Kirche und Israel
Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht neue Nachrichten aus dem Nahen Osten eintreffen. Und neben Syrien und dem IS geht es dabei immer auch um das Schicksal des jüdischen Volkes, dem wir nicht nur als politisch interessierte Menschen, sondern auch als Deutsche und als Christen in besonderer Weise verbunden sind. Es ist nicht irgendein Volk, dessen Lebensrecht da immer wieder ganz grundsätzlich bestritten wird, sondern das Gottesvolk des Alten Testaments. Es ist das Volk, das die radikalen Islamisten noch viel mehr hassen als uns westliche Christen! Und so kommt immer wieder die Frage auf, wie sich eigentlich Kirche und Synagoge, Christentum und Judentum, zueinander verhalten. Sind wir als Christen dem alttestamentlichen Gottesvolk besonders nah verbunden, weil der christliche Glaube aus dem jüdischen Glauben hervorgegangen ist? Oder sind wir den Juden gerade besonders fern, weil sie in Jesus Christus nicht den Messias erkennen? Sind sie „Glaubensgeschwister“, weil ihre Heiligen Schriften den alttestamentlichen Teil unserer Bibel ausmachen? Oder ist uns der jüdische Glaube ebenso fremd wie der muslimische, weil doch beide in Jesus Christus nicht den Sohn Gottes erkennen? Schon Paulus hat mit dieser Frage heftig gerungen. Und ihn – als gebürtigen Juden – hat sie besonders gequält. Denn es war ihm eine große Anfechtung, zu sehen, dass der größte Teil Israels Christus ablehnt. Dass ausgerechnet sein eigenes Volk sich dem Evangelium verschließt, zerreißt dem Paulus förmlich das Herz (vgl. Röm 9,1-5). Denn er weiß nur zu gut, dass Jesus Christus in erster Linie zu den Juden gesandt war (vgl. Mt 15,21-28). Sie sind schließlich die Kinder Abrahams, sie sind das aus-erwählte Volk des alten Bundes, sie hat Gott aus Ägypten geführt, ihnen hat er sich am Sinai offenbart, ihnen hat er das Heilige Land geschenkt, sie sind die Träger der großen Verheißungen, die Gott den Erzvätern gegeben hat! Als sich diese Verheißungen aber endlich erfüllen, und in Christus der Heiland erscheint, da erkennt Israel ihn nicht und folgt ihm nicht, sondern Pharisäer, Schriftgelehrte und Priester streiten mit ihm! Christus verkündet das Evangelium von der großen Gnade Gottes, Israel aber pocht weiter auf den Buchstaben des Gesetzes. Gott selbst besucht sein Volk, der lang ersehnte Messias erscheint, Israel aber stößt ihn weg. Welch eine Tragödie, welch ein Verhängnis! Israel verschließt die Ohren vor dem, der nicht bloß Gottes Wort bringt, sondern selbst Gottes Wort ist. Wer aber hört? Paulus, der Missionar, weiß es nur zu gut: Die Römer und die Griechen haben gehört und haben das Wort überraschend dankbar aufgenommen. Die verachteten Heidenvölker, denen der Ruf zunächst gar nicht galt, die fühlen sich angesprochen! Sie hören das Evangelium und empfangen den Heiligen Geist, sie lassen sich taufen und bilden christliche Gemeinden. Es werden mehr und mehr! Und bald steht dieser zusammengewürfelte Haufen dem alten jüdischen Gottesvolk gegenüber als das neue, nicht mehr durch Mose, sondern durch Christus berufene Gottesvolk. Anfangs hält man die Christen noch für eine jüdische Splittergruppe. Doch im Laufe der Zeit treten Kirche und Synagoge immer weiter auseinander, und ihr Verhältnis zu bestimmen wird damit immer schwerer. Denn wenn es sich wirklich um verschiedene Heilswege handelt – was soll man dann denken? Hat Gott Israel verworfen, um an die Stelle des alten Gottesvolkes ein neues treten zu lassen? Oder hat er neben dem Heilsweg für die Juden einfach einen zweiten, parallelen Heilsweg für die Heiden eröffnet? Hat Gott die mit Abraham und Mose begonnene Linie enttäuscht abgebrochen und beendet, um mit Christus noch einmal ganz neu anzusetzen? Oder laufen jetzt zwei Linien gleichberechtigt nebeneinander her? Weder das eine noch das andere lässt sich schlüssig denken! Weder das eine noch das andere ist mit dem Neuen Testament vereinbar! Und wenn wir näher hinsehen, erkennen wir auch warum:
