Seelsorge
Nikodemus und Jesus (Joh 3)

Seelsorge

Wie ein Gespräch zum Glauben – und der Glaube zum Leben hilft…

Kaum jemand bestreitet, dass die Seelsorge zu den zentralen Aufgaben der Kirche gehört. Sie erfreut sich großer Anerkennung. Doch was ist eigentlich ihr Ziel? Und wie geschieht Seelsorge? Ist das eine Art allgemeiner Lebensberatung? Wird dem Menschen dabei „gut zugeredet“? Oder hilft ihm der Seelsorger bei einer Revision seiner inneren Verfassung? Redet man sich seine Probleme von der Seele? Oder ist Seelsorge die christliche Variante der Psychotherapie? Der Begriff scheint sehr dehnbar zu sein. Und klarer wird die Sache erst, wenn man auf den biblischen Ursprung zurückgeht. Denn so wie jeder kirchliche Auftrag kommt auch der zur Seelsorge direkt von Jesus Christus und folgt seinem Beispiel: Christus selbst führte durch die Berufung seiner Jünger die erste Gemeinde zusammen. Und zweifellos war er nicht nur der Lehrer dieser Jünger, sondern auch ihr Seelsorger, indem er sie in langen Gesprächen mahnte und tröstete, förderte und forderte, hinterfragte und stärkte. Das war seine Art, für ihre Seelen zu sorgen. Denn wie jeder gute Hirte hat er seine Herde nicht nur gesammelt, sondern auch jedes der Schafe mit wachen Augen wahrgenommen, um es gesund zu erhalten, gut zu nähren und vor Gefahren zu bewahren. Als Christi Zeit auf Erden zu Ende geht, will er auch nicht, dass seine Herde sich zerstreut, sondern dass sein Hirtendienst Fortsetzung findet. Darum spricht er zu Petrus: „Hast du mich lieb?“ Und als Petrus das bejaht, sagt Jesus: „Weide meine Schafe!“ (Joh 21,15-17). Dreimal fragt Jesus! Und dreimal gibt er denselben Auftrag, so dass überdeutlich wird: Die Liebe zu Jesus soll sich künftig zeigen in der Fürsorge für die Seinen. Jesus hat die Jünger aneinander verwiesen, damit einer dem anderen Ratgeber und Helfer sei. Und so wie Jesus selbst sich als Hirte versteht (Joh 10), wissen auch seine Jünger, dass ihnen die Herde Gottes anbefohlen ist (1. Petr 5,1-4; Apg 20,28; Eph 4,11; Lk 15,1-7). Was das aber konkret bedeutet, ist vor allem Hesekiel 34 zu entnehmen, wo der Hirtendienst beschrieben wird als: sich der Herde annehmen, die Schwachen stärken, die Kranken heilen, die Verwundeten verbinden, die Verirrten zurückholen, die Verlorenen suchen, die Zerstreuten sammeln, die Hungrigen weiden, die Müden lagern und die Starken behüten. Das Ganze ist nach wie vor Jesu eigenes Projekt, weil er der „Hirte“ ist, in dessen Auftrag Seelsorger handeln. Und nach wie vor geht es um mehr als bloß um das mentale Wohlbefinden des Menschen. Denn das Ziel der Seelsorge liegt darin, dass der Gesprächspartner als Glied der Heilsgemeinde geistlich gedeihen soll. Der Hirtendienst will verirrte Menschen in die heilvolle Gemeinschaft mit Gott zurückführen und jene, die bereits darin stehen, auf dem guten Weg bewahren, festigen und fördern. Denn welchen größeren Dienst könnte man einem Menschen leisten – oder wodurch sonst würde er „heil“? Gott schuf den Menschen, um mit ihm in Gemeinschaft zu stehen! Wenn aber in dieser Gemeinschaft die wahre Bestimmung des Menschen liegt, kann es gelingendes Leben nur dort geben, wo die Gemeinschaft mit Gott gesucht, erkannt, bekannt und in ihren Konsequenzen bejaht wird. Das geschieht nicht anders als durch den Glauben. Und so kann Hirtendienst als Hilfe zu gelingendem Leben nur darin bestehen, dass einer dem anderen im Glauben voran hilft. Seelsorge fragt darum nicht, ob der Mensch mit sich selbst oder seiner Umwelt im Einklang, sondern ob er mit Gott im Reinen ist. Und sie zielt auch nicht bloß auf sein subjektives Wohlbefinden. Denn schließlich kann man sich in der Entfremdung von Gott sehr „wohl“ befinden und sich mitten im Falschen höchst „richtig“ fühlen! Ein Mensch kann gesund und munter seiner Verdammnis entgegengehen, wie er auch in sehr kläglicher Verfassung Erlösung finden kann. Darum ist es eine ganz andere Frage, ob der Gesprächspartner „gut funktioniert“ und mit seinem Alltag klarkommt, oder ob er Frieden hat mit Gott. Psychotherapie und Seelsorge folgen sehr unterschiedliche Vorstellungen von „gelingendem Leben“ – und sind darum in der Bestimmung ihres Zieles nicht so eng verwandt, wie man es häufig unterstellt! Denn es erfolgt zwar hier wie da eine gesprächsweise Zuwendung in guter Absicht. Doch nur die Seelsorge will eine Fortsetzung dessen sein, was Jesus seinen Jüngern tat, als er ihnen den Willen und die Liebe Gottes so nahe brachte, dass sie aus der Entfremdung vom Vater zu neuer Gemeinschaft fanden. Und mit weniger sollte ein Seelsorger nicht zufrieden sein. Denn nach christlicher Überzeugung gibt es gelingendes Leben überhaupt nur in der Gemeinschaft mit Gott. Und wer einem Menschen im tiefsten Sinne Gutes tun will, wird darum nicht ruhen, bis er ihn hinsichtlich dieses Zieles gefördert hat.

