Gottes Sich-Zurücknehmen
Was im Glaubensbekenntnis am Anfang steht, klingt wie selbstverständlich. Wir glauben an Gott, „den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Das geht leicht von der Zunge. Und vielleicht haben wir sogar Bilder vor Augen, wie der Schöpfungsbericht sie nahe legt. Doch im Grunde ist dieser seltsame Vorgang, dass Gott aus sich heraus und sozusagen „sich gegenüber“ eine Schöpfung „setzt“, alles andere als selbstverständlich. Er ist sogar schwer begreiflich! Denn wie wird aus der Einheit des Einen, der mit sich allein ist, plötzlich die Zweiheit des Einen und des Anderen? Wie kann neben der Fülle Gottes überhaupt noch etwas Zweites Platz haben? Uns kleinen Geschöpfen fällt das Problem nicht gleich ins Auge. Denn unsereiner hat enge Grenzen. Ein Mensch füllt mit seinem Körper nur wenig Raum – und neben ihm ist noch jede Menge Platz für anderes und andere! Doch Gott ist in dieser Weise nicht begrenzt. Er erfüllt und durchdringt alles. Er ist nirgends nicht. Er ist auch nirgends „außen vor“ oder „passiv“, sondern immer und überall tätig. Und so muss man wirklich fragen, wo neben solcher „Präsenz“ überhaupt noch Platz sein soll für Geschöpfe. Wo bleibt Raum für uns, wenn Gott doch überall und alles ist?
Vor der Schöpfung war außer Gott rein gar nichts. Und doch blieb da keine Lücke oder Leere zu füllen, weil Gott unermesslich und grenzenlos ist. Es ist ja gar nichts denkbar, das „jenseits“ von Gott oder ihm entzogen wäre! Vielmehr ist alles durchdrungen und erfüllt von seiner Kraft, seiner Wahrheit und Güte. Gott ist schiere Präsenz. Ohne ihn ist nichts. Aber alles ist in ihm. Und wenn einer derart grenzenlos alles beherrscht – wo bleibt neben ihm Platz für ein Zweites oder Drittes, das sich in seiner Andersheit behaupten kann? Es ist nur denkbar, wenn der Schöpfer das so haben will und jenem Zweiten oder Dritten ein Mindestmaß an Selbstständigkeit zukommen lässt, damit es von ihm selbst unterschieden werden kann. Und das bedeutet, dass Gott, als er ein geschöpfliches Gegenüber schaffen wollte, ihm dieses Mindestmaß an Selbständigkeit auf seine (auf Gottes!) Kosten ermöglichte. Der Schöpfer musste sich „zurücknehmen“, um der Schöpfung Raum zu geben und für sie Platz zu schaffen. Und er musste dabei paradoxer Weise seine Freiheit nutzen, um sich selbst zu beschränken. Denn wenn er das nicht unablässig täte, würde uns seine Präsenz erdrücken, und seine Übermacht ließe uns keine Luft zum Atmen. Weil er aber will, dass wir sind, nimmt Gott sich zurück und gibt uns den Raum, den wir brauchen, um zu leben und uns zu entfalten...
