Wissenschaft, Vernunft und Zweifel
Kann die Suche nach Wahrheit von Gott entfernen?
Die Frage nach der „Wahrheit“ ist heute schwerer zu beantworten als je zuvor. Und dass nicht nur, weil in unserer Zeit strittig ist, welche Weltanschauung oder Religion die Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann – das war immer strittig –, sondern weil schon keine Einigkeit darüber besteht, was Wahrheit überhaupt ist. Ob es nur eine Wahrheit gibt, oder vielleicht ganz viele, ob jeder seine eigene hat, oder ob sie die Konvention einer Gruppe ist, ob es Wahrheit vielleicht gar nicht gibt, und ob sie, wenn es sie gibt, vom Menschen erkannt werden kann – das alles ist höchst umstritten. Fragen sie fünf Gelehrte und sie bekommen zehn verschiedene Meinungen. Die Suche nach der Stecknadel der Wahrheit im Heuhaufen der vielen Behauptungen ist dementsprechend mühsam. Aber andererseits: Können wir die Wahrheitsfrage auf sich beruhen lassen, wenn wir doch Kinder haben, denen wir beibringen sollen, „richtig“ und „falsch“ zu unterscheiden?
Manch einer gibt sich gern tolerant und sagt: „Mein Kind kann glauben und denken, was es will!“ Doch wenn das Kind von dieser Freiheit dann Gebrauch macht und einer finsteren Sekte beitritt – dann ist es mit der Toleranz meist schnell vorbei, und der Streit um die Wahrheit reicht plötzlich bis in die Familie hinein. Denn was sagen wir, wenn die Tochter einen strengen Muslim oder einen Zeugen Jehovas als künftigen Schwiegersohn präsentiert? Wie gehen wir damit um, wenn ein Familienmitglied plötzlich vom Buddhismus fasziniert ist und Meditationszentren besucht? Was machen wir, wenn die eigenen Kinder erklären, sie hätten erkannt, dass es Gott gar nicht gibt? Regen wir uns dann auf, streiten und argumentieren wir? Üben wir uns einfach in großherziger Toleranz oder schimpfen wir auf die modernen Zeiten, die so große Verwirrung unter den Menschen angerichtet haben?
Eins scheint hier so sinnlos wie das andere. Denn wir können unseren Kindern ja nicht Augen und Ohren verschließen, um sie vor der Verwirrung zu bewahren, die aus der Begegnung mit fremden Glaubensweisen resultiert. Mit Scheuklappen durch die Welt zu gehen würde ihnen mehr schaden als nützen. Und wir können auch nicht erwarten, dass die Kinder unseren christlichen Glauben ungeprüft übernehmen – bloß weil wir uns das wünschen.
Nein! Wir müssen ihnen schon das Recht zugestehen, zu fragen, ob’s denn auch wahr ist, was wir da glauben. Sie haben ein Recht, zu prüfen, ob sich nicht anderswo größere Wahrheit findet. Was aber, wenn wir dabei Sorge haben, das christliche Bekenntnis würde vielleicht im babylonischen Stimmengewirr untergehen? Was, wenn falsche Propheten Einfluss auf unsere Kinder gewinnen? Sollen wir dann einfach zuschauen? Weil ich weiß, wie vielen Eltern diese Dinge Kummer bereiten, möchte ich vier Dinge empfehlen: Nämlich die eigenen Zweifel zuzulassen (1.), darauf zu vertrauen, dass die Wahrheit sich selbst durchsetzt (2.), die Suchenden nicht zu bremsen, sondern zu ermutigen (3.), und für die christliche Wahrheit zu werben, indem man sie lebt (4.).
1. Die eigenen Zweifel zuzulassen, ist wichtig, weil sie möglicherweise der Kern des Problems sind. Warum fühlt sich denn einer bedrängt von der Fülle fremder Glaubensweisen um ihn her? Doch nicht bloß, weil es sie gibt, sondern weil in ihm selbst irgendwo ein leiser Verdacht ist, sie könnten Recht haben. Wir schimpfen dann zwar auf die Sekten und die Esoterik, auf die radikalen Islamisten und die rechten Rassisten, die unsere Jugend gefährden. Doch ist dieser nach außen gerichtete Ärger oft Ausdruck eigener Verunsicherung. Und bei Lichte besehen, müssen wir uns eingestehen, dass nicht die Zeugen Jehovas das Problem sind, nicht die Scientologen und die Atheisten, sondern dass die Schwäche unseres eigenen Glaubens das Problem ist – weil nur unsere Schwäche jene Verführer stark und interessant erscheinen lässt.