Doch wie geschieht das? Welcher Mittel bedient sich die Seelsorge? Sie sind nicht spektakulär, sondern entsprechen in vielem dem, was auch ein guter Freund tut. Er hört geduldig zu, schenkt Zeit und Aufmerksamkeit, ermutigt und ermahnt, zeigt Verständnis und Mitgefühl, rät und tröstet, bestätigt das eine und hinterfragt das andere, lässt sich erzählen, denkt mit, bringt Ideen ein, schweigt aber auch und enthält sich aller Besserwisserei. Wer das hinbekommt, tut schon ganz viel. Und wenn er dem anderen sein Ohr leiht, um mit ihm seine Lebenssituation liebevoll und konstruktiv-kritisch zu durchdenken, leistet er wertvolle Hilfe. Doch die Absicht der Seelsorge geht über das mitmenschliche „Für-einander-da-sein“ hinaus. Ihre wichtigste Hilfe zum Leben besteht in der Hilfe zu jenem Glauben, der seinerseits dann menschliches Leben gelingen lässt. Dieser Glaube kann nicht übergestülpt oder aufgeschwätzt, sondern nur angeboten werden. Fromme Aufdringlichkeit verbietet sich schon allein, weil der Heilige Geist nicht genötigt werden kann. Und doch darf man versuchen, ihm den Weg zu bereiten, indem man auf drei Ziele hinarbeitet. Nämlich: 

 

1. Dass der Gesprächspartner alle Aspekte seines Lebens mit Gott in Beziehung setzt – mögen sie erfreulich sein oder unerfreulich. 

 

2. Dass er begreift und anerkennt, wie der Gesamtbestand seines Lebens Gottes verwerfendem Urteil unterliegt, sofern er (in Adam) Sünder ist. 

 

3. Dass er begreift und anerkennt, wie der Gesamtbestand seines Lebens Gottes begnadigendem Urteil unterliegt, sofern er (in Christus) erlöst ist. 

 

Natürlich kleidet man den Sachverhalt in Worte, die dem Gesprächspartner angemessen sind, und akzentuiert nichts, was ihm ohnehin lebendig vor Augen steht. Doch letztlich wird jede heilvolle Begegnung mit Gott diese drei Einsichten mit einschließen. Und wo eine davon fehlt, wird man die anderen derart missverstehen, dass die Begegnung nicht mehr heilvoll sein kann. Man ist deswegen nicht berechtigt, seinem Gegenüber diese Wahrheiten „um die Ohren zu hauen“. Man hat schließlich selbst ein Leben lang zu tun, sie auf sich anzuwenden! Doch darf man, wenn der andere nachfragt, aus den eigenen Denkvoraussetzungen auch kein Geheimnis machen, sondern muss offenlegen, inwiefern die Wahrheiten, die man ihm zumutet, auch Grundbestand des eigenen Selbstverständnisses sind.

