Schicksal, Allmacht, Vorsehung
Wie verträgt sich das mit unserer Freiheit?
Das Lied ist sehr bekannt: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreuesten Pflege des, der den Himmel lenkt.“ Vertraut sind uns diese Worte. Aber verstehen wir sie auch? Natürlich ist nicht die Rede davon, man solle Gott etwas befehlen. Das Lied spricht vom „anbefehlen“. Und nicht nur manche unserer Wege sollen wir Gottes Obhut anvertrauen, sondern alle. Fröhliche Wege, vielleicht zum Standesamt. Und ebenso traurige Wege, auf den Friedhof. „Befiehl dem Herrn deine Wege“, das ist die Aufforderung, den eigenen Lebensweg vorbehaltlos in Gottes Hand zu legen. Das ist an sich auch leicht zu verstehen. Doch der Aufforderung nachzukommen, bleibt ungeheuer schwer. Denn wir geben das Steuer ungern aus der Hand. Wer anderen Menschen Verantwortung überträgt, wird oft genug enttäuscht. Und wir wollen nicht riskieren, dass es uns mit Gott auch so geht. Darum suchen wir Vorwände, um jener Vertrauensforderung „Befiehl dem Herrn deine Wege“, nicht nachkommen zu müssen.
Manche sagen dann: Das ist doch gar nicht nötig, dass ich meinen Lebensweg Gott anvertraue! Gott lenkt sowieso die Wege aller Menschen – ob ich das will oder nicht. Was macht es also für einen Unterschied, ob ich mich seiner Führung anvertraue oder nicht? Umfasst seine Vorsehung nicht ohnehin alles Geschehen? Warum soll ich Gott etwas anbefehlen, was er sowieso in Händen hat? Das ist die eine Art, wie man die Forderung von Vertrauen zurückweisen kann. Man kommt aber auf entgegengesetztem Wege zum selben Ziel, wenn man eine Einschränkung der persönlichen Verantwortung beklagt. Ja wie denn? – ruft man empört. Wenn der allmächtige Gott alles Geschehen auf Erden lenkt, wo bleibt denn dann meine Freiheit? Gäbe es eine lückenlose Vorsehung, wären wir ja Gottes Marionetten und für nichts mehr verantwortlich!
Zwei kluge Einwände sind das. Und sie lassen ein vertracktes Problem entstehen, für das es scheinbar nur schlechte Lösungen gibt. Denn entweder lenkt Gott alles Geschehen – dann sind wir nur Schachfiguren, die er hin- und herschiebt. Oder wir Menschen sind frei in unseren Wegen – dann ist Gott nur noch ein unbeteiligter Zuschauer des Weltgeschehens. Das eine scheint so unsinnig wie das andere. Denn wir machen ja schließlich die Erfahrung der Freiheit. Wir können an einer Weggabelung links oder rechts gehen. Und doch kann es nicht so sein, dass unsere Entscheidungen Gott überraschen würden. Lenkte Gott nicht auch unsere Entscheidungen, so würden wir damit ständig seine Pläne durcheinanderbringen. Gott wüsste heute noch nicht, was morgen geschieht – und das passt schlecht zu dem allmächtigen und allwissenden Gott, von dem uns die Bibel erzählt.
Wir sind also mit jenem kleinen Satz „Befiehl dem Herrn deine Wege“ in ein riesiges Problem hineingeschliddert. Entweder lenken wir unsere Wege selbst – dann ist Gott machtlos. Oder Gott lenkt unsere Wege – dann sind wir machtlos. Das scheint ein unauflöslicher Knoten zu sein. Doch gibt es durchaus eine Lösung. Und die steckt nicht in großen komplizierten Gedankengebäuden, sondern in der kleinen Geschichte von Bildad und dem Engel des Todes:
Bildad war ein Freund des weisen König Salomo. Oft saßen sie im Garten beieinander und unterhielten sich. Eines Tages aber ging der Engel des Todes am Garten vorüber und richtete seine Blicke auf Bildad. Da fragte Bildad den Salomo: „Wer ist dieser Mann?“ Salomo antwortete: „Du kennst ihn nicht? Das ist der Engel des Todes.“
„O weh,“ – rief Bildad – „er hat mich so angeschaut, ich glaube, er hat es auf mich abgesehen. Lieber Salomo, du hast wunderbare Kräfte, befiehl doch dem Wind, dass er mich davonträgt und im fernen Indien niedersetzt!“ Salomo tat, was Bildad sich gewünscht hatte – und der Wind trug Bildad davon.
