Gottes Allgegenwart

Gottes Allgegenwart

Glauben heißt, Gott in allen Dingen zu finden. Und dennoch ruft es Verwunderung hervor, wenn man das tut. Denn wer Gott in allen Dingen findet, scheint einem wichtigen theologischen Prinzip zu widersprechen: Muss Gott nicht von allen Dingen strikt unterschieden werden? Wird nicht oft betont, dass der Schöpfer „über“ seinen Geschöpfen steht? Wie soll man ihn also „in“ den Geschöpfen finden können?

In der Tat gilt, dass man zwischen Gott und der Welt klar unterscheiden muss. Daran ist gar nicht zu rütteln. Und doch kann diese Unterscheidung nicht so aussehen, dass wir eine Beziehung zu Gott hätten wie zu einer isolierten Größe „neben“ der Welt. Denn stünde Gott neben der Welt als etwas, was es „auch noch“ gibt, so wäre er nicht die alles umfassende und alles bestimmende Wirklichkeit. Er wäre dann nur ein Teilaspekt dieser Wirklichkeit. Unsere Gottesbeziehung müsste sich neben vielen anderen „weltlichen“ Beziehungen einreihen. Sie würde durch diese Beziehungen relativiert. Und der Glaube beträfe nur noch einen mehr oder weniger wichtigen Ausschnitt unseres Lebens. Man könnte wohl eine Stunde am Sonntagmorgen für „religiöse“ Betätigung reservieren. Der Rest der Woche aber bliebe davon unberührt, weil man sich da der „Welt“ zuwendet.

Das wäre wohl kaum der Glaube, von dem die Bibel spricht. Denn Gott und Welt zu unterscheiden, kann ja nicht bedeuten, dass man sie unverbunden nebeneinander stellt. Es kann nicht heißen, dass wir nach dem Gottesdienst auf die Straße hinaustreten und dabei Gott in der Kirche zurücklassen. Vielmehr begegnen wir ihm, wenn wir ihn „drinnen“ kennengelernt haben, auch überall „draußen“ in der Welt. Denn die Welt ist zwar nicht Gott. Und Gott ist auch nicht „in“ der Welt wie wir das sind. Aber die Welt ist „in“ Gott. Sie ist vollständig durchdrungen von Gottes Macht und wird vollständig getragen von seinem Willen, so dass ohne Gott kein Blatt vom Baum fällt und kein Haar von unserem Kopf. Gott ist die alles bestimmende Wirklichkeit – ohne ihn ist nichts, was ist. Sich dessen aber bewusst zu sein und überall hinter der bunten Vielfalt von Natur und Geschichte die schöpferische Hand Gottes wirksam zu sehen – das ist Glaube.

Freilich: Man könnte an dieser Stelle Zweifel anmelden. Denn was soll das eigentlich heißen, dass man Gott in allen Dingen „findet“ und sein Wirken „sieht“? Sehen denn nicht alle das Gleiche, wenn sie mit wachen Sinnen durch die Welt gehen? Beanspruchen die Gläubigen etwa, schärfere Augen zu haben als andere? Das klingt absurd. Und doch lässt sich an einem einfachen Beispiel zeigen, wie es gemeint ist: Nehmen wir an, eine Gruppe von Wanderern käme an einer mächtigen alten Dorflinde vorbei. Wenn die Wanderer dort stehen bleiben und den Baum betrachten, sieht dann jeder dasselbe? Ich behaupte: Nein! Denn wenn ein Bildhauer unter den Wanderern ist, dann sieht er in der alten Linde vor allem ausgezeichnetes Material zum Schnitzen – und vielleicht steht vor seinem inneren Auge schon die Statue, die er aus diesem Stamm herausarbeiten könnte. Wenn ein Historiker dabei ist, dann sieht er eine Gerichtslinde vor sich, die geschichtliche Bedeutung hat, weil unter solchen Linden im Mittelalter Recht gesprochen wurde. Ist ein Busunternehmer in der Gruppe, so sieht er ein Naturdenkmal, das touristisch erschlossen werden könnte, wenn man daneben einen Biergarten anlegen würde. Der Biologielehrer unter den Wanderern sieht in der Linde einen großen Pflanzenorganismus mit interessanten Spuren von Pilzbefall. Der Hobby-Maler sieht in dem Baum ein herrliches Motiv für eine Landschafts-Idylle, die er gern in Aquarelltechnik ausführen würde. Und wenn ein Kind dabei ist, dann sieht es wahrscheinlich ein Kletter- und Spielgerät, an dessen Ästen man prima eine Schaukel aufhängen könnte.

Mit anderen Worten: Wenn unterschiedliche Menschen dasselbe sehen, sehen nicht alle dasselbe. Sondern ein jeder sieht, wie er zu sehen gelernt hat – und was zu sehen er fähig ist. In diesem Sinne ist nun auch der Glaube eine Schule des Sehens. Und wer sie durchläuft, der kommt zu einer neuen Wahrnehmung der Welt. Denn der Glaube hat für die Dinge dieser Welt (nicht den einzigen, aber) den tiefsten Blick: Er sieht in allem Gottes schaffende und leitende Hand. Und er begegnet darum in allen Dingen Gott. Er sieht nicht bloß die Schönheit der Natur, sondern sieht darin einen Abglanz von Gottes Kraft und Herrlichkeit. Er erlebt nicht nur Tagespolitik und Weltgeschichte, sondern er sucht dahinter Gottes Führung zu erkennen. Er genießt nicht einfach Essen, Musik und Geselligkeit, sondern er erfreut sich dabei Gottes großer Freundlichkeit. Er erlebt Schicksalsschläge nicht als sinnlose Zufälle, sondern er ahnt dahinter Gottes raue Pädagogik. Er sieht in seinem Ehepartner nicht seine eigene „Eroberung“, sondern ein großes Geschenk Gottes. Er weiß, dass seine Freunde bei aller Freundschaft doch Sünder sind – wie er selbst. Und er weiß, dass seine Feinde trotz aller Feindschaft doch immer Gottes geliebte Geschöpfe bleiben.

