Gott als Schriftsteller

Gott als Schriftsteller

Wir leben in einer geschwätzigen Welt, in der keiner freiwillig den Mund hält, und wir schwimmen darum in einem Meer aus Sprache. Mal reden wir selbst, mal unsere Hausgenossen, mal kommt das Geplapper aus dem Fernseher, mal aus dem Telefon – doch Sprache ist überall. Es ist ein einziges Zischen und Brummen, ein Brabbeln und Prusten, ein Lachen und Lallen, Jammern und Fluchen. Und oft kommen die Worte genau so ungewaschen aus dem Mund, wie sie dem Herzen entsprungen sind. Man lästert, zankt und plaudert, man tuschelt, nölt und spottet. Und kaum hat einer ‘ne dumme Idee, sitzt sie ihm auch schon auf der Zungenspitze und springt dem Nachbarn ins Ohr. Jeder fordert Gehör, denn Reden kostet nichts, es verschafft Aufmerksamkeit. Und was immer man mit der Sprache anstellt – sie wehrt sich nicht. Sie kleidet auch das in Worte, was unnütz und verletzend ist, geheuchelt und gelogen! Sprache steht allzeit bereit, das Innenleben nach außen zu tragen. Und weil jeder, der eine Zunge hat, die eigene Rede für bedeutend hält, reibt er sie den anderen in die Ohren. Für seichte Gefühle und faule Witze muss die Sprache herhalten, für Halbwahrheit und üble Nachrede, für Spott und Beleidigung, Hass und Häme. Und wenn’s im Herzen schmutzig zugeht, transportiert die Zunge das ungefiltert nach draußen. Nun werden sie sagen: Was will er denn? Das ist doch nun mal Menschenart! Jeder will reden, aber keiner hört richtig zu. Und so wie die Menschen denken, so muss auch ihre Sprache sein. Sie spiegelt ihr Innerstes – und so gibt es auch viel Unnützes zu hören! Aber wer vornehm schweigen wollte, würde einfach nicht mehr wahrgenommen. Der Mensch muss reden und sich damit dem Risiko aussetzen, missverstanden, gescholten oder verhöhnt zu werden. Er muss reden oder schreiben, um seine Gedanken mitzuteilen. Und was die anderen damit machen, hat er nicht in der Hand. Wer schweigt, wird übersehen. Und wer redet, kennt das Risiko. Denn natürlich wird er auf jedes Wort festgenagelt. Schnell dreht man’s ihm im Munde herum. Und wenn er sein Herz geöffnet hat, ist er den anderen ausgeliefert. Denn wer sein Inneres nach außen kehrt, muss auf Verletzungen gefasst sein. Aber was wäre die Alternative? Ganz egal, wie klar man sich ausdrückt – es findet sich immer einer, der’s übel auslegt und auf uns herumhackt, bis wir bereuen, jemals den Mund aufgemacht zu haben. Darum heißt es ja: „Reden ist Silber – und Schweigen ist Gold!“ Wenn das aber stimmt: Warum hat es dann Gott nicht vorgezogen zu schweigen? Warum hat gerade der, der’s gar nicht nötig hatte, so überraschend viel geredet, dass die Bibel mehr als tausend Seiten umfasst und auf jeder Seite hunderte von Worten, von denen jedes einzelne missverstanden und bekrittelt werden kann? „Gott ist ein Schriftsteller“ hat jemand gesagt. Gottes Wort wurde nicht nur „Fleisch“ im Stall zu Bethlehem, sondern sein Wort wurde sogar zum Buch! Der Heilige Geist bediente sich der menschlichen Sprache, um ein Stück Literatur hervorzubringen, das wir heute für billiges Geld kaufen können. Und ich finde, über diese „Herunterlassung“ Gottes in die Niederungen der menschlichen Sprache (J. G. Hamann) haben wir noch nicht genug gestaunt. Denn Gott zahlte einen hohen Preis dafür, von uns verstanden zu werden. Und als er höchst ungewöhnliche Dinge in die Worte gewöhnlicher Menschen fasste, ging er ein großes Risiko ein. Zur Verständigung mit den Engeln wäre das nicht nötig gewesen! Aber für uns kleine Geister