Nun heißt das natürlich nicht, dass Gott aus seiner Schöpfung verschwände. Nein – er bleibt notwendig auch im Geschaffenen präsent! Aber er nimmt sich doch so weit zurück, dass wir Menschen ein echtes Gegenüber sein können und ein Gesprächspartner, der dem ewig-großen „Du“ mit seinem zeitlich-kleinen „Ich“ zu antworten vermag. Gott zieht sich so weit zurück, dass seine Fülle uns nicht „platt macht“. Er drängt sich dem Menschen nicht auf, so dass man an ihm zweifeln oder an ihn glauben kann. Er schweigt, damit wir zu Worte kommen. Er lässt uns Optionen, damit wir entscheiden können. Er lässt uns Pläne schmieden und lässt uns die Folgen erproben. Er verbirgt sich, um zu sehen, ob wir ihn suchen. Er weist uns unsere Nischen zu, damit wir sie gestalten können. Und er gibt uns durch diese Selbstbeschränkung eine Menge Freiraum. Denn wenn er das Geschöpf mit seiner göttlichen Fülle überflutete, könnte es kein Gegenüber sein. Ganz praktisch heißt das aber, dass Gott nicht alles selber tut, was getan werden soll, sondern ganz Vieles nicht tut, um es uns zu überlassen. Natürlich könnte Gott Kinder schaffen ohne unseren biologischen Beitrag. Aber wo blieben wir dann mit unserer Freude an der Elternschaft? Natürlich könnte Gott die Jugend auch erziehen – und könnte es sicher viel besser! Aber wo blieben wir mit unserer Erfahrung, die dann niemandem diente? Gott könnte alle Güter, deren wir bedürfen, einfach so bereitstellen. Aber wo bliebe die Befriedigung, die wir aus gelungener Arbeit ziehen? Gott könnte uns alles Wissenswerte mit einem Schlag offenbaren. Aber der Anreiz der Neugier und der Wissenschaft ginge dabei verloren! Gott könnte uns zum Guten zwingen und alle Fehltritte verhindern. Aber worin zeigte sich dann noch unser Charakter – und was wäre erzwungene Tugend überhaupt wert? Gott könnte gegen jedes Leid eine Tablette verordnen. Aber wer lernte dann noch, sich in andere einzufühlen, zu trösten, geduldig zu begleiten und liebevoll zu pflegen? In alledem nimmt Gott sich zurück, um uns Platz zu lassen! Er könnte alles schneller und besser. Aber um uns überflüssig zu machen, hätte er uns nicht schaffen müssen. Darum bejaht Gott unser Dasein durch Zurückhaltung! Es wäre Unsinn, die Menschen so vielseitig zu begaben und ihnen dann zur Erprobung ihrer Gaben keine Gelegenheit zu geben. Deshalb nimmt sich Gott bewusst zurück und verschafft uns Spielraum! Er regelt nicht alles so, dass uns nichts mehr zu regeln bliebe. Sondern er nimmt sogar in Kauf, dass wir vieles schlechter machen als er, damit wir aus Fehlern lernen können. Was ist unser Leben also anderes als eine Bühne, die Gott extra freigeräumt hat, damit wir sie mit unserem Spiel füllen?
Der große Garten der Schöpfung ist und bleibt natürlich sein, aber er stellt uns darin eine Parzelle zur Verfügung. Gott regiert weiterhin die Geschicke der Welt, aber er tut’s auf eine subtile Weise, die uns nicht einengt. Er redet nicht nur, sondern ist auch ganz Ohr, weil er von uns hören will. Er behält nicht allen Verstand für sich, sondern gibt auch uns zu denken. Er besteht nicht darauf, alles selber zu machen, sondern gönnte uns die Freude am kreativen Gestalten. Maschinen wären ihm zu langweilig. Er will mit uns in persönlichen Dialog treten. Damit wir aber überhaupt von ihm unterscheidbar werden, muss er sich in Freiheit Grenzen setzen und sich sozusagen kleiner machen, als er ist. Der Preis der Schöpfung ist ein Stück Selbstbeschränkung. Und da Gott neben sich (schon aus logischen Gründen) keinen „zweiten Gott“ schaffen kann, sind seine Geschöpfe weniger vollkommen als er. Er macht uns aber trotzdem Platz, weil er nicht egoistisch ist wie unsereiner, sondern Freude daran hat, seine Schöpfung mit jemandem zu teilen. Aus Liebe gibt er uns Raum zur Entfaltung, denn was man liebt, will man wachsen sehen. Aber folgt daraus, dass Gott nun mitten in unserem Leben „fehlte“? Nein, so ist das natürlich nicht. Fehlte