Die erste Weise der Verhältnisbestimmung läuft darauf hinaus, dass Israel als Gottesvolk „abgelöst“ und „ersetzt“ wird, weil die Christenheit an seine Stelle tritt. Und manchen Christen gefällt die Vorstellung, die Kirche habe Israel „beerbt“. Israel habe seine Chance gehabt, sagen sie, und habe sie nicht genutzt. Es hat den Messias verworfen. Und darum erwählt sich Gott anstelle des alten Gottesvolkes als neues, gehorsameres Gottesvolk die Christenheit. Das klingt für Christen schmeichelhaft. Es hat aber den großen Mangel, dass wer so denkt, Gott für untreu halten muss. Denn schließlich hat sich Gott an sein Volk Israel gebunden. Hoch und heilig hat er versprochen, seine Verheißungen an Abrahams Samen zu erfüllen! Und wir können unmöglich annehmen, dass Gott einmal gegebene Zusagen zurücknimmt. Denn was wäre das für ein wankelmütiger Gott, der die Erwählung seines Volkes bereute? Was wäre das für ein ungetreuer Gott, der Israel verließe, um künftig nur noch der Gott der Christenheit zu sein? Nein! Gott ist nicht wie ein Mensch, dass er sich selber Lügen strafte oder vergäße, was er zugesagt hat. Auf Gottes Wort ist unbedingt Verlass! Wenn das aber stimmt – müssen wir dann die Lösung in der entgegengesetzten Richtung suchen, so dass die Linien von Judentum und Christentum sich nicht ablösen, sondern parallel verlaufen?
Tatsächlich hat dies zweite Modell der Verhältnisbestimmung seinen Reiz. Denn wenn Israels Erwählung fortbesteht, und Gott dennoch in Christus etwas Neues beginnt, so scheint das auf ein gleichberechtigtes Nebeneinander beider Glaubensweisen hinauszulaufen. Gott hielte dem alten Gottesvolk die Treue, erwählte sich daneben aber das neue Gottesvolk der Christenheit, um beide auf unter-schiedlichen Wegen zum gleichen Ziel zu führen. Die Juden würden dann selig durch das Gesetz des Mose. Die Christen würden selig durch das Evangelium Jesu Christi. Und keiner müsste dem anderen seinen Heilsweg streitig machen. Diese Lösung klingt viel sympathischer, bescheidener und toleranter als die erste! Nur leider ist auch hier ein Haken dabei. Denn ein Nebeneinander verschiedener Heilswege lässt sich mit dem Neuen Testament nicht vereinbaren. Christus kam nicht in die Welt, um nur für einige Menschen der Erlöser zu sein, sondern um aller Menschen – und also auch der Juden – Erlöser zu sein. Er sagte nicht „Ich bin ein Weg unter vielen“, sondern: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (Joh 14,6). Und wir würden ihm diesen Anspruch bestreiten, wenn wir annehmen wollten, es gäbe neben dem Glauben an Christus noch andere Wege zum Heil. Ja: Wenn der Mensch durch das Halten der Gebote selig werden könnte, wäre Christus sogar unnütz gestorben. Denn dann hätte es ja zur Erlösung der Menschheit genügt, allen Menschen den jüdischen Heilsweg zugänglich zu machen. Hätte dieser oder ein anderer Heilsweg funktioniert und zum Ziel geführt, so hätte es des Leidens Jesu gar nicht bedurft! Dass aber Gott seinen Sohn überflüssigerweise sterben ließ, ist ein Gedanke, den wir ausschließen können. Niemand bezahlt einen so hohen Preis, um etwas möglich zu machen, das auf anderem Wege bereits möglich ist! Man bricht nicht unter Mühen und Schmerzen durch eine Gefängnismauer hindurch, wenn links und rechts schon Türen offen stehen! Und im Umkehrschluss können wir folgern: Wenn Jesus sich die Mühe machte und am Kreuz sein Leben opferte – dann sicher nur, weil es zu unserer Erlösung nötig und anders nicht möglich war! Jesus eröffnet diesen Weg, weil andere Wege nicht zum Ziel führen! Alle Menschen stehen so sehr unter dem Fluch der Sünde, dass alle diesen Heiland brauchen. Und weil Israel davon nicht ausgenommen ist (vgl. Röm 3,9-20) starb Christus auch für sein eigenes Volk. War das für Israel aber ebenso nötig wie für jedes andere Volk, so ist undenkbar, dass Israel auf einem Sonderweg ohne Christus oder an Christus vorbei zum Heil gelangt. Nein! So sicher Christus nicht nur der Heiden Heiland ist, sondern ebenso und zu allererst (!) der Juden Heiland, so sicher werden auch sie das Reich Gottes nicht betreten im Namen des Mose oder eines Propheten, sondern im Namen Jesu Christi. Und das schließt die Vorstellung verschiedener, parallel verlaufender Heilswege aus...