Warum schließlich scheut jemand die Konfrontation seines Glaubens mit einem fremden Glauben? Ist es nicht deshalb, weil er insgeheim befürchtet, sein christlicher Glaube würde dem Vergleich nicht standhalten? Warum empfinden wir denn die Konkurrenz des Islams, des Buddhismus oder der Scientologen als bedrohlich? Ist es nicht allein darum, weil wir unserer Sache nicht so sicher sind, wie wir es vorgeben?
2. Haben wir uns das erst einmal eingestanden, so gilt es den inneren Widerspruch in dieser Haltung zu erkennen. Denn wer seine Kinder glaubwürdig erziehen will, muss im Blick auf den eigenen Standpunkt Gewissheit haben. Wie aber kann jemand Gewissheit gewinnen, wenn er seine Zweifel nicht überwindet? Wie aber soll er seine Zweifel überwinden, wenn er ihnen ständig ausweicht? Wer vor den eigenen Zweifeln davonläuft, wird sie nicht los!
Will er hingegen Gewissheit finden, so muss er dem Glauben Gelegenheit geben, sich zu bewähren, muss die kritischen Fragen an sich heranlassen, und sich dem Gespräch mit Anders- oder Ungläubigen aussetzen. Der Glaube kann sich schließlich nur als tragfähig erweisen, wenn man ihn solchen Belastungsproben unterzieht. Und davor zurückzuschrecken, wäre gerade kein Vertrauensbeweis.
Denn es gibt in dieser Sache nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist das Evangelium Lug und Trug und Täuschung – dann kann ich nur froh sein, von meinem Irrtum befreit zu werden. Oder es ist wahr, was wir als Christen glauben – und dann wird es sich auch als wahr und verlässlich erweisen. Egal also, wie die Infragestellung meines Glaubens ausgeht – es wird ein gutes Ergebnis sein. Denn entweder werde ich von einem Irrtum befreit. Oder ich werde in meinem Glauben gefestigt. So oder so komme ich der Wahrheit näher. Warum also sollten wir unseren Glauben vor dieser Feuerprobe ängstlich schützen wollen?
Ich empfehle stattdessen – gerade im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen! – mit allergrößter Gelassenheit darauf zu vertrauen, dass sich die Wahrheit von selbst durchsetzt. Denn wenn die christliche Botschaft die Stimme der Wahrheit ist (ja, wenn sie Gottes eigene Stimme ist!), wer könnte sie dann hindern, immer wieder durchzudringen?
Keiner kann‘s. Auch die falschen Propheten vermögen nur, die Wahrheit zeitweise zu verdunkeln und zu vernebeln. Sie vermögen nicht, sie zu ändern. Und darum gilt: Ist das Evangelium wahr, so kann es gar nicht untergehen. Da mögen die Lügen kurze oder lange Beine haben – sie müssen doch irgendwann an der Wirklichkeit zerschellen und müssen dann den Blick freigeben auf das Evangelium, das immer unbeschadet bleibt und sich bewährt, wie hart man es auch prüfen mag.
M.a.W.: Es liegt im Wesen unseres Glaubens, dass er die Wahrheit nicht fürchten muss – und nicht einmal fürchten kann. Denn wenn der Gott, an den wir glauben, der Grund aller Wirklichkeit ist, dann kann der, der in Wahrheit den Grund aller Wirklichkeit sucht, nie etwas anderes finden als Gott. Ist Gott selbst die Wahrheit, so können wir uns, wenn wir uns der Wahrheit nähern, unmöglich von Gott entfernen.
