Der Inhalt der Bibel
Legen wir die Bibel aus – oder legt sie uns aus?
Viele Menschen denken, als Christ lese man die Bibel, um sie zu „interpretieren“, und das Ringen um die richtige Interpretation sei ein wesentliches Anliegen des Glaubens. Aber stimmt das? Ich zumindest fühle mich dabei missverstanden. Denn es verhält sich eher umgekehrt: Es ist nicht der Gläubige, der die Bibel deutet, sondern es ist die Bibel, die den Gläubigen deutet. Nicht wir tragen das Licht sinnvoller Interpretation in dunkle Bibelworte hinein. Sondern das biblische Wort erhellt und interpretiert das Dasein seiner Leser. Nicht wir legen aus, sondern wir werden ausgelegt. Denn wer die Bibel mit offenen Augen liest, dem erzählt sie nicht ihre Geschichte, sondern dem erzählt sie seine Geschichte.
Ja, tatsächlich: Auch wenn da von Abraham, Jona, Petrus und Judas gesprochen wird, deckt dieses Buch doch die Wahrheit auf über – mich. Wie aber ist das möglich, wenn ich doch als Individuum in der Bibel gar nicht vorkomme? Es ist möglich, weil die Bibel den großen geschichtlichen Zusammenhang aufzeigt, in den meine kleine, persönliche Geschichte eingebettet ist, und von dem her sie ihre Deutung empfängt.
Schließlich kann nichts unabhängig von seinem Kontext verstanden werden. Ich bin, was ich bin, im Zusammenhang vieler Beziehungen. Und ich muss den großen Gesamtzusammenhang dieser Beziehungen verstehen, um meine Rolle in ihm (und damit mich selbst) verstehen zu können. Was aber sollte der Gesamtzusammenhang meines Lebens sein, wenn nicht die Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung?
Eben diese allumfassende Geschichte, die auch meine Geschichte ist, erzählt die Bibel. Sie beschreibt den Kontext meines Daseins, den Horizont in dem es gedeutet werden kann. Und sie erhellt dabei nicht nur meine Herkunft, sondern auch meine Zukunft. Denn sie macht mich vertraut mit der Intention meines Schöpfers, der mich über den heute erreichten Punkt noch weit hinausführen will.
Mancher wendet ein, es gebe da in der Bibel nicht bloß eine Geschichte, sondern viele. Das Ganze sei auch ziemlich unübersichtlich. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn recht betrachtet ist die Bibel keineswegs vieldeutig, sondern ist in allem Wesentlichen klar – so klar, dass man den Kern ihrer Geschichte (unserer Geschichte!) auf einer einzigen Postkarte zusammenfassen kann. Man glaubt mir nicht? Ich soll es beweisen? Kein Problem! Auf meiner Postkarte stehen als „Inhaltsangabe“ der Bibel nur zehn Sätze:
Wer will, kann es nun ausprobieren: Diese zehn Sätze lassen sich auf einer Postkarte unterbringen. Und – als Lesezeichen in die Bibel gelegt – können sie helfen, den Überblick zu behalten. Denn sie skizzieren die eine, zentrale Geschichte, die sich in der Vielzahl biblischer Geschichten abbildet. Sie beschreiben das Grundmotiv, das die Heilige Schrift hundertfach variiert. Und damit ist mehr gewonnen, als nur eine „Lesehilfe“. Denn wenn, wie oben behauptet, die Geschichte Gottes mit den Menschen den Kontext unseres Lebens bildet, dann sind jene zehn Sätze auch der Deutungshorizont jedes individuellen Daseins. Mit anderen Worten: Sie enthalten die maßgebliche Interpretation des Rätsels, das ich bin. Die Bibel legt aus, was am Menschen unverständlich ist. Sie erhellt den Sinn und das Ziel seiner spannungsvollen Existenz. Und sie benennt dabei die vier Eckpunkte christlicher Gottes- und Selbsterkenntnis:
Sie konfrontiert uns mit Gottes ZORN. Denn Gott hat Grund, die Geschöpfe zu verneinen, deren Leben ihn verneint. Und sie bezeugt zugleich Gottes GNADE, weil Gott einen Weg findet, uns dennoch zu bejahen. Am Menschen macht sie die SÜNDE sichtbar, als fatale Verstrickung in das gottwidrig Böse. Und zugleich macht sie am Menschen auch die Möglichkeit des GLAUBENS offenbar, wenn er sich gefallen lässt, was Christus für ihn tat. Wem die Postkarte noch zu groß wäre, der könnte diese vier Begriffe auf eine Briefmarke schreiben, und hätte damit die biblische Botschaft maximal komprimiert. Doch darauf kommt es nicht an.
Vielmehr: Wer sich die Botschaft gesagt sein lässt, und somit die Bibel als seine Geschichte liest, der deutet nicht mehr, sondern sieht sich gedeutet. Sein Dasein hat eine sinnvolle Interpretation und eine verbindliche Auslegung erfahren. Die Bibel hat ihn der Wahrheit überführt und hat ihm für seinen weiteren Weg eine der Intention Gottes entsprechende Richtung gewiesen. Diese Wahrheit aber gelten zu lassen, der Wegweisung zu folgen und die große „Unterscheidung“, auf die es Gott abgesehen hat, täglich zu leben (Eph 4,22–24!) – das ist der Glaube, zu dem uns die Schrift einlädt. Wer sich auf diesen Glauben einlässt, der verwirft an sich selbst, was Gott verwirft, und bejaht an sich selbst, was Gott bejaht. Er versucht schon heute zu scheiden, was in Gottes Reich einmal vollends getrennt sein wird. Und die Bibel hilft ihm dabei. Denn nicht die Bibel ist ein Rätsel, das der Mensch lösen müsste, sondern der Mensch ist sich selbst ein Rätsel, dessen Lösung ihm die Bibel verrät.
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Nicholas Roerich, Public domain, via Wikimedia Commons