 

Zu Punkt 1

Vielleicht gab es Zeiten, da die Menschen ganz von selbst alles, was sie beglückte oder bedrückte, mit Gott in Verbindung brachten. Doch heute ist das ein großer gedanklicher Schritt. Darum wird man, wenn der Gesprächspartner seine Lebenssituation ausführlich geschildert hat, und Gott darin nicht vorkam, behutsam nachfragen, wie er da wohl „ins Bild“ gehört. Denn einem Christen kann man diese Frage nicht verdenken. Wenn man von rein praktischen Fragen absieht, gibt es überhaupt kein großes Lebensproblem, das ohne Einbeziehung Gottes recht verstanden oder gelöst werden könnte! Das Gesprächsthema lautet also nicht wirklich: „Ich und meine marode Firma“, „Ich und meine unzufriedene Frau“, „Ich und meine schlimme Krankheit“, „Ich und mein ungestillter Lebenshunger“, sondern da ist immer ein weiterer Faktor im Spiel. Und schon allein dadurch, dass der Seelsorger nach Gottes Rolle fragt, kann eine festgefahrene Konstellation in Bewegung kommen. Denn es geht dann um „Du, Gott und deine Firma“, um „Du, Gott und deine Frau“, um „Du, Gott und deine Krankheit“. Es sind nie nur zwei, sondern immer mindestens drei Instanzen zu berücksichtigen, da wir nicht nur Menschen neben uns, sondern auch Gott über uns haben. Das Drama des individuellen Lebens spielt sich unter den Augen des Allmächtigen ab, der dazu das Drehbuch schreibt! Und wenn der Gesprächspartner die Frage nicht aufwirft, darf man sie durchaus anregen: „Was meinst du, wie steht eigentlich Gott zu den Dingen, an denen du dich reibst?“ „Welchen Reim machst du dir darauf, dass Gott dir diese Situation nicht erspart?“ „Inwiefern ist die aktuelle Herausforderung ein Teil deiner Beziehung zu Gott?“ Der Seelsorger darf keinesfalls den Anschein erwecken, als ob er die Antwort wüsste. Es kommt ja alles darauf an, dass der Gesprächspartner seine eigene Antwort findet! Aber der Seelsorger darf der Überzeugung Ausdruck verleihen, dass es im menschlichen Leben nichts gibt, das nicht mit Gott zu tun hätte. Und für einen Gesprächspartner, der sich gedanklich vielleicht seit Langem im Kreis dreht, kann schon das erhellend sein, weil damit ein Faktor ins Spiel kommt, den er bisher nicht „auf dem Schirm“ hatte. Jede Ergänzung verändert das Gesamtbild. Und die Einbeziehung Gottes verändert es niemals nur peripher. Denn wenn Gott ist, wie ihn die Bibel bezeugt, dann ist er das maßgebliche „woher“ und „wohin“ aller Dinge – und folglich auch der entscheidende Bezugspunkt ihrer Bewertung. Ja, Gott selbst ist dann der „größere Kontext“ all unserer Freuden und Nöte, so dass wir sie nur im Zusammenhang mit ihm richtig sehen und einschätzen können. Der Ehepartner ist also nie nur der Ehepartner, sondern stets der Mensch, den Gott mir als Gabe und Aufgabe anvertraut hat. Mein Beruf ist neben dem Broterwerb immer auch ein Feld, auf dem ich meinen Mitmenschen dienen soll. Meine Gaben und Talente habe ich nicht umsonst bekommen, sondern mit dem Auftrag, sie im Sinne meines Schöpfers einzusetzen. Und die Familie, in die ich eingebunden bin, wurde mir von Gott zugewiesen, damit ich darin beheimatet und verortet sei. Die ärgerlichen Schwierigkeiten, die Gott mir nicht erspart, mutet er mir vielleicht zu, damit ich darin meinen Glauben bewähre. Und sollte ich dabei scheitern, wird wiederum mein Versagen eingebettet sein in den Kontext göttlichen Erbarmens. Mein schuldhaftes Tun ist auf Gottes Richten bezogen und offenbart nur in diesem Zusammenhang seine abgründige Schwere. Meine planlose Verwirrtheit bleibt stets umfangen von Gottes Vorsehung. Meiner Vergänglichkeit steht provozierend Gottes Ewigkeit gegenüber. Und mein Tod hat unmittelbar mit der Auferstehung Christi zu tun. Die mir gegönnten Freuden rühren offen oder verdeckt von Gottes Güte her. All mein Forschen ist ein Versuch, Gottes kreative Gedanken nach-zu-denken. Wo ich fruchtbar bin, manifestiert sich darin Gottes Freude am Leben. Und meiner Trauer korrespondiert jederzeit Gottes großer Trost. Isoliert man eines dieser Dinge und blendet Gott bei seiner Betrachtung aus, so verliert es augenblicklich den Sinn, den es als Teil meiner Gottesbeziehung haben könnte. Es fällt damit aus dem Ramen, in den es gehört, und verkehrt sich in etwas anderes. Denn Wohlstand wird dann zum Götzen, und Erfolg macht eitel. Menschen sinken zu bloßen Mitteln herab, und Liebe verkommt zum Deal. Das Schicksal erscheint als Zufall, alle Ziele wirken beliebig, und jeder Wert „relativ“. Aus dem Zusammenhang mit Gott gerissen verliert jedes Dinge seine wahre Bedeutung. Denn in Wahrheit sind alle Dinge nur das, was sie in Gottes Augen sind. Und wer sie unter einem anderen Gesichtspunkt zu deuten versucht, greift zwangsläufig daneben. Denn wer in einem großen Gesamtbild die Hauptsache ausblendet, vermag auch den Rest nicht mehr zutreffend zu interpretieren. Ist Gott aber im Gesamtbild die „Hauptsache“, und mein Leben gehört zum „Rest“, so werde ich – von Gott absehend – auch mich und meine Lage missverstehen. Wo Seelsorge diesbezüglich Augen öffnet, wird sie schon dadurch zu einer großen Hilfe!

