Kirchenkritik und Heiligkeit der Kirche

Kirchenkritik und Heiligkeit der Kirche

Die Stellung der Kirche in unserer Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Früher gehörte Mut dazu, sich von der Kirche abzuwenden. Wer das tat, war ein Außenseiter. Doch heute ist es umgekehrt. Heute gehört Mut dazu, sich zur Kirche zu bekennen. Wenn ein junger Mensch zu seinem Christ-Sein steht, gilt er unter den Altersgenossen schon als Sonderling. Denn die Kirche ist „out“. Wer als modern gelten will, muss über die Kirche spotten und sich von ihren Anschauungen distanzieren. Wie aber soll man sich als Christ dazu verhalten? Der dumme Spott, die Kirchenfeindschaft, die auf Unkenntnis beruht, kann uns ziemlich kalt lassen. Aber es gibt natürlich auch begründete Kritik an der Kirche. Und die trifft in eine Wunde, die wohl jeder Christ schon empfunden hat. Sie trifft und verstärkt unser eigenes Leiden an der Unvollkommenheit unserer Kirche. In jedem Gottesdienst sprechen wir im Glaubensbekenntnis von der „heiligen christlichen Kirche“ – aber in der alltäglichen Realität sehen wir wenig davon. Sie und ich – sind wir erkennbar als Gemeinschaft der Heiligen? Sind wir Licht der Welt und Salz der Erde, wie wir es nach Christi Willen sein sollen? Man mag das nicht recht glauben. Denn auch abgesehen von dem, was kirchenferne Journalisten zu mäkeln haben, gibt es genug Kritikwürdiges in unserer Kirche.

Da gibt es Bürokraten in Landeskirchenämtern, die die Tragweite ihrer Entscheidungen nicht erkennen. Da gibt es tausende von Karteileichen unter den Gemeindegliedern, denen es bloß an der Entschlusskraft und der Konsequenz mangelt, auszutreten. Da gibt es resignierte Pfarrer, die ihre Pflichten vernachlässigen. Da scheitern gute Ideen an der Gleichgültigkeit von Kirchenvorstehern oder an der Inkompetenz von Synodalen – all das gibt es. Menschliches Versagen en masse, menschliche Schwächen, kleinliches Gezänk und Lieblosigkeit auf allen Ebenen – eben all das, was in anderen Großorganisation auch vorkommt. Dabei sollte doch in der Kirche alles ganz anders sein – nicht wahr? Tatsächlich enttäuschen uns die Fehler der Kirche mehr. Denn wir erwarten, dass es in der Gemeinschaft der Gläubigen geschwisterlich zugehen sollte, gerechter, überhaupt humaner als anderswo – eben so, dass überall der Geist der Nächstenliebe herrscht. Und wenn wir entdecken, dass das nicht so ist? Wenn wir als Kirche selbst an den Wertmaßstäben scheitern, die wir predigen? Sind wir dann solches Salz, das nicht mehr salzt, und nach Jesu Wort nur noch weggeschüttet werden kann, damit es die Leute zertreten? Was sollen wir dann denken, wenn wir im Glaubensbekenntnis an die Stelle kommen, wo von der „heiligen christlichen Kirche“ die Rede ist?

Das Problem ist nicht neu. Man hat in der Geschichte der Kirche schon oft an ihren Mängeln Anstoß genommen – und hat verschiedene Folgerungen gezogen. Manche meinten, wenn die real existierende Kirche Mängel habe, dann müsse man diese Mängel eben ausmerzen. Sobald man entdeckte, dass ein Pfarrer oder ein Gemeindeglied eine Sünde begangen hatte, wurde der Betreffende aus der Kirche ausgeschlossen. Alle strengten sich an, ein gottgefälliges Leben zu führen. Und damit der Leib Christi ohne Makel sei, warf man alle hinaus, an deren Glaube oder Lebenswandel etwas auszusetzen war. Man kann sich vorstellen, dass das Schwierigkeiten gab. Denn wenn wir heute anfangen wollten, alle Sünder aus der Gemeinde auszuschließen – wer würde dann übrig bleiben? In kürzester Zeit hätten wir uns alle gegenseitig exkommuniziert. Man sah bald ein, dass dem Problem so nicht beizukommen war. Auch und gerade in der Kirche muss man das Unkraut mit dem Weizen wachsen lassen und darf Gottes Urteil nicht vorgreifen. Doch bleibt dann die Frage: Wenn die Kirche ein Gemisch von Heuchlern und von Gläubigen ist – wo ist dann die „eine heilige christliche Kirche“, von der das Glaubensbekenntnis spricht? Man behalf sich oft, indem man sagte: Wenn die sichtbare Kirche, diese irdische Institution, voller Mängel ist, dann muss die wahre Kirche unsichtbar sein.

