Alles hat seine Zeit
Ist ihnen mal aufgefallen, wie oft der Erfolg einer Unternehmung vom „richtigen Timing“ abhängt – und wie viel bloß darum schiefläuft und missrät, weil man es „zu früh“ oder „zu spät“ versucht? Es gibt talentierte junge Leute, die nur deshalb beruflich scheitern, weil man sie zu früh mit schweren Aufgaben betraut – ein Jahr später wären sie so weit gewesen! Und es gibt Pärchen, die jahrelang übers Heiraten nachdenken, bis sie es nach vielem Hin und Her zerredet und den rechten Moment verpasst haben. Mancher Politiker bringt eine gute Idee vor und wird nicht gehört. Doch einen Monat später schlägt ein anderer dasselbe vor – und alle sind begeistert. Der eine Künstler entwickelt seine Darbietung mühsam bis zur Vollkommenheit, nur um zu erleben, dass sie gerade dann, wenn er’s draufhat, außer Mode ist. Und ein anderer Künstler bleibt erfolglos, weil er seiner Zeit zu weit voraus ist und vom Publikum nicht verstanden wird. Ja, es ist vertrackt! Manch einer bringt große Opfer, um Probleme zu lösen, die sich bald darauf auch ganz von selbst gelöst hätten. Und ein anderer wartet geduldig auf günstige Gelegenheiten, nur um irgendwann festzustellen, dass sein Zug längst abgefahren ist. Es fällt schwer, nicht nur das Richtige zu tun, sondern das Richtige auch im richtigen Moment! Denn wie bei Früchten, die lange reifen und dann rasch verderben, scheint es für manche Dinge nur ein bestimmtes Zeitfenster zu geben, in dem sie funktionieren. Just in diesem Moment kann man die Frucht ernten und genießen. Doch kurz davor oder danach ist es wie verhext und alles Bemühen vergeblich. Man könnte das an einem Fußballspiel zeigen, bei der Erziehung eines Kindes oder im Verlauf einer Diskussion: Ein Impuls muss nicht nur gut sein, sondern muss auch zur passenden Zeit kommen – sonst verpufft er. Denn auf das „Timing“ kommt‘s an. Und das gelingt nicht so, dass ich die Dinge in meinen Kalender schreibe, wo ich sie gern hätte und sie mir gelegen kämen. Sondern es scheint, als wählten manche Ereignisse selbst den Termin, zu dem sie eintreten möchten. Es scheint, als hätten sie ihre eigene Meinung darüber, wann sie „dran“ sind. Denn gewisse Entwicklungen richten sich nicht nach der Zeit, die ich ihnen geben will, sondern nach der Zeit, die sie brauchen. Sie haben ihren eigenen Rhythmus und kommen nicht auf mein Kommando, sondern wenn es ihrer eigenen Logik entspricht. Denn wenn ich einen Apfelbaum noch so sehr anflehe Früchte zu tragen, wird er mir den Gefallen doch im Februar nicht tun. Und wenn ich im Frühjahr frischen Rasen gesät habe, hilft es auch nicht, täglich hinzugehen und an den grünen Hälmchen zu ziehen, damit sie schneller wachsen. Denn alles braucht seine Zeit. Und wie der Wein im Fass braucht auch ein Mensch Zeit, um zu reifen – und kann nicht vorzeitig zur Reife gezwungen werden. Jedes Ding hat seine Zeit, wann es „dran“ ist. Und es ist besser, sich darauf einzustellen. Denn so empfiehlt es schon der Prediger Salomo im Alten Testament und sagt: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“ (Pred 3,1-8). Geboren werden und sterben, pflanzen und ausreißen, töten und heilen, abbrechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, schweigen und reden, lieben und hassen – das alles hat jeweils seine Zeit. Und weil es sie von Gott her schon „hat“, muss ihm „seine“ Zeit nicht erst von Menschen eingeräumt oder zugewiesen werden. Die Dinge