 

Zu Punkt 2

Fängt jemand an, Gott in die Betrachtung seiner Lebenssituation mit einzubeziehen, so „addiert“ er nicht bloß einen Faktor hinzu, während der Rest gleich bleibt, sondern er merkt, dass die Dinge – im Zusammenhang mit Gott betrachtet – neu zu bewerten sind. Und sofern sie in seinem seelischen Haushalt Gottes Stelle einnehmen, weil sie dem Menschen höchstes Gut, oberste Autorität, größter Stolz, letzte Instanz, wichtigste Herzensangelegenheit, Priorität oder Lebensinhalt sind, muss die Neubewertung eine radikale Entwertung sein. Denn was im seelischen Haushalt mit Gott konkurriert (was dort seine Funktion innehat oder seinen Platz einnimmt), muss ihm weichen und herabgestuft werden, bis es auf seine natürliche Größe reduziert ist. Die fraglichen Instanzen mögen an sich so gut sein wie Bildung, Ansehen, Freundschaft, Wohlstand und Liebe. Doch sobald der Sünder sie als Werkzeuge seiner Selbstbehauptung gegen Gott benutzt, verdirbt er sie. Und es gibt keinen Menschen, der das nicht versuchte. Was ihn eigentlich mit Gott verbinden sollte, gebraucht er, um Gott damit auf Distanz zu halten. Er nutz die Gabe, um vom Geber unabhängig zu werden. Er liebt das Geschaffene mehr als den Schöpfer. Und er vertraut seiner Vernunft eher als dem Allwissenden, der sie ihm gab. Als Sünder möchte der Mensch selbst das Maß aller Dinge sein und keiner Gnade bedürfen, um möglichst autonom aus eigener Vollmacht zu leben. Doch dieses Projekt scheitert, weil alle Instanzen, die ihm Gott vertreten und ersetzen sollen, mit dieser Erwartung überfordert sind. Was immer der Mensch zu seinem Götzen erhebt, damit es ihm Halt gebe – es wird zuletzt nicht leisten, was er sich davon erhofft. Und oft ist es genau diese Enttäuschung, die Menschen in die Seelsorge treibt. Denn sie erfahren auf bittere Weise, dass menschliche Liebe und menschliche Klugheit nicht halten, was sie sich davon versprachen. Wo sie Anerkennung zu ihrem Lebensinhalt machten, leiden sie, sobald mit dem Erfolg auch ihr Lebenssinn schwindet. Sie entdecken zu spät, dass es dumm war, sich auf seine „eiserne Gesundheit“ oder seinen „eisernen Willen“ zu verlassen. Und haben sie ihr Herz an Vergängliches gehängt, das ihnen durch die Finger rinnt, fühlen sie sich vom Leben betrogen. Sie meinen, ihnen geschehe Unrecht, und erwarten bedauert zu werden. Doch bei allem Mitgefühl muss Seelsorge hier auf billigen Trost verzichten und muss den Betroffenen die Augen dafür öffnen, dass sie keineswegs einem bösen Schicksal aufgesessen sind, sondern ihrer eigenen Fehleinschätzung. Es ist nicht die Schuld der Welt, wenn wir in ihr vergeblich suchen, was nur bei Gott zu finden ist! Wir sind selbst schuld, wenn wir der Erde abfordern, was nur der Himmel geben kann! Und machen wir aus den guten Dingen, die Gott uns anvertraut, Werkzeuge unsrer Eitelkeit, Mittel der Selbstliebe und Bollwerke gegen Gott, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn er uns diese Waffen eines Tages aus der Hand schlägt. Es ist kein Mangel der Schöpfung, wenn sie unsere Sehnsucht nach Vollkommenem nicht befriedigt, denn diese Sehnsucht meint Gott. Und wer trotzdem ohne ihn auszukommen versucht, darf sich über die selbstverschuldete Frustration nicht