Es begann damit eine Art doppelter Buchführung, die auch heute beliebt ist. Auf die sichtbare Kirche, ihre Mitglieder, Amtsträger und Institutionen schimpft man von Herzenslust und macht sie verächtlich, weil man all die falschen Christen zu durchschauen meint. Man identifiziert sich aber mit jener ganz anderen, unsichtbaren Kirche, zu der nur wahrhaft Heilige gehören – und man selbst natürlich. Offenkundig hat diese Unterscheidung etwas tief Verlogenes an sich. Denn diese ideale Kirche, die keiner je gesehen hat, ist ja nur ein Phantasiegebilde. Wurden wir denn in unsichtbaren Kirchen mit unsichtbarem Wasser getauft? Oder empfingen wir irgendwo ein unsichtbares Abendmahl? Nein. Was uns zu Christen gemacht hat, haben wir in sehr sichtbaren Kirchen von sehr sichtbaren Menschen empfangen. Die doppelte Buchführung ist darum nur eine vergebliche Ausflucht: Eine andere Kirche als die sichtbare, mit Mängeln behaftete Großorganisation, der ein konkreter Bischof vorsteht, haben wir nicht. Und wenn unser Glaubensbekenntnis nicht diese sichtbare Kirche meinte, dann wüssten wir gar nicht, wovon da die Rede ist. Haben wir nicht den Mut, diese Kirche heilig zu nennen, dann sollten wir den Satz lieber ganz aus dem Glaubensbekenntnis streichen. Es muss diese sichtbare, real-existierende Kirche die „heilige Kirche“ sein. Ist sie aber unvollkommen, schuldbeladen und mangelhaft – woran kein Zweifel ist – dann muss ihre Heiligkeit in etwas anderem liegen. Und das ist in der Tat des Rätsels Lösung.

Unsere Kirche trägt den Ehrentitel der „heiligen Kirche“ nicht deshalb, weil ihre Glieder und ihre Amtsträger vollkommen wären. Vielmehr ist unsere Kirche so etwas wie ein irdenes Gefäß – unansehnlich wie ein verbeulter Blechnapf oder eine gesprungene Kaffeetasse. Aber der Inhalt dieses Gefäßes, die Botschaft, die sie durch die Jahrhunderte transportiert, ist unendlich kostbar. Die Kirche ist ein unvollkommenes und brüchiges Gefäß, aber sie ist ein Gefäß des Wortes Gottes – und solange sie diesen heiligen Schatz in sich birgt und ihn zu den Menschen trägt, ist sie um des Wortes Gottes willen heilig. Denn das vermag jeder einzusehen: Eine Auster mag schwarz, klebrig und hässlich sein – aber sie ist kostbar um der Perle willen, die sie enthält. Die Auster als solche ist nicht wertvoll – aber ohne Auster hätte man keine Perle. Ein Liebesbrief mag aus dem billigsten, vergilbten und eingerissenen Papier sein – er ist trotzdem kostbar um seiner Botschaft willen. Das Papier des Briefes ist nicht wertvoll – aber ohne das Papier hätte man die Liebesbotschaft nicht. Ein alter Eimer ist auch nicht wertvoll – aber wenn ein Verdurstender mit dem Eimer Wasser aus einem tiefen Brunnen heraufziehen kann, dann rettet der Eimer ihm das Leben.

Und so dürfen wir es auch von der Kirche sagen: Die Gemeinden, die Ämter und Institutionen haben keinen Wert in sich selbst – aber ohne all das hätte das Evangelium nicht seinen Weg durch die Jahrhunderte zu uns genommen. Zweitausend Jahre ging das kostbare Gut von einer Generation zur nächsten, von einer Hand in die andere, wurde gefährdet und gerettet, ging verloren und wurde wiedergefunden. Immer war der Schatz in irdenen Gefäßen, immer machten die Vertreter der Kirche Fehler, immer blieb die Kirche hinter dem zurück, was sie nach dem Willen Christi sein sollte. Doch dass die Kirche Kirche blieb und heilig war, das hing nie ab von der Vollkommenheit der Kirchenglieder. Das hängt immer nur davon ab, ob sie ihren Auftrag erfüllt und das ihr anvertraute Wort Gottes hochhält.

Gibt die Kirche dieses Wort aus irgendeinem Grund preis, dann hat sie ihre Existenzberechtigung verloren – sie wäre es nicht wert, dass man ihr eine Träne nachweinte. Bleibt die Kirche aber treu bei Gottes Wort, dann ist es gleich, ob die Medien ihr applaudieren oder nicht, denn sie ist dann aller Ehren wert, und ist es sogar wert, dass wir sie um ihres Dienstes willen lieben.

Lieben sie ihre Kirche? Vielleicht hält das mancher für zuviel verlangt, angesichts so zahlreicher Defizite. Doch wo nicht Liebe ist, kann zumindest Respekt sein. Der katholische Theologe Karl Rahner hat das einmal so ausgedrückt:

 

„Die Kirche ist eine alte Frau mit vielen Runzeln und Falten.

Aber sie ist meine Mutter. Und eine Mutter schlägt man nicht.“

 

Es wäre gut, wenn man jedem Christenmenschen etwas von diesem Respekt abspüren könnte. Denn dann hätte die Kirche es nicht nötig, sich irgendwem anzubiedern. Es würde ganz von selbst erkennbar, dass die Kirche auf festem Grund gepflanzt ist und dass ihre Wurzeln tief genug hinabreichen, um immer wieder Wasser des Lebens aufzusaugen und weiterzugeben an alle künftigen Generationen…

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Two Churches 

Hugo Simberg, Public domain, via Wikimedia Commons