Damit ist auch der zweite Versuch der Verhältnisbestimmung gescheitert. Wir stehen vor dem heilsgeschichtlichen Rätsel, das schon Paulus beschäftigt hat. Und so wie Paulus in Römer 9-11 können auch wir zwischen den beiden unbefriedigenden Denkmodellen der Ablösung und der Parallelität nur eine Vermittlung und eine Lösung finden:
Denn wenn (1.) feststeht, dass Gott seine Verheißungen an das alte Gottesvolk nicht zurücknimmt (wenn er Israel also ganz gewiss erlösen wird), wenn aber (2.) feststeht, dass es für keinen Menschen eine andere Erlösung gibt als die, die durch Christus und in Christus geschieht, dann kann es gar nicht anders sein, als dass Israel eines Tages doch noch zum christlichen Glauben findet und den Heiland annimmt, den es vor 2000 Jahren abgewiesen hat. Die innere Logik der Heilsgeschichte zwingt uns zu dem Schluss, dass die Verstockung Israels keine endgültige, sondern nur eine vorübergehende Verstockung ist. Sie ist kein Zeichen für eine endgültige Verwerfung des alten Gottesvolkes, sondern lediglich für einen Aufschub und eine vorübergehende Trennung. Auch die hat ihren heilsgeschichtlichen Sinn, weil sie der Christenheit Zeit gibt für die Heidenmission (vgl. Röm 11,11-12)! Aber die Trennung wird enden, wenn zuletzt auch Israel Christus annimmt und in ihm (nicht etwa einen fremden und neuen Weg, sondern) die Fortsetzung des alten abrahamitischen Weges erkennt. Mit den Worten des Paulus gesagt:
„…Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): „Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.“ Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“ (Röm 11,25-32)
Paulus kann im Blick auf das Schicksal Israels gar nicht anders als zuversichtlich und hoffnungsvoll zu sein. Und auf der Grundlage des Neuen Testaments wer-den auch wir nichts anderes erwarten als der Apostel. Die Errettung des alten Gottesvolkes kann nicht endgültig ausbleiben, sondern kann sich nur verzögern. Wenn sie dann aber kommt, wird sie durch Jesus Christus kommen. Das alte und das neue Gottesvolk, Synagoge und Kirche, sind heute noch nicht eins, aber sie werden einmal eins werden. Und zu einem Zeitpunkt, den Gott bestimmt, werden unsere Wege zusammenfinden. Nun muss uns als Christen klar sein, dass das Judentum unsere Erwartung in dieser Form nicht teilen kann. Und natürlich respektieren wir das. Wir haben Israel nichts aufzudrängen oder überzustülpen! Und doch glauben wir als Christen, dass wir am erwählenden Handeln Gottes ebenso teilhaben wie unsere älteren Geschwister, und erwarten, dass uns Gottes Geist einmal zusammenführt. Wir können den tiefen Graben nicht leugnen, der Christen und Juden heute noch trennt. Aber wir sind zuversichtlich, dass dieser Graben eines Tages zugeschüttet wird durch Christus selbst, den Heiland Israels. Und schon deshalb kann Israel für uns nie „irgendein“ Volk mit „irgendeiner“ fremden Religion sein. Vielmehr ist uns kein Glaube so nahe wie dieser Glaube. Und kein Volk verdient mehr unseren Respekt als dieses Volk, aus dem Jesus hervorging. Wir müssen deswegen nicht alles richtig finden, was der Staat Israel tut. Aber so viel steht fest, dass wir uns als Christen niemals mit denen solidarisieren können, die Israels Lebensrecht bestreiten. Und wo es jemand zu seinem Ziel erklärt, dieses Volk zu vernichten, müssen wir Widerspruch erheben. Denn das jüdische Volk ist immernoch Gottes erwähltes Volk. Es ist die Wurzel, aus der unser eigener Glaube hervorgewachsen ist. Und es ist Träger von Verheißungen, deren Erfüllung wir gemeinsam entgegengehen. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist kein anderer als der Vater Jesu Christi! Dass er aber seinem alten Volk und allen Völkern zeitlichen und ewigen Frieden schenke, darum bitten wir im Namen Jesu Christi.
Bild am Seitenanfang: "In einer Synagoge in Ungarn"
Ernst Oppler, Public domain, via Wikimedia Commons