beklagen. Denn es war ja nicht Gottes Idee, dass wir nach eigenen Regeln von uns selbst und für uns selbst leben sollten. Sich von Gott zu emanzipieren, ist das anmaßende Projekt der Sünde. Und weil wir nicht nur dies und das, sondern den Gesamtbestand unseres Daseins in dieses Projekt mit einbeziehen, unterliegt auch dieser Gesamtbestand unseres Daseins Gottes vernichtendem Urteil. Weil Gott verneint, was ihn verneint, muss Adams Projekt scheitern. Und je früher das geschieht, desto eher wird Platz für etwas Besseres. Darum verkneife man sich in der Seelsorge die „Kopf-hoch-Sprüche“ und scheue die kritischen Fragen nicht: Du gebrauchst deine Kräfte anders, als es im Kontext von Gottes Wille und Gebot angemessen wäre? Du dienst mit deiner Gesundheit und deiner Intelligenz nicht Gott und dem Nächsten, sondern dir selbst? Während andere leiden, kreist du gedanklich um deinen Vorteil und dein Vergnügen? So nimm zur Kenntnis, dass du damit alles verdorben hast, was dein Schöpfer dir anvertraute, und aus der Gemeinschaft mit ihm herausgefallen bist! Gott weiß längst, dass dein Herz böse ist von Jugend auf (1 Mose 8,21). Und wenn er dir gerade etwas weggenommen hat, musst du darüber nicht klagen. Denn wenn du diesen Kurs beibehältst, wird er dir den Rest auch noch nehmen. Gegen den Heiligen streitest du vergeblich, darum schwenke lieber die weiße Fahne und gib dich geschlagen, damit vielleicht Gottes Erbarmen noch rettet, was du nicht retten kannst… 

Will das jemand hören? Sicher nicht! Und trotzdem muss es gesagt werden. Denn wer die Diagnose nicht kennt, ist zur Therapie nicht bereit. Wer das Projekt „Sünde“ nicht aufgibt, wird mit dem Projekt „Glaube“ nicht vorankommen. Und wenn der Adam in uns nicht stirbt, kann der Christ in uns nicht auferstehen. Doch wehe dem Seelsorger, der das Gesetz in seiner Strenge geltend macht, ohne es ausdrücklich auch auf sich selbst anzuwenden! Man kann hier das Nötige nur sagen, wenn man sich selbst unmissverständlich mit einschließt. Denn der Gesprächspartner muss wissen, dass ich von einem Urteil rede, das mir selbst genauso gilt wie ihm. Der Seelsorger ist nicht Richter seines Bruders, sondern sitzt als Sünder neben ihm auf der Anklagebank. Und wehrt sich der Bruder mit Händen und Füßen gegen die Zumutung, sich Gottes Urteil zu beugen, darf man nie vergessen, wie schwer es einem selbst fällt. Man darf den Balken im eigenen Auge weder vergessen noch verschweigen (Mt 7,1-5). Dass aber menschliches Leben in eine tiefe Krise gerät, sobald man es ernstlich mit Gott in Beziehung setzt, ist unvermeidlich – und kann dem Gesprächspartner nicht erspart werden. Denn der Heilige selbst erscheint auf der Bildfläche. Und vieles, das uns bei schummriger Beleuchtung normal erschien, erweist sich in seinem unerbittlich hellen Licht als Unrat, Dreck und Kot (Phil 3,8). Solange Gottes Gegenwart nicht bewusst ist, scheint uns vieles akzeptabel, das dann nicht mehr bestehen kann. Und vieles, worauf wir stolz waren, verliert seinen Glanz. So ist es unvermeidlich, dass Gott uns erst einmal stört. Er stört unseren faulen Frieden und zerstört das Bild, das wir von uns hatten. Doch etabliert sich nur so die neue Ordnung, um derentwillen die alte weichen muss.