war’s nötig, dass Gott seinen heiligen Gedanken eine irdische Gestalt verlieh. Denn wie anders wären uns seine Gedanken fassbar geworden als in den kurzen und kunstlosen Berichten des Matthäus, Markus und Lukas? Gemessen am grandiosen Inhalt sind die Evangelien sehr schlichte, beinah schäbige Gefäße. Denn keiner der Verfasser hatte die Ambition „große Literatur“ zu schaffen! Und doch – wie wäre Gottes Wort durch die Jahrhunderte bis zu uns gelangt, ohne diese Niederschriften? Wahrlich, dem Geist Gottes wären glänzendere Mittel angemessen gewesen! Aber für unseren Menschenverstand passten Feder und Tinte ganz gut. Und so ließ sich Gott herab in die menschliche Sprache, wurde zum Autor und formte das Neue Testament. Weil er aber auf unsere geistige Trägheit Rücksicht nehmen musste, fiel er nicht gleich mit der Tür ins Haus, sondern bereitete die Menschheit Schritt für Schritt auf seine Offenbarung in Christus vor. Gott machte sich nicht gleich allen Völkern bekannt – und noch nicht mal allen Juden –, sondern zunächst nur dem Abraham. Durch dessen Nachfahren sollte sich alles Weitere vermitteln. Und deren Fassungsvermögen musste Gottes Rede darum angemessen sein. Dürfen wir uns also wundern, dass in der Bibel alles einen familiären, oft provinziellen Bezug hat, und alles so ausgedrückt ist, wie es die Menschen jener Zeit mit ihren Vorkenntnissen und im Rahmen ihres Weltbildes verstehen konnten? Nein, es musste so sein. Denn ein guter Lehrer formt doch seine Worte nicht nach dem eigenen, weiten Verstand, sondern nach dem beschränkten Verstand des Kindes! Er überfordert es nicht, sondern nimmt Rücksicht auf seinen noch begrenzten Horizont. Der Lehrer bezieht sich auf den Umkreis dessen, was das Kind schon kennt. Er präsentiert ihm auch nicht den ganzen Stoff mit einem Schlag, sondern schrittweise eins nach dem andern. Und wenn nötig, geht er sogar auf die Knie, um mit einem kleinen Kind auf Augenhöhe reden zu können! Eben so eine „Herunterlassung“ finden wir aber auch in der Bibel – und dürfen uns nicht wundern, dass ihre Redeformen und Bilder nicht auf Gottes großen Verstand berechnet sind, sondern auf unseren geringen. Darum finden wir in der Bibel simple Gleichnisse und knappe Reiseberichte, Sprichwörter und schlichte Verse, Liebeslieder, Schmähreden und Unfallprotokolle, Dramen, Tragödien und Komödien, väterliche Mahnungen, Regeln und Gebote, aber auch Heldensagen und Bauanleitungen, Stammbäume und Biografien, Träume und Visionen, Kinderreime und Anekdoten, Kriegsberichte, Erzählungen und Briefe. Und das meiste ist genommen aus dem Leben von Viehzüchtern, Bauern und Fischern. Freilich hätte Gott größere Kunst zur Verfügung gestanden! Für ihn sind Shakespeare und Goethe reine Dilettanten, Thomas Mann, Cicero, Rilke und Dostojewski sind für ihn lallende Kinder! Und doch schrieb Gott ein Buch für gewöhnliche Leute. Er wählte nicht Dichter, Gelehrte oder Genies, damit sie seine Botschaft weitergeben, sondern nahm ganz bewusst Leute von der Straße. Und so ist nun nichts zu banal oder zu menschlich, als dass es nicht in Gottes Buch seinen Ort fände. Da geht es um vergessene Mäntel und entlaufene Sklaven, um den Mehltopf einer Witwe, um lüsterne Voyeure und sprechende Tiere, um eitle Gecken, um Diebe, Prostituierte und verwirrte Propheten. Manches in der Bibel ist derb wie im Bauerntheater! Aber zeigt nicht gerade das, wie wichtig es Gott war, von uns verstanden zu werden, ja ganz irdisch zu sprechen, wie uns der Schnabel gewachsen ist – und wie er