Wenig später kam der Engel des Todes wieder an Salomos Garten vorbei. Salomo sprach ihn an und fragte, warum er seinen Besucher vorhin so merkwürdig angeschaut habe. Der Engel aber sprach: „Dass ich Bildad so lange ansah, das geschah aus Verwunderung, weil mir befohlen worden war, seine Seele aus Indien zu holen, während er doch hier bei dir in Kanaan war.“
Ich mag diese Geschichte sehr. Denn sie zeigt auf unterhaltsame Weise, dass Gottes Vorsehung und unsere Freiheit einander keineswegs ausschließen. Gottes Vorsehung, wie sie uns hier präsentiert wird, ist nicht von der Art, dass sie uns entmündigte. Denn zweifellos hatte jener Bildad die Freiheit, Salomo um Hilfe zu bitten oder nicht. Als er den Engel des Todes sah, wollte er vor ihm fliehen – und er floh. Er tat, was er wollte. Auch Salomo hatte die Freiheit, Bildads Wunsch zu erfüllen oder nicht. Er erfüllte ihn. Auch Salomo tat also, was er wollte. Niemand in dieser Geschichte ist in einer Zwangsjacke, niemand ist entmündigt, niemand gefesselt, jeder tut durchaus, was er will. Und doch zeigt das Ende, dass alles in den Bahnen der Vorsehung blieb. Alles läuft zwanglos aber unausweichlich auf das Ziel zu, das Gott gesetzt hat. Denn Bildads Flucht nach Indien konnte Gott nicht überraschen. Lange bevor Bildad auf diese Idee kam, hatte Gott sie einkalkuliert – und hatte schon bei der Beauftragung des Engels gewusst, dass dieser die Seele Bildads aus Indien würde holen müssen. Bildads Freiheit wird dadurch nicht beschnitten, aber sie erweist sich als untauglich, um damit Gottes Wille zu umgehen. Denn Gott knechtet niemand und lenkt doch jeden. Wenn das nun aber stimmt, was bedeutet dann der Appell „Befiehl dem Herrn deine Wege“?
Er besagt jedenfalls nicht, dass Gott erst dann begänne, unsere Wege zu lenken, wenn wir ihn darum bitten. Nein. Er tut das immer. Auch bei den Menschen die nichts davon wissen oder die es nicht wollen. Unser Schicksal ist lückenlos in Gottes Hand. Und trotzdem macht es einen Unterschied, ob wir mit seiner Lenkung einverstanden sind oder nicht. Denn auch das zeigt unsere Geschichte: Wer sich sinnlos gegen Gottes Führung sträubt wie Bildad, der gewinnt dabei nichts, aber er verliert den Frieden seiner Seele. Wer meint, er könne erst frei und glücklich sein, wenn er Gottes Vorsehung entkommt, der wird in diesem Leben nie frei und glücklich – der hadert bis zum Ende damit, dass er sein Leben nicht im Griff hat und ein anderer sein Herr ist. Die Vertrauensforderung des 37. Psalms „Befiehl dem Herrn deine Wege“ weist uns demgegenüber einen anderen, viel schöneren Weg. Wir werden nämlich ermutigt in Gottes höhere Weisheit einzustimmen. Und wenn wir das tun, lernen wir die Abhängigkeit von Gott nicht als Unglück, sondern als Glück zu betrachten.
Wir lernen dann, uns der Führung Gottes zu überlassen und uns darin geborgen zu fühlen, denn wir wissen dann, dass nichts, was uns trifft, Zufall ist. Was uns an Schönem begegnet auf unserem Lebensweg, das ist uns von Gott gegönnt, damit wir unsere Freude daran habe. Was uns an Schlimmem begegnet, das ist uns von Gott zugemutet, dass wir uns daran bewähren sollen. Aber nichts von alledem, was uns begegnet, entspringt der Willkür von Menschen. Zwar gibt es viele Menschen, die sich gebärden wie Bildad. Viele wollen Gott das Heft aus der Hand nehmen, wollen mit eigenen Ideen in Gottes Regiment hineinpfuschen und für andere Schicksal spielen. Aber Gottes Plan gerät durch all diese Bildads nicht aus den Fugen. Er führt sie – und er führt uns – wohin er will. Und es ist auch gut so, denn Gott ist weise, und wir sind es nicht. Wer das alles nicht wahr haben will und gegen das Notwendige aufbegehrt, wird dadurch kein bisschen freier. Wer aber einsieht, dass es gut ist, Gott das Regiment zu überlassen – den macht solche Einsicht wirklich frei: Sie macht ihn frei, die Abhängigkeit von Gott als Glück zu begreifen und fröhlich den eigenen Lebensweg in seine Obhut zu stellen.
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William Blake, Public domain, via Wikimedia Commons