 

Zu Punkt 3

Dass Gottes Strenge schwer zu vermitteln ist, wird niemanden verwundern. Doch trifft auch Gottes Milde auf Kopfschütteln und beharrlichen Widerstand. Denn wer Gottes Gesetz halbwegs verstanden hat, muss sein Evangelium „unglaublich“ finden. Tatsächlich ist es das auch! Das Evangelium ist eine unglaublich gute Botschaft, die nicht bloß den „vorzeigbaren“ Teilaspekten der Person gilt, sondern – dort wo Glaube ist – den Gesamtbestand des Lebens meint. Und manchmal besteht Seelsorge nur darin, diesem freundlichen Wort Gottes Geltung zu verschaffen, bis es genauso ernst genommen und genauso akzeptiert wird wie das Gesetz. Der Weg ist aber kein anderer, als der schon beschrieben – dass man nämlich dort, wo Gott mit seiner Gnade nicht ausreichend im Blick ist, diese Beziehung aufdeckt und bewusst macht. Hat jemand einen Schicksalsschlag erlitten, so muss ein Christ nicht zweifeln, dass der in Gottes Plänen einen verborgenen Sinn hat, denn der gute Gott kann es mit den Seinen nicht böse meinen. Kennt jemand sich selbst nicht mehr und ist tief verwirrt, so darf man ihm sagen, dass jedenfalls Gott ihn kennt und ihn zu seinem Kind und Ebenbild bestimmt hat. Entdeckt jemand den Abgrund in sich selbst und erschrickt, so darf man ihm versichern, dass Gott das Problem längst gesehen und die nötigen Maßnahmen ergriffen hat. Hält sich jemand für einen hoffnungslosen Fall, darf man ihn darüber aufklären, dass es so etwas bei Gott gar nicht gibt. Und hungert er nach Gerechtigkeit, kann man ihm versichern, dass Gott seine Leidenschaft teilt und spätestens am jüngsten Tag für vollste Gerechtigkeit sorgen wird. Meint einer, sein Glaube widerspräche allem Augenschein, so darf man daran erinnern, dass bisher noch jeder Jünger (und dass sogar Christus am Kreuz) dasselbe erfuhr. Zweifelt einer, ob er im Leben noch eine Aufgabe hat, kann man sagen: Ja klar, ganz sicher – denn sonst wärst du nicht mehr da! Fragt sich eine treue Seele, was wohl der Lohn ihrer Mühen ist, kann man versichern: Gott selbst wird dein Lohn sein und wird dir alles aufwiegen! Hat einer großen Besitz verloren, darf man ihn damit trösten, dass er nun mit leichterem Gepäck Gott entgegenreist, und weniger Ballast bleibt, der ihn auf der Erde festhalten könnte. Hat einer Überdruss am trügerischen Glück dieser eitlen Welt, so kann man ihn auf eine bessere Welt verweisen, die jedem Gläubigen offen steht. Redet er aber von Schuld, so darf man ihn an das Opfer erinnern, das Christus zu keinem anderen Zweck brachte, als schwere Fälle wie ihn jeglicher Schuld zu entledigen und in Freiheit zu setzen. So vieldimensional wie des Menschen Not, so vieldimensional ist auch das erlösende Werk Christi! Und gelingt es einem Menschen, sein eigenes Elend in den Kontext dieses Werkes einzuzeichnen, so ist es schon halb überwunden. Denn wie könnten unsre endlichen Verfehlungen gegen Gottes unendliche Gnade die Oberhand behalten? Seelsorge muss da gar nicht appellieren, sondern darf sich zwingender Logik bedienen, um dem Evangelium volle Geltung zu verschaffen – weil ja nicht einzusehen ist, wie Gottes guter Wille durch menschliches Versagen zu Fall kommen könnte. Als Christen sehen wir dieses Versagen durchaus! Wir sehen aber zugleich, dass Gott es kompensieren will. Und uns ist bewusst, dass seine Güte weit mächtiger ist als unsere eigene Fehlbarkeit, die unsrem Heil entgegensteht. So liegt es dann auf der Hand und kann leicht gefolgert werden, wie die Sache ausgehen wird! Oder könnte einer so arm werden, dass Christi Reichtum es nicht aufwöge? Könnte einer so dumm sein, dass Gottes Weisheit zum Ausgleich nicht genügte? Oder wäre je einer so restlos tot, dass der lebendige Gott ihn nicht beleben könnte? Eines Christen Trost ist notorisch größer als sein Elend. Nur vergessen wir das leider – und bedürfen dann der Erinnerung durch einen Seelsorger, der uns vor Augen führt, was aus den Voraussetzungen unseres Glaubens zwingend folgt: dass nämlich Gottes „Ja“ zu uns immer schwerer wiegt als alles „Nein“, das irgendwer dagegen anführen mag. Gottes Gnade zu vertrauen, ist uns nicht bloß erlaubt, sondern ernstlich geboten. Wir müssten Gott schon der Lüge verdächtigen, um diesbezüglich unsicher zu sein! Und wenn wir auch jeden Bruder verstehen, der an sich selbst verzweifelt, können wir doch nicht zulassen, dass er an Gott verzweifelt. Denn Glaube besteht darin, nicht nur eines, sondern beide Urteile Gottes gelten zu lassen – und den Widerstand gegen Gottes Wahrheit in beider Hinsicht aufzugeben. 