Gott wirklich, fielen wir augenblicklich in das Nichts zurück, aus dem er uns gerufen hat! Aber er entscheidet sich, im Modus der Zurückhaltung präsent zu sein und unser Dasein auch durch das zu bestimmen, was er absichtlich nicht bestimmt. Wäre Gott auf zu offensichtliche Weise „da“, würde das auf die Geschöpfe erschlagend wirken, schockierend, verstörend und lähmend. Indem er aber auf indirekte Weise unser Leben trägt und seine Gegenwart verhüllt, indem er durch Menschen redet und in menschlicher Gestalt erscheint, indem er sich nur bezeugt, statt sich aufzudrängen, lässt er uns Raum, wir selbst zu sein. Und doch ist er auf diese Weise gerade nicht abwesend, sondern anwesend und tätig durch Unterlassung…
Darf ich das mit einem gewagten Bild illustrieren? Darf ich vorschlagen, Gott als das „Gefäß“ unseres Lebens anzusehen? Ein Gefäß kann aus Ton bestehen, aus Eisen oder Holz. Aber wäre es durch und durch aus Ton, Eisen oder Holz, ohne innen eine Aussparung zu haben, würden wir es nicht „Gefäß“ nennen. Denn wäre kein Loch drinnen, wo Ton, Eisen oder Holz fehlt, könnte man nichts hineintun. Eine Tee- oder Kaffeekanne, die innen nicht hohl wäre, könnte ihren Zweck nicht erfüllen. Sie wird überhaupt erst wertvoll durch den Raum innendrin, den sie mit ihrem Material nicht ausfüllt. Der Nutzen des Gefäßes besteht also darin, dass es Raum umschließt, den es selbst nicht beansprucht. Und in diesem Sinne ist Gott wirklich das „Gefäß“ unseres Lebens. Er umschließt und trägt alles, lässt dabei aber Raum für etwas von ihm Verschiedenes und bejaht damit uns als etwas ihm gegenüber Anderes und in gewissem Sinne Eigenständiges…
Doch was folgt aus alledem? Welche Konsequenzen sind zu ziehen? Die erste dürfte wohl sein, dass wir Staunen. Denn die Bewegung, die Gott da vollzieht, diese Selbstbeschränkung zu Gunsten anderer, sind wir von den Großen dieser Welt gerade nicht gewohnt. Und auch unser eigenes Empfinden würde sich dagegen sträuben. Denn welcher König rückt schon beiseite, damit das Küchenmädchen Platz hat? Welcher große Star tritt von der Bühne, um einem Anfänger seine Show und sein Publikum zu überlassen? Wer überhaupt macht sich kleiner, damit ein anderer groß wird? Welcher Gelehrte verzichtet auf Redezeit, um einem Narren geduldig zuzuhören? Und welcher Machthaber gibt dem Diener Spielräume, obwohl er dessen Fehler vorhersieht? Wir Menschen drängen stets in den Vordergrund, wollen mehr sein, mehr gelten, haben, dürfen und bestimmen. Wir machen uns breit! Gott aber nimmt sich zurück und tritt zur Seite, damit wir bei ihm Platz finden?
Ich denke, nachdem wir darüber gestaunt haben, dürfen wir es als große Ermutigung verstehen. Denn dass wir da sind, atmen, leben, lieben und lachen, geschieht auf höchsten Wunsch und Befehl. Gott selbst gibt uns den Lebensraum, den wir brauchen. Er selbst schafft die Voraussetzungen. Wenn sich unsere Daseinsberechtigung aber so direkt aus dem Willen des Höchsten ergibt – wer will sie uns dann streitig machen? Keiner muss sich die Luft zum Atmen erst durch Leistungen verdienen. Denn es ist Gottes eigener Wunsch, dass unsere Herzen schlagen. Und einer anderen Rechtfertigung unserer Existenz bedarf es nicht.
Nach Staunen und Ermutigung wird die dritte Konsequenz sein, dass wir die von Gott eingeräumte Bühne unserer Lebenszeit in seinem Sinne „bespielen“ und dabei unser Bestes geben. Denn wenn Gott uns Möglichkeiten eröffnet, würden wir ihm das durch Untätigkeit doch herzlich schlecht vergelten. Er gibt uns Verstand, damit wir ihn rechtschaffen nutzen! Er drückt uns den Pinsel in die Hand, damit wir kreativ werden! Er gibt uns ein Herz, damit wir mit anderen fühlen können! Er will Hände sehen, die sich zum Guten rühren! Und wenn er schon zuhört – sollten wir ihm dann nicht Lobpreis singen? Gott wäre zu Recht enttäuscht, wenn wir den Raum nicht füllten, den er uns überlässt! Das Gute in uns ist fröhlich zu entfalten!