haben „ihre“ Zeit, schon bevor es uns einfällt, ihnen nach Gutdünken Zeit zu „geben“. Denn „ihre Zeit“ ist ihnen angewiesen von dem Allmächtigen, der alle Schicksale lenkt. Und da sich Gottes Vorsehung auf das gesamte Dasein erstreckt, ist damit allen Dingen zwischen Geburt und Tod ihre Zeit zugewiesen. Auch für das fernste Künftige, das uns noch ganz verborgen ist, steht längst in Gottes Drehbuch, wann es anfangen und aufhören soll (Ps 139,16 / Mt 6,27). Und zu einem anderen Termin weigert es sich stattzufinden, weil‘s nach Gottes Plan eben nicht „dran“ ist. „Alles hat seine Zeit“ bedeutet also nicht bloß, dass alles seine Zeit „braucht“ oder man allem Zeit „geben“ soll, sondern dass alles zu einer gewissen Zeit „an der Zeit ist“, weil’s so in Gottes Kalender steht – und der Mensch daran nichts ändern kann. Der große Weltprozess unterliegt Gottes Kontrolle, nicht unserer. Auch die menschlichen Entscheidungen ändern nichts an Gottes Plan, sondern lassen nur zustande kommen, was Gott vorgesehen hat. Und wenn der Mensch das ganz unerhört findet und nicht akzeptieren will, wenn er gegen Gottes Fügung zu erzwingen versucht, was nicht „dran ist“, und voller Anmaßung meint, die Welt sollte doch besser seiner Uhr folgen, so richtet er damit nur Chaos an und erreicht gar nichts. Denn Gott möchte zwar, dass wir die Früchte ernten, die er wachsen lässt, und gönnt uns auch, dass wir davon satt werden. Doch wann welche Frucht für uns reif wird und gepflückt werden kann, bestimmt er. Aus Gottes Vorsehung werden die Ereignisse geboren, wie eine Mutter ihre Kinder gebiert. Und wie bei einer Schwangerschaft wäre es sehr dumm, den Prozess verkürzen oder verlängern zu wollen. Wenn wir da nervös auf die Uhr schauten und forderten, das Kind müsse dringend einen Monat früher aus dem Mutterleib heraus oder es solle aus Termingründen einen Monat länger drinbleiben – was könnte daraus folgen als nur Unglück und Leid? Geboren werden und sterben, pflanzen und ausreißen, töten und heilen, abbrechen und bauen – das alles hat seine Zeit und will von uns keine andere zugewiesen bekommen. Denn wenn der Mensch gegen Gottes Plan Anfänge und Schlusspunkte zu setzen versucht, wird darauf kein Segen liegen. So ein Mensch weint und lacht dann zur Unzeit, klagt und tanzt, schweigt und redet, liebt und hasst zur Unzeit. Er schaut nicht mehr auf den großen Dirigenten, sondern reißt den Taktstock an sich, um dem Orchester ein anderes Tempo vorzugeben. Willkürlich versucht er an Gottes Uhr zu drehen – und verdirbt durch Vorwegnahme oder Verzögerung auch das, was zu „seiner“ Zeit sehr gut gewesen wäre. Denn in dieser Welt geht alles erst, wenn die von Gott bestimmte Stunde gekommen ist. Und wenn‘s uns auch zerreißen will: vorher geht es nicht! Im Neuen Testament kann man übrigens schön beobachten, wie sorgfältig Jesus auf den göttlichen Zeitplan achtet und für jeden Schritt die rechte Stunde abwartet. Als Maria ihn zu einem Wunder drängen will, sagt er, seine Stunde sei noch nicht gekommen (Joh. 2,4 / vgl. Joh 7,6). Und auch seine Verhaftung erfolgt erst, als die entsprechende Stunde da ist (Joh 7,30 / Joh 8,20 / Lk 22,53). Jesus spricht von einer Stunde der Passion, von einer bestimmten Stunde, in der sich die Jünger zerstreuen, und ebenso von eine Stunde der Verherrlichung (Joh 13,1 / Joh 16,32 / Joh 17,1). Er ist keineswegs zu einer beliebigen Zeit in die Welt gekommen, sondern als die Zeit „erfüllt“ war (Gal 4,4 / Mk 1,15 / Eph 1,10). Und Jesus mahnt auch seine Jünger und Gegner, die Zeichen der Zeit zu erkennen (Lk 12,54-56). Wir sollen auf Gottes „Timing“ achten. Und das auch in der eigenen, kleinen Lebensgeschichte. Denn wenn uns etwas gerade nicht in den Kram passt, kann es nach Gottes Kalender trotzdem für uns vorgesehen sein. Und es steht uns dann nicht zu, die Annahme des Pakets zu verweigern. Reichtum oder Armut, Gesundheit oder Krankheit, Gemeinschaft oder Einsamkeit, Freude oder Leid, Leben oder Tod: Gott schreibt uns diese Dinge auf unseren Stundenplan. Und er denkt sich etwas dabei. Das zwingt uns durchaus nicht zum Fatalismus. Denn manchmal will Gott uns nicht in passiver Ergebung sehen, sondern in aktivem Widerstand. Es hindert uns auch nicht, Dinge anzustreben und Chancen zu ergreifen, wenn sie sich bieten. Wir sollen unser Glück durchaus beim Schopfe fassen, wenn die Gelegenheit da ist! Aber niemand sollte sich wundern, wenn’s anders kommt als gedacht. Denn während wir uns einen Weg erdenken, behält Gott sich doch vor, unseren Schritt zu lenken (Spr 16,9 / Spr 19,21 / Jer 10,23). Natürlich pflücken wir trotzdem die Früchte, die uns vor der Nase hängen. Wir dürfen fröhlich auf das zugreifen, was Gott uns anbietet! Aber wenn wir mit dem Schicksal hadern und ihm etwas abzwingen wollen, haben wir vergessen, wer hier das Drehbuch schreibt. Und Gott trotzig den Taktstock aus den Händen zu winden, ist dann ein dummer und vergeblicher Versuch. Denn Gott lässt uns die Vorsehung nicht regieren. Das aber nicht bloß mit unwilligem Murren hinzunehmen, sondern es ausdrücklich zu begrüßen – das ist die Weisheit, die der Prediger Salomo empfiehlt. Denn was wollte daraus werden, wenn Gott die Geschicke der Welt tatsächlich in unsere Hände legte? In kürzester Zeit hätte einer dem anderen das Leben zur Hölle gemacht! Und darum ist es gut, dass der Allmächtige das Steuer nicht aus der Hand gibt. Er wird alles schenken, was er uns zugedacht hat. Und er wird alles nehmen, was uns nicht bleiben soll. Doch in beidem kommt Gott ohne unsere Ratschläge aus. Und der Mensch ist wirklich verrückt, wenn er meint, der Lauf der Welt müsse auf seinen Kalender abgestimmt werden. Denn Gott gibt den Dingen ihr Stichwort, so dass sie auf der Bühne erscheinen – sie lassen sich von uns weder raufzerren noch runterschubsen! Und dennoch versuchen Menschen, ihr Leben anzugehen wie ein von ihnen selbst strukturiertes, eng getaktetes „Projekt“. Als hätte Gott nicht mitzureden, planen sie Schulabschlüsse, Jobangebote, Lebenspartner und Wunschkinder. Und wenn’s anders kommt als bestellt, sind sie empört. Was zu früh an ihre Tür klopft, wird abgewiesen. Und was ausbleibt, wird umgehend eingefordert. Was sie verpasst haben, soll wiederholt werden. Und was ihnen zu lang dauert, möchten sie herbeizwingen. Sie sehen die eigene Biografie als ihr Gesamtkunstwerk, in das ihnen Gott nicht dreinreden soll. Und sie missverstehen damit vollständig ihre Rolle in dieser Welt. Denn die Kirschen sind hier immer erst reif, wenn sie reif sind. Wenn ich sie zu früh hinunterschlinge, wird‘s mir nicht bekommen. Und wenn ich reife Kirschen ungepflückt hängen lasse, wird’s auch nicht besser. So kommt die Liebe ebensowenig auf Bestellung wie das Glück, die Weisheit oder der Tod. Sondern alles kommt, wenn Gott es schickt. Und wenn uns sein Kalender auch seltsam erscheint, enthält er doch niemals Fