Gottesdienst
Wer hat etwas davon?
Es ist bekannt, dass Sonntag für Sonntag 95% der evangelischen Gemeindeglieder dem Gottesdienst fernbleiben. Und man kann lange darüber diskutieren, warum sie das tun. Produktiver scheint es mir aber, die Frage andersherum zu stellen: Suchen wir nicht nach Gründen, warum Menschen dem Gottesdienst fernbleiben, sondern suchen wir lieber nach Gründen, warum sie kommen sollten. Denn an solchen, zum Gottesdienstbesuch motivierenden Gründen, fehlt es offenbar: „Wozu soll ich immer in die Kirche laufen,“ heißt es. „Was bringt mir das?“ „Was habe ich davon?“ „Kann man nicht auch ohne das ein guter Christ sein?“ Solch unverhohlene Fragen nach dem „Nutzen“ des Gottesdienstes kann man unangemessen finden. Beantworten muss man sie aber trotzdem. Und indem wir das versuchen, stehen wir schon mitten im Problem. Denn der „Nutzen“ eines Gottesdienstes ist nicht so leicht zu benennen. Was schließlich verpasst jemand, der den Gottesdienst verpasst? Einen Genuss? Oder ein Erlebnis? Eine Begegnung? Oder eine Belehrung? Das alles scheint immer nur die halbe Wahrheit zu sein. Denn: Zweifellos können Gottesdienste bilden. Aber sie sind keine Bildungsveranstaltung. Gottesdienste haben ästhetische Qualität. Und trotzdem dienen sie nicht dem Kunstgenuss. Gottesdienste sind manchmal unterhaltsam. Und doch wollen sie kein Entertainment bieten. Gottesdienste sind Sammelbecken großer Traditionen. Und doch geht es nicht um Brauchtumspflege. Gottesdienste können das innere Gleichgewicht eines Menschen stützen. Und doch sind sie keine therapeutischen Veranstaltungen…
Man könnte lange so weiter machen und weitere Aspekte hinzufügen. Einer Wesensbestimmung des Gottesdienstes kommt man damit aber nicht näher. Sondern im Gegenteil: Man stellt fest, dass die genannten Aspekte weder einzeln noch in ihrer Summe eine schlagende Begründung für die Notwendigkeit von Gottesdiensten ergeben. Es gibt nämlich immer eine Möglichkeit, dasselbe anderswo besser zu bekommen. Entertainment macht das Fernsehen professioneller. Ästhetik bietet auch ein Konzert. Gemeinschaft findet man am Stammtisch. Und Bildung holt man sich in der Volkshochschule. Feierliche Riten gibt es auch im Fußballstadion. Für die Seele hat man Psychotherapeuten. Und große Traditionen pflegt auch mancher Schützenverein.
Wozu also – um alles in der Welt – braucht der Mensch den Gottesdienst? Gerade für den evangelischen Christen, dessen Religiosität sich im Gegenüber von Wort und Glaube vollzieht, scheint der öffentliche Gottesdienst entbehrlich. Denn er weiß, dass kein Priester ihn vor Gott vertreten kann. Er braucht keinen anderen Mittler als Christus. Und er kennt keine Funktion des Gottesdienstes, die nicht auch außerhalb eines Gottesdienstes erfüllt werden könnte. Das biblische Wort kann man nämlich auch zu Hause lesen. Und wenn man Erbauungsliteratur mag, hat man auch an Auslegungen keinen Mangel. Beten kann man im stillen Kämmerlein. Und singen erst recht. Die Gemeinschaft der Christen beschränkt sich nicht auf den Sonntagvormittag. Und Vergewisserung im Glauben kann auch das Zweiergespräch geben. Kurz: Will man sich nicht allein auf das Gebot der Feiertagsheiligung stützen, so lässt sich eine „Notwendigkeit“ des Gottesdienstbesuches nicht nachweisen.
Nur fragt sich, wenn das so ist, warum die evangelische Christenheit nicht aufgehört hat, Gottesdienste zu feiern. Könnte es vielleicht sein, dass dort – jenseits aller Nützlichkeitserwägungen – doch etwas zu finden ist, was es anderswo nicht gibt? Etwas, das sich der Art unseres bisherigen Fragens wesensmäßig entzieht? In der Tat ist dies die These, die ich vertreten möchte: Die manchmal so kümmerlichen und scheinbar so entbehrlichen Veranstaltungen, die wir „Gottesdienste“ nennen, sind in Wirklichkeit nichts anderes als ein Vorgeschmack des Himmels auf Erden. Sie sind Orte, wo Gott heute „zur Welt kommt“, wo sich also das Weihnachtswunder fortsetzt und wiederholt. Und sie sind Orte, wo das Reich Gottes im Hier und Jetzt schon begonnen hat. Denn im Mittelpunkt des Gottesdienstes stehen nicht eigentlich Wort und Sakrament, sondern die durch Wort und Sakrament vermittelte heilvolle Gegenwart Gottes. Wenn aber gilt, dass Gott nicht da ist, wo der Himmel ist, sondern der Himmel da ist, wo Gott ist, dann kann man nur folgern, dass ein Gottesdienst der Himmel auf Erden sein muss – oder mit anderen Worten: Ein Einbruch himmlischer Wirklichkeit in das irdische Raum-Zeit-Gefüge.