 

Wo endet dieser Prozess? Und wohin führt das seelsorgerliche Gespräch im optimalen Fall? Es führt dazu, dass die Gesprächspartner bei all ihrer Verschiedenheit doch unter zwei Gewissheiten zusammenfinden, die S. Kettling treffend formuliert hat. Nämlich: 

 

„(1) Ich akzeptiere, dass ich unannehmbar, inakzeptabel bin und bleibe, ein „verlorener und verdammter Sünder“. 

 

(2) Ich akzeptiere, dass ich als dieser Unannehmbare, als dieser Inakzeptable allein um Christi willen akzeptiert bin.“ 

 

(S. Kettling, „Typisch evangelisch: Grundbegriffe des Glaubens“, S. 30) 

 

Es gilt Gott in beiden Urteilen Recht haben zu lassen. Und wenn man eins von beiden einschränkte oder wegließe, würde das andere nicht mehr wahr sein. Denn zum Christ-Sein gehört immer beides. Bonhoeffer definiert völlig richtig: „Christ ist der Mensch, der sein Heil, seine Rettung, seine Gerechtigkeit nicht mehr bei sich selbst sucht, sondern bei Jesus Christus allein.“ Warum aber sucht er sein Heil nicht mehr bei sich selbst? Weil er Gottes Gesetz und somit Kettlings Satz (1) verstanden hat! Und warum sucht er sein Heil bei Jesus Christus allein? Weil er Gottes Evangelium und somit Kettlings Satz (2) verstanden hat! Wenn man also den banalen Vergleich entschuldigt, so sind dies die beiden Leitplanken, die den Christen hindern, von seinem Weg nach links oder rechts abzukommen. Satz (1) verhütet Übermut und Dünkel, wie Satz (2) vor Resignation und Verzweiflung schützt. In dem Raum dazwischen findet das geistlich gesunde, gelingende Leben statt. Und die Aufgabe der Seelsorge erklärt sich damit von selbst: Seelsorge (als der Hirtendienst, den einer dem anderen leistet) versucht den Gesprächspartner auf dem guten Weg voranzubringen oder ihn, wenn er sich verlaufen hat, darauf zurückzuführen. Und sie erreicht ihr Ziel, indem sie ihm bewusst macht, dass er sein Leben unter den Augen seines Schöpfers führt, der dem Guten und Bösen darin keineswegs neutral gegenübersteht. Zum vollständigen Bild der persönlichen Lage gehört immer der lebendige Gott, der seine Schöpfung bejaht, der eben darum das Böse in ihr verneint, und so auch über mich, soweit ich (in Adam) Sünder bin, ein vernichtendes Urteil fällt. Zum vollständigen Bild meiner persönlichen Lage gehört aber ebenso, dass der lebendige Gott bereit ist, meine Person von meiner Sünde zu unterscheiden und mich zu begnadigen, wenn ich vor seinem verdienten Zorn zu seiner Gnade fliehe. Wer diesen Gott als sein maßgebliches Gegenüber nicht „auf dem Schirm hat“, wird sein Leben in jedem Fall falsch auffassen. Und wer es falsch auffasst, wird es infolgedessen auch falsch anfassen. Darum bietet Seelsorge Gelegenheit, das eigene Leben unter dem meist vernachlässigten Aspekt seiner Beziehung zu Gott neu zu durchdenken. Die ungewohnte Perspektive raubt dem Menschen dann manche falsche Zuversicht. Sie nimmt ihm aber nichts weg, ohne ihm dafür etwas Besseres anzubieten. Denn jeder erdenklichen Not des Menschen kann die Seelsorge ein rettendes Werk Gottes gegenüberstellen.