Kurz gesagt: Der Gläubige macht überhaupt keine Erfahrung, die nicht in irgendeinem Sinne auch Gotteserfahrung wäre. Es begegnet ihm nichts, worin er nicht indirekt auch Gott begegnete. Und darum hat für ihn jede noch so alltägliche Handlung mit Gott zu tun. Denn Glaube ist keine „Sonderfunktion“ des Lebens, die man am Sonntag und zu besonderen Anlässen aktiviert. Sondern wenn Glaube seinen Namen verdient, dann ist er die „Grundfunktion“, in die alle anderen Funktionen und Beziehungen integriert sind.

Dem Gläubigen ist darum nichts so „banal“, dass es nicht mit Gott zu tun hätte. Denn Gott ist auch im Banalen. Und er ist auch im Harten. Er ist in der Frische des Windes. Und in der Wärme des Bettes. Gott ist im Schmerz meines Zahnes. Und er ist im Lachen meines Kindes. Er ist in der Peinlichkeit meines Versagens. Und er ist in meinem erfrischenden Schlaf. Er ist in der Grube, in die ich falle. Und er ist auch in der Hand, die mich wieder herauszieht. Denn „in ihm leben, weben und sind wir“ (Apg 17,28). Wenn das aber stimmt – was sollte dann einem Menschen je widerfahren können, was nicht auch Gotteserfahrung wäre, für den, der versteht? Freilich: Das Verstehen ergibt sich nicht einfach von selbst. Es setzt das Evangelium voraus. Und es setzt einen gereiften Glauben voraus. Denn Gottes Gegenwart in der Welt ist eine verborgene Gegenwart. Wer anfängt Gott mit der Welt zu verwechseln, der starrt vergeblich auf die Phänomene. Wer aber Gott aus dem Evangelium „kennt“, der vermag ihn auch in Natur und Geschichte „wiederzuerkennen“. Und der entdeckt dann in seinem ganzen Leben nichts mehr, was ihm nicht entweder von Gott gegönnt oder von Gott zugemutet wäre.

Die Vielfalt der Welt wird für ihn transparent wie das Glasfenster einer Kirche. Denn bunt ist so ein Glasfenster, wie die Welt auch bunt ist. Es enthält zahllose Farbnuancen. Und doch ist es nur das eine Licht der Sonne, das all die gelben, roten, blauen und grünen Scheiben zum Leuchten bringt. Kinder denken manchmal, es wären die Glasscheiben, in denen die Farbe steckt. Doch wenn draußen die Sonne untergeht werden alle Scheiben grau – und es zeigt sich, dass das Glas aus sich heraus nicht leuchtet. Erst wenn die Morgensonne wieder darauf scheint, dringt durch jede Scheibe ein bestimmter Anteil farbigen Lichtes. Es sind nicht etwa verschiedene Lichter! Nein – es ist nur das eine. Doch jede bunte Scheibe lässt uns einen bestimmten Farbanteil dieses Lichtes erkennen, während sie andere Anteile herausfiltert. Wenn aber Glas „transparent“ ist für das hindurchscheinende Licht – sollte dann nicht auch die Schöpfung „transparent“ sein können für den Glanz des Schöpfers, der dahinter steht? Sollte dem Glauben nicht jede Erfahrung eine (so oder so „gefärbte“) Erfahrung Gottes sein?

Der Ungläubige kann das nicht einsehen. Denn er meint ja, die Welt leuchte aus sich selbst heraus. Der Gläubige aber erhascht überall einen Blick auf Gottes Vielfalt und Reichtum. Hier erfährt er Gottes Geduld. Und dort Gottes Strenge. Einmal begegnet ihm Gott in strahlendem Glanz. Und ein anderes Mal in melancholischer Dämmerung. Doch ohne Gott ist der Gläubige nirgends. Und wenn er das bunte Ganze überblickt, wenn er Gott in allen Dingen findet, so bleiben seine Gedanken auch nicht bei den Dingen hängen, sondern sie steigen über die Dinge hinaus zu dem, dessen Abglanz sie sind. Der Glaube kann gar nicht anders. Denn hat man einmal erfasst, dass der Farbenglanz nicht in den Scheiben steckt, sondern in der Sonne dahinter, so findet man überall und jederzeit Gleichnisse und Hinweise auf den Schöpfer:

 

„Ich fragte die Erde, und sie sprach: Ich bin‘s nicht. Alles, was auf ihr ist, bekannte dasselbe. Ich fragte das Meer und seine Abgründe und das Gewürm, das in ihm lebt, und sie antworteten: Nicht wir sind dein Gott, suche höher, über uns! Ich fragte die säuselnden Winde, und das ganze Reich der Luft mit all seinen Bewohnern gab zur Antwort: ... Ich bin nicht Gott. Ich fragte den Himmel, die Sonne, den Mond und die Sterne, und sie sagten: Auch wir sind’s nicht, der Gott, den du suchst. Und ich sprach zu all dem, was draußen vor den Türen meines Fleisches steht: So sagt mir doch von meinem Gott, wenn ihr’s denn nicht seid, sagt mir etwas von ihm. Sie aber riefen mit gewaltiger Stimme: Er hat uns geschaffen! Meine Frage aber, das war meine Betrachtung, und ihre Antwort war ihre Schönheit.“ (Augustin)

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Hand of God from Sant Climent de Taüll

Museu Nacional d'Art de Catalunya, Public domain, via Wikimedia Commons