. Selbst Gott könnte uns nicht von ihr befreien, ohne unsere Natur zu zerstören – und das Versprechen des Evangeliums bliebe uneingelöst! Ist es aber nach biblischem Zeugnis wirklich Gottes Absicht, die Sünde zu überwinden, abzuwaschen und zu tilgen, so kann die Sünde nicht der Mensch selbst und nicht unablösbar von ihm sein. Denn die Person des Sünders will Gott in seiner Gnade annehmen, die Sünde aber kann er keinesfalls annehmen. Und darum müssen wir hier den Unterschied zwischen wesentlichen und zufälligen Eigenschaften beachten. Zum Wesen eines Tisches gehört, dass er eine Tischplatte und Beine hat. Das ist die Definition des Tisches. Ob er aber grün oder rot angestrichen wurde, ist zufällig und ändert an seinem Wesen gar nichts. Der Tisch würde auch nicht aufhören ein Tisch zu sein, wenn man ihn blau striche. Die Farbgebung berührt sein Wesen nicht. Er würde aber aufhören ein Tisch zu sein, wenn alle Beine fehlten und nur eine Platte bliebe, an der keiner sitzen kann. Was folgte daher, wenn die Sünde so zum Wesen des Menschen gehörte, wie die Beine zum Tisch? In dem Fall würde der Mensch aufhören Mensch zu sein, sobald ihm die Sünde fehlte. Und das hätte absurde Folgen. Denn natürlich kann es in Gottes Reich keine Sünde geben. Und ein Mensch, der an seinem Lebensende trotzdem in den Himmel wollte, müsste dazu aufhören Mensch zu sein. Er käme nur zu Gott, wenn er durch den Verlust der Sünde das menschliche Wesen verlöre und sich in etwas Nicht-Menschliches verwandelte. Entnehmen wir der Bibel aber, dass die Seligen im Himmel ohne Sünde und doch immernoch Menschen sind, so kann die Sünde nicht zum Wesen des Menschen gehören, denn sonst müsste die himmlische Vollendung mit der Sünde auch das Mensch-Sein beenden. Der falsche Gedanke hat noch weitere Konsequenzen. Denn wenn die Sünde zu unserem Wesen gehörte, wäre sie zugleich entschuldigt, weil man niemand seine Natur vorwerfen kann. Und alle biblischen Rufe zur Buße wären sinnlos. Denn die Sünde wäre unüberwindlich wie ein Webfehler im Schöpfungsplan. Gott selbst könnte den Fehler nicht tilgen, ohne den Menschen selbst zu tilgen. Und wir sehen daran einmal mehr, dass Mensch-Sein und Sünder-Sein nicht dasselbe sein kann. Denn Gott hat den Menschen geschaffen, der Teufel aber die Sünde – und man darf beides nicht so durcheinanderwerfen, als ob der Mensch des Teufels Werk wäre, oder die Sünde das Werk Gottes. Zum selben Schluss kommen wir auch, wenn wir an die Menschwerdung Christi denken. Wenn Mensch-Sein und Sünder-Sein dasselbe wäre, hätte Christus nicht Mensch werden und dabei Gott bleiben können. Denn Gottheit und Menschheit wären nicht kompatibel und ließen sich unmöglich in einer Person verbinden, weil sich Göttliches mit Widergöttlichem nicht verträgt. Die Menschwerdung Christi hätte nie stattgefunden, weil Gott sich unmöglich darauf einlassen kann, ein Sünder – und damit gegen sich selbst zu sein. Wäre also zwischen der menschlichen Natur und der Sünde kein Unterschied, hätte Christus entweder nicht Mensch werden können, oder hätte sich mit der menschlichen Natur zugleich die Sünde aneignen müssen – was beides der Hl. Schrift widerspricht. Und ich füge noch eine weitere absurde Folge hinzu. Denn wenn die Sünde zum Mensch-Sein gehörte, müsste man, um den Menschen zu lieben, auch die Sünde lieben. Wollte man einen Mensch auch nur akzeptieren, müsste man (als natürlichen und notwendigen Bestandteil seiner Person) auch die Sünde akzeptieren. Könnte man die aber nicht mit umarmen und bejahen, weil sie in Wahrheit hässlich, abscheulich und böse ist, müsste man, indem man die Sünde ablehnt, zugleich auch den Menschen ablehnen – denn die Sünde gehörte ja zu seiner Natur. Wer nicht beide annehmen wollte, müsste beide verwerfen. Und mit der Menschenliebe wäre es endgültig vorbei. Wie man den Gedanken auch wendet, man kommt immer in größte Schwierigkeiten! Und umso freundlicher erscheint der biblische Standpunkt, der sich den Menschen auch ohne Sünde denken kann, und ihn nicht darauf festlegt, Sünder bleiben zu müssen. Denn da denkt man ähnlich wie ein Ehemann, dessen schöne Frau von einem hässlichen Ausschlag entstellt ist. Dieser Mann liebt ganz gewiss seine Frau, er liebt aber darum nicht auch ihren Ausschlag, sondern unterscheidet die geliebte Natur von der kranken Erscheinung und hasst die Krankheit umso mehr, je mehr er seine kranke Frau liebt. Voller Liebe käme er niemals auf die Idee, die Krankheit gehörte zur Natur oder zum Wesen seiner Frau! Nein, er hält das auseinander – er wünscht es gedanklich