Andererseits aber – das ist die vierte Konsequenz – dürfen wir uns von Gottes „Sich-Zurücknehmen“ auch eine Scheibe abschneiden. Denn wenn seine Liebe darin Ausdruck findet, dass sie anderen Raum gibt – sollten wir’s dann nicht im Umgang mit unseren Mitmenschen auch so halten? Gerade wenn der Andere schwächer ist als wir selbst, ist er darauf angewiesen, dass wir ihn zu Wort kommen lassen und nicht zur Seite drücken. Darum ist das eine große Tugend, wenn man sich zurücknehmen kann, wenn man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten nicht mit konkurriert, wenn man am großen Leistungsvergleich nicht teilnimmt, die große Bühne nicht ständig beansprucht und anderen gern den Vortritt lässt. Wie jede echte Tugend, fällt uns auch diese schwer. Denn unser Geltungsbedürfnis giert allzeit nach Anerkennung, und unser Stolz will Bestätigung. Aber Gottes Vorbild zeigt, wie viel edler der gesinnt ist, der sich zurücknimmt.
Der andere will glänzen? Man gönne es ihm! Er will im Mittelpunkt stehen? Man trete lächelnd beiseite! Er braucht Aufmerksamkeit, Ehre und Applaus? So überlasse man ihm die Bühne! Denn dass einer sich nur auf Kosten anderer Geltung verschaffen kann, und man ihn nur gelten lässt, wenn er das mit den Ellenbogen erzwingt – ist das nicht traurig? Und sollten sich nicht gerade Christen aus jenen Verdrängungswettbewerben heraushalten, in denen man nur nach oben steigt, indem man die anderen nach unten tritt? Da behandelt man das Leben wie eine Beute, die es zu erobern gilt. Für Christen ist es aber ein Geschenk, dessen man sich freuen darf! Und darum steht es uns gut an, es Gott nachzutun, und gerade die Schwächeren nicht zu bedrängen. So wie Gott können auch wir einander Raum geben – und sollten das nicht mit neidischen Gefühlen, sondern freudig tun. Denn man kann sich in engen Türen den Vortritt lassen. Und man kann auf Ämter und Posten verzichten, wenn ein anderer Freude daran hat. Weiß einer etwas und glänzt damit, kann man den Mund halten, sich die eigene Weisheit sparen und es ihm gönnen. Und wird ihm dann Ehre zu teil, kann man sich für ihn freuen. Denn Gott hat schließlich auch ihn geschaffen, damit er Raum habe in dieser Welt. Ja, Gott selbst nahm sich zurück, damit jener sich entfalten kann! Und ich sollte ihm die Spielräume, die er braucht, streitig machen? Nur der hadert mit seinen Grenzen, der lieber unendlich wäre. Doch selbst der unendliche Gott hat sich in Freiheit begrenzt, damit wir sein können! Darum lassen auch wir dem anderen die Luft zum Atmen, drücken wir ihn nicht an die Wand, drängen wir uns nicht auf und nicht vor! Denn der ist edel gesinnt, der ohne Groll im Hintergrund stehen kann, der das Rampenlicht gern den anderen lässt und schweigt, damit sie zu Wort kommen. Man ehrt durch solches Verhalten das gottgewollte Dasein des anderen. Und wenn es nicht aufgesetzt ist, sondern als natürlich empfunden wird, ist das die allerschönste der christlichen Tugenden, die man „Demut“ nennt. So seltsam es bei Gott klingen mag – wir lernen auch die Demut von ihm selbst! Denn er hat tausendmal weniger Grund, einen Menschen wichtig zu nehmen – und tut es doch. Gott erlaubt uns, auf seine Kosten da zu sein, und eröffnet uns das Leben als einen Freiraum, den wir improvisierend mit uns selbst füllen dürfen. Gott ist sich offenbar nicht sein „ein und alles“! Erstaunlicherweise sind wir das! Wir aber können seine Hinwendung zu uns nicht besser beantworten, als durch unsere Hinwendung zu ihm.
Bild am Seitenanfang: The Oxbow (The Connecticut River near Northampton 1836)
Thomas Cole, Public domain, via Wikimedia Commons