dabei sorgsam vermied, über unsre Köpfe hinwegzureden? Gott ließ sich weit herunter, um durch den Heiligen Geist ein handfestes Buch zu schaffen, um der Menschheit darin sein Herz zu öffnen und seine Gedanken mit uns zu teilen, obwohl er sie damit unvermeidlich unsrer dummen Kritik ausgeliefert hat und unsrem Unverstand! Und darin liegt kein geringeres Wunder als in der Erschaffung der Welt oder der Menschwerdung Christi. Denn hier wie dort musste Gott seine überlegene Stellung verlassen und klein und niedrig werden, um uns Kleinen nahe sein zu können. Nicht genug, dass er uns aus Erde formte und dem Erdenkloß lebendigen Atem und Verstand einblies! Nicht genug, dass er uns zum Geist auch noch eine Seele und Sprache verlieh! Sondern da wir prompt auf Abwege gerieten, ging Gott uns nach, verhütete das Schlimmste und war sich nicht mal zu schade, zur Erlösung der Menschen selbst Mensch zu werden. „Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt“ (Phil 2,6-7). Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tod, um auszugleichen, was an unserem Gehorsam fehlte. Weil Gott aber genau wusste, wie vergesslich wir sind, hielt er die Botschaft Christi und die Erzählung seines Lebens für spätere Generationen schriftlich fest – wurde also um unsertwillen ein Schriftsteller, passte sich dabei unserem Fassungsvermögen an und scheute keine Mühe, uns die Zusagen seiner Gnade und Treue schwarz auf weiß in die Hand zu drücken. So tief hat sich Gott herabgebeugt, dass er mit den Einfältigen gemäß ihrer Einfalt redete. So fürsorglich ist er, dass er sich seiner Majestät entäußerte und ein Autor wurde, ein Schreiberling und Literat. Er machte sich damit angreifbar. Und es war ihm bewusst, wie schlecht wir‘s ihm danken würden. Denn – wie ergeht‘s wohl der Weisheit im Kopf eines Narren? Wie übel geht eine schwere Zunge mit den Geheimnissen um, die man ihr anvertraut? So klar kann sich nicht mal Gott ausdrücken, dass es der Unverständige nicht in den falschen Hals bekäme! Und eigentlich taugt unsre irdische Sprache auch gar nicht für himmlische Dinge! Jedes unserer Worte ist von irdischen Erscheinungen abgeleitet. Und darum passt keins in demselben Sinne auf Gott, wie wir‘s auf Dinge der Welt anwenden. Unreine Lippen sollten überhaupt lieber schweigen, als von Gott verkehrt zu reden! Und doch hat sich der Unaussprechliche einen Namen gegeben. Dennoch ließ der Unbegreifliche von sich hören. Und der über alle Worte hinausgeht, wollte trotzdem zur Sprache kommen. Gott wusste vorher, wie ungehörig wir über ihn schwatzen und wie wir seine Worte verdrehen würden. Er wusste schon vorher, dass wir neunmalklug wie ein Lehrer im Heft des Schülers mit dem Rotstift in seiner Bibel herumstreichen würden. Sobald Gott sich schriftlich äußerte, war schon klar, dass es der Mensch besser weiß! Und bald erhoben sich die Theologen zu Richtern über Gottes Wort, um es zu bekritteln, um es zu verbessern und mit erhobenem Zeigefinger kundzutun, was Gott besser gar nicht gesagt hätte, was er besser anders gesagt hätte, was er hätte hinzufügen und was weglassen sollen. Ja, als der Heilige Geist Literatur schuf, erging’s ihm nicht besser als dem Sohn Gottes, der Mensch wurde und sich damit in die Hände der Sünder begab. Denn nicht nur in menschlicher, sondern auch in schriftlicher Form hat man Gottes Wort abgelehnt und verfolgt, angespuckt und verhöhnt, geschlagen und gekreuzigt. Um unsertwillen gebrauchte Gott die menschliche Sprache. Und schon hieß es, das seien ja nur Menschenworte, die