3. Geben wir also unserem Glauben Gelegenheit, sich zu bewähren. Prüfen wir ohne Scheu, ob’s denn auch wahr ist. Und ermuntern wir auch unsere Kinder dazu. Denn wenn einer auszieht, um nach der Wahrheit zu forschen – sollten wir ihn dann ängstlich zurückhalten, als wäre außerhalb der Kirchenmauern nicht mehr Gottes Land? Nein. Gott ist der Grund der Wirklichkeit, dessen ein Mensch zwangsläufig angesichtig wird, wenn er Irrtum, Trug und falschen Schein hinter sich lässt. Darum dürfen wir ganz gelassen sein, wenn jemand aufbricht ins Land der Vernunft, der Forschung und der kritischen Reflektion. Und statt ihn zu bremsen, sollten wir ihn sogar darin bestärken, dass er möglichst kritisch, vorbehaltlos und radikal alles prüfen – und nur das Beste behalten soll.
Denn wenn einer von seiner Vernunft konsequent Gebrauch macht, wird die Vernunft selbst ihn dahin führen, wo die Vernunft an ihre Grenzen stößt und auf den Glauben verweist. Und wenn er alle Religionen dieser Welt kennenlernt, so wird er doch keine finden, die tiefer von Gottes Zorn und Gottes Liebe zu zeugen vermag als das Christentum. Warum also sollten wir Mauern errichten, um unseren Glauben abzuschotten? Hat er das nötig? Was könnte die Wahrheit gefährden, welche Konkurrenz müsste sie fürchten, welchen Vergleich scheuen? Vertrauen wir ruhig auf die Selbstdurchsetzungskraft der Wahrheit, die keine Reservate braucht, keine Krücken und keine Empfehlungsschreiben, sondern selbst die Kraft hat, Menschen zu entwaffnen und zu überführen, bis sie eingestehen, dass Christus der Weg ist, die Wahrheit und das Leben.
Das Original muss den Vergleich mit der Kopie nicht scheuen, sondern umgekehrt. Darum gibt es für Christen keinen Grund, wegen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen verunsichert zu sein. Bleiben wir lieber gelassen in der Gewissheit, dass Christus das letzte Wort behalten wird. Und wenn wir das Bedürfnis haben, diese Gewissheit an andere weiterzugeben – und insbesondere an unsere Kinder – dann hüten wir uns davor, sie zur Erkenntnis der christlichen Wahrheit überreden oder drängen zu wollen. Sondern werben wir lieber für die Wahrheit, indem wir in der Wahrheit leben und dabei die Wahrheit nicht bloß sagen, sondern die Wahrheit praktizieren.
4. „Weise mir, HERR, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit“ – so sagt es der Psalmbeter. Ist aber jemandem nicht klar, wie man das macht – „wandeln in der Wahrheit“ – so muss er sich nur darauf besinnen, was Wahrheit ist, nämlich: Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Oder weiß das nicht jeder? Was ich sage oder denke ist wahr, wenn meine Gedanken übereinstimmen mit dem tatsächlich gegebenen Sachverhalt. Ein Satz ist wahr, wenn das, was er sagt, auch der Fall ist. Wahrheit ist Übereinstimmung mit Wirklichkeit. Wenn aber Gott der Grund aller Wirklichkeit ist, und so das Wirklichste in allem Wirklichen, dann muss doch wohl Wahrheit Übereinstimmung mit Gott sein. Und diese Übereinstimmung eines Menschen mit Gott nennt man „Glaube“.
„Leben in der Wahrheit“ heißt also leben in Entsprechung zu Gott. Und solche Entsprechung erschöpft sich nicht in wahren Gedanken, sondern sie will unser ganzes Leben mit Wahrheit erfüllen. Unser Handeln soll dem Gebot Gottes entsprechen, und unser Wünschen dem Willen Gottes. Unsere Buße soll so ernst sein wie Gottes Gericht, und unsere Hoffnung soll so groß sein wie Gottes Verheißungen. Unser Vertrauen soll so fest sein wie Gottes Treue, und unsere Freude so tief wie Gottes Liebe zu uns. Dann nämlich leben wir in Wahrheit, dann leben wir in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit Gottes – und dann erfüllt sich an uns, was Jesus im Johannesevangelium sagt, dass nämlich die Wahrheit uns frei machen wird!
Bild am Seitenanfang: Astronomer by Candlelight
Gerrit Dou, Public domain, via Wikimedia Commons