wie praktisch zu trennen! Und ebenso müssen wir‘s beim Menschen tun. Denn glücklicherweise gehört die Sünde nicht so zu uns, wie die Beine notwendig zum Tisch gehören, sondern sie haftet und klebt an uns wie eine hässliche Farbe, die ursprünglich nicht da war – und die sich mit Gottes Hilfe auch durchaus wieder entfernen lässt. Sünde ist nicht unsere Natur, sondern unsere Unnatur, nicht unser Wesen, sondern gerade die Entstellung des guten Wesens, das Gott uns gegeben hat. Und sie wird auch durch noch so allgemeine Verbreitung nicht „normal“. Denn dass Mensch-Sein ohne Sünde möglich ist, hat Jesus hinreichend bewiesen. Und jeder kann an ihm ablesen, wie das wahre Mensch-Sein aussieht, das wir sonst nur in getrübter und entstellter Form kennen. Christus ist der neue Adam, und in ihm soll unser geschädigtes Menschenwesen erneuert werden, damit so, wie durch Adams Ungehorsam die vielen zu Sündern wurden, nun durch den Gehorsam Christi die viele zu Gerechten werden (Röm 5,18-19). Was in Adam zerstört wurde, wird in Christus wiederhergestellt. Und wie uns das, was uns mit Adam verbindet, zur Verdammnis gereicht, so wird uns das, was uns mit Christus verbindet, retten. Denn Christus ist das wahre Ebenbild des Vaters (2. Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3) und zugleich das unverstellte Bild des Gott entsprechenden Menschen. Und diesem, vor dem Erscheinen Christi unkenntlich gewordenen Bild, sollen wir als Christen nun immer ähnlicher werden (Röm 8,29; 2. Kor 3,18). Christus zeigt uns, wie Mensch-Sein eigentlich geht, und wie das aussieht, wenn einer im vollen Sinne die menschliche Bestimmung erfüllt. Zum ersten Mal seit dem Verlust der Unschuld führt uns Christus vor Augen, wie schön der aufrechte Gang sein kann. Denn die Liebe, Demut und Heiligkeit, die Jesus forderte, hat er immer auch vorgelebt – und war damit gerade kein „künstlicher“ oder „gekünstelter“, sondern der erste echte Mensch nach Gottes Wohlgefallen. Jesus Christus ist gerade nicht „aus der Art geschlagen“, sondern zeigt, was die wahre Art des Menschen ist. Und darum deutet Pilatus nicht zufällig auf Christus und sagt: „Seht, welch ein Mensch!“ (Joh 19,5). Er spricht eine größere Wahrheit aus, als er selbst versteht. Denn was er vor sich hat, ist der erste nicht entstellte Mensch – und somit der Maßstab alles wahren Mensch-Seins. Doch was geht uns das alles an? Leicht könnte jemand denken, wir behandelten akademische und abstrakte Fragen. Doch hätte er übersehen, dass in diesen Überlegungen für jeden von uns eine gute Nachricht enthalten ist, die lautet: Du bist zwar faktisch ein Sünder, bist es aber nicht notwendig. Du bist es jetzt, musst es aber nicht ewig bleiben. Denn wie halbherzig und unaufrichtig, lieblos, zornig und gierig du auch sein magst – du bist es doch nicht „von Natur“, und der ganze Schmutz gehört nicht etwa so zu deinem Wesen, dass eine Reinigung unmöglich wäre. Sondern, lieber Mensch, potentiell bist du viel toller, als du es heute zu träumen wagst. Du bist nicht mit deinen Fehlern identisch, und deine Verwerfung ist nicht unentrinnbar. Sondern Gott unterscheidet bereitwillig deinen faktisch so traurigen Zustand von der guten Bestimmung, die er dir gab. Er hat keineswegs vergessen, wie er dich ursprünglich gemeint hat. Und darum legt er dich auch nicht auf das Sünder-Sein fest, sondern ist bereit, deine Person von deiner Sünde zu unterscheiden, um anschließend deine Sünde zu verwerfen, dich als Person aber in Gnaden aufzunehmen. Und das ist nur möglich, weil du in seinen Augen mehr bist, als du heute darstellst und an dir selbst sehe kannst. Du bist zwar faktisch verkehrt, aber nicht notwendig, bist im Moment entstellt, sollst es aber nicht bleiben – und musst darum nicht glauben, „unrecht“ zu sein, wäre dein Wesen oder deine Natur. Denn Gott hat bessere Pläne mit dir. Für alle, die schon mal an sich selbst verzweifelt sind, ist es wichtig und gut, sich das klar zu machen. Mit Gottes Hilfe können wir anders werden – und kaum zu glauben: durch Gottes Gnade sollen wir einmal Christus sehr ähnlich werden. Gottes Geist arbeitet an uns, um diese grandiose Wandlung hinzubekommen. Er arbeitet daran, uns zu wahrhaften Menschen zu machen – zu solchen, die gerecht und gut sind, wahrheitsliebend und treu, demütig und barmherzig wie Christus selbst! Am Ende sollen wir mit Christus „eins“ sein, wie er „eins“ ist mit dem Vater (Joh 17,21-23)! Wir aber wollen es ihm danken in Ewigkeit.
Bild am Seitenanfang: The Sin
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