kämen gar nicht von Gott! Um unsertwillen drückte Gott sich möglichst einfach aus. Und schon hieß es, das sei doch wohl zu simpel! Weil sich alles zunächst an die Juden richtete, sprach Gott ihre Sprache. Und schon hieß es, das ginge den Rest der Welt nichts an. Weil er mit Menschen der Antike redete, konnte er die Erkenntnisse der modernen Physik schlecht einfließen lassen. Und darum heißt es nun, das biblische Weltbild sei überholt. Gott mochte der Menschheit nicht nach dem Munde reden. Und schon hat jeder etwas auszusetzen. Denn natürlich versteht niemand, was er nicht verstehen will! Und so setzt sich die Passion Christi nahtlos fort in der täglichen Kreuzigung seiner Botschaft, weil der Sünder in uns nicht will, dass sie wahr ist, weil unser Unglaube nicht bereit ist, sie gelten zu lassen, weil unser Ungehorsam bestreitet, überhaupt eine Weisung gehört zu haben – und weil es sowieso einfacher ist, Gottes Wort unter bibelkritischem Geschwätz zu begraben, als es gelten zu lassen. Weil wir beschränkt sind, musste sich Gott in seinem Buch beschränken. Und nun heißt es: Da fehlt doch was! Weil wir geistlich arm sind, wollte Gott uns ganz viel schenken. Und nun heißt es: Der überfordert uns! Warum aber hat Gott sich das angetan? Warum hat er uns sein Wort so greifbar ausgeliefert in Druckerschwärze auf Papier, dass es nun die Narren mit spitzen Zungen zerreden und mit spitzen Fingern zerreißen können? Warum warf der Heilige Geist seine Perlen derart vor die Säue und breitete Gottes Gedanken aus vor erbärmlichen Lesern, die sich nun als Kritiker gebärden und drauf herumtrampeln? Welche Demut trieb Gottes Sohn, sich herunterzulassen unter die Sünder? Welche Demut trieb den Heiligen Geist, sich einzulassen auf Schriftstellerei? Die Antwort ist immer dieselbe: Aus Liebe sucht Gott die Gemeinschaft derer, die ohne ihn nicht klarkommen – und ihn dennoch schlecht behandeln. Aus Fürsorge wendet er sich denen zu, die ihn verletzen. Und er bereut das auch nicht, sondern teilt sich uns weiter mit, weil wir dessen nun mal bedürfen. Weil wir schwerfälligen Geister nicht zu ihm hinauf können, lässt er sich zu uns herunter. Er ist beileibe nicht „unsresgleichen“ – will uns aber dennoch nahe sein. Er wird von uns misshandelt und beschmutzt – und will trotzdem weiter von sich hören lassen. Wir kreuzigen seine Bibel – er aber lässt sie auferstehen. Denn das Ende der Kommunikation wäre das Ende des Sünders, und der Abbruch des Gesprächs das Ende unsrer Existenz. Wir sind Gott eine Plage, er aber lässt sich dennoch auf uns ein. Er bekundet schwarz auf weiß und gibt uns schriftlich, dass er barmherzig sein will. Wir aber stellen sein Buch im Regal ganz nach hinten und verschieben unsre Antwort auf übermorgen. Gottes Buch wird zensiert, verboten, verfolgt und durch schlechte Auslegung entstellt. Und dennoch bleibt Gottes Wort in der Welt. Genau wie Gottes Sohn wird es abgewiesen und verhöhnt. Und doch lässt es sich nicht beseitigen. Bekritteln kann es jeder, doch zum Schweigen bringt es keiner. Es bleibt unwandelbar wie die Wahrheit selbst. Es behauptet sich mitten in unsrem Geschwätz. Je nachdem zeugt es für uns oder gegen uns. Aber es verschwindet und verstummt nicht. Und dafür sollten wir Gott wahrlich danken, indem wir‘s lesen, indem wir unseren Kopf dran üben und das Verstandene zu Herzen nehmen.

 

 

Bild am Seitenanfang:

Sant'Ambrogio, Rutilio Manetti (hands writing with quill pen detail)

Pietro Antonio Rotari, Public domain, via Wikimedia Commons