 

- Natürlich sucht der Mensch bei sich selbst und in der Welt nach Seinsmacht, Kraft, Freiheit und Lebendigkeit. Und natürlich wird er enttäuscht durch die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit der Dinge, durch die Übermacht des Schicksals und des Todes. Aber Christus, der in seiner Auferstehung alle Machtfragen abschließend geklärt hat, bietet ihm die Chance, an Christi eigener Kraft und Lebendigkeit teilzuhaben… 

 

- Natürlich träumt der Mensch davon, redlich und gerecht zu sein, geradlinig und integer, aufrecht, lauter und wahrhaftig. Und natürlich zerbricht ihm dieser Traum, sobald er merkt, wie korrumpierbar und schwach er ist, wie bereitwillig er auf Kosten anderer lebt und selbst in seinen Guttaten noch den eigenen Vorteil sucht. Aber Christus, der am Kreuz alle Schuldfragen abschließend geklärt hat, bietet ihm die Chance, an Christi eigener Gerechtigkeit teilzuhaben... 

 

- Natürlich traut sich der Mensch zu, aus eigenem Denken klug zu werden, sich Wahrheit und Klarheit zu verschaffen und alle Weisheit zu ergründen. Und natürlich scheitert er daran, dass ihm die Vernunft selbst die Grenzen der Vernunft offenbart und ihn als einen Verwirrten zurücklässt, der nicht mal sich selbst versteht. Aber Christus, der alle Wahrheitsfragen abschließend geklärt hat, weil er die Wahrheit nicht bloß sagt, sondern selbst die Wahrheit ist, bietet ihm die Chance, durch den Heiligen Geist an der Wahrheit Gottes teilzuhaben… 

 

- Natürlich fragt der Mensch zuerst nach menschlicher Liebe und Wärme, nach Annahme und Zuwendung, Bejahung und verlässlicher Bindung. Und natürlich erfährt er bitter, dass Menschen nur so lange lieben, wie der Gegenstand der Liebe verspricht, etwas zu ihrem Glück beizutragen. Aber Christus, der sich in seiner Menschwerdung zu jedem Menschen in Beziehung setzt, hat damit abschließend die Frage nach wahrhaft selbstloser Liebe geklärt und bietet jedem die Chance, in Gottes Liebe einbezogen zu werden… 

 

Der eigenmächtige Zugriff auf das Leben, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und die Liebe scheitert unter großem Wehgeschrei. Denn Gott lässt sich diese Dinge vom Sünder nicht entreißen. Er ist aber durchaus willig, sie dem Gläubigen zu schenken. Und oft genügt es, einem Menschen die damit gegebene Chance lebendig vor Augen zu stellen, um dem Hirtenamt gerecht zu werden. Denn der Seelsorger führt dann fort, was schon Christus tat, als er die Strenge und die Güte des Vaters gleichermaßen zur Geltung brachte – und dadurch die Schwachen stärkte, die Kranken heilte, die Verlorenen suchte und die Zerstreuten sammelte.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Study for Jesus and Nicodemus

Henry Ossawa Tanner, Public domain, via Wikimedia Commons