„Eine gewagte Behauptung!“ wird mancher sagen. Aber sie wird plausibel, wenn man bedenkt, dass der Gottesdienst keine menschliche Erfindung, sondern eine Stiftung Gottes ist. Jesus selbst hat ihn begründet durch die Einsetzung des Abendmahles, durch den Befehl zur Wiederholung und durch die damit verbundene Verheißung. Denn Jesus Christus sagt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20) Wo Christen das Mahl der Gemeinschaft fortführen, da ist Christus in Brot und Wein real präsent. Er ist gegenwärtig durch das Wort, das ihn verkündet. Und er ist gegenwärtig durch den Geist, der von ihm zeugt. Kurz: Wo die Glieder des Leibes Christi sich versammeln, da ist ganz gewiss auch das Haupt. Und das nicht nur manchmal (nicht nur, wenn der Pfarrer gut vorbereitet und die Gemeinde aufnahmebereit ist), sondern immer. Denn die heilvolle Gegenwart Gottes beruht nicht auf der „Qualität“ eines Gottesdienstes und nicht auf der „Würdigkeit“ der Feiernden, sondern allein auf Gottes Verheißung: Er hat versprochen, sich uns heilvoll zuzuwenden, wenn wir ihn suchen, wo er gefunden werden will. Nämlich dort, wo man sich um Gottes Wort versammelt, betet, tauft und Abendmahl feiert. Ist aber bei solchem Tun Christus präsent, und gewährt er uns dabei seine Gemeinschaft – wie sollte da nicht im selben Moment das Reich Gottes unter uns Wirklichkeit sein?
Diese Folgerung ist zwingend, weil Jesus den Anbruch des Reiches Gottes untrennbar mit seiner Person verknüpft hat. Ist also Christus in unseren Gottesdiensten „da“, so ist mit ihm zugleich das Reich Gottes „da“. Und wer beim Abendmahl am Tisch dieses Herren isst und trinkt, der sitzt in verborgener Weise schon mit Gott in Gottes Reich zu Tisch. Wort und Sakrament sind Tore, durch die überirdische Heilswirklichkeit in das irdische Raum-Zeit-Gefüge einbricht. Und Gottesdienste sind dementsprechend Feiern, in denen wir vorgreifend schon an himmlischer Herrlichkeit teilhaben. Es sind Feiern, in denen der Mensch ganz Mensch wird, weil er Gott ganz Gott sein lässt. Es sind Brückenköpfe des Himmels auf Erden. Und indem wir sie feiern, vereinen wir uns nicht nur mit der Zeit und Raum übergreifenden Gemeinschaft der Heiligen. Sondern wir vereinen zugleich unseren Lobgesang mit dem Lobgesang der Engel im Himmel: Wir nehmen schon zeitlich teil am ewigen Gottesdienst der Engel um Gottes Thron, in den aller irdische Gottesdienst einst einmünden wird.
Fazit: Jene kurze Stunde am Sonntagvormittag ist viel mehr als Unterhaltung, Belehrung oder Brauchtumspflege – sie ist Heilsgeschehen, in dem der Himmel die Erde berührt. Und das erklärt, warum unsere Eingangsfrage so schwer zu beantworten war. Wenn wir Schwierigkeiten hatten, den Zweck und den Nutzen eines Gottesdienstes anzugeben, so lag das einfach daran, dass die Gegenwart des Reiches Gottes keinen anderen Zweck haben kann als eben die Gegenwart des Reiches Gottes. Das Stehen vor Gottes Angesicht hat kein anderen „Nutzen“ als vor Gottes Angesicht zu stehen. Denn wie bei Verliebten, deren Zusammensein zu nichts „nütze“ sein muss, weil die Nähe im vertrauten Zusammensein sie glücklich macht, so hat auch das gottesdienstliche Zusammensein mit Gott seinen Wert in sich selbst. Wer es erfährt, braucht keine weiteren „Gründe“, um den Gottesdienst zu besuchen. Wer es aber nicht erfährt – wie sollten dem Ermahnungen helfen? Welche Argumente könnten einen Blinden von der Schönheit der Farbe überzeugen? Bitten wir darum Gott, dass er uns allen die stumpfen Sinne schärft. Zuerst den 95% der Gemeindeglieder, die nicht zum Gottesdienst kommen. Dann aber auch den 5%, die kommen. Denn so wahr es auch ist, was oben über die Gegenwart Gottes im Gottesdienst gesagt wurde – so bleibt es doch ein Rätsel und ein Ärgernis, dass wir oft so wenig davon spüren. Gott vergebe uns diese Trägheit unserer Herzen. Und er lehre uns, wieder tiefer zu empfinden, was wir in unseren Kirchenliedern singen (EG 166):
„Tut mir auf die schöne Pforte, führt in Gottes Haus mich ein; ach wie wird an diesem Orte meine Seele fröhlich sein! Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht. Ich bin, Herr, zu dir gekommen, komme du nun auch zu mir. Wo du Wohnung hast genommen, da ist lauter Himmel hier. Zieh in meinem Herzen ein, lass es deinen Tempel sein.“
Bild am Seitenanfang: Easter Sunday
Gari Melchers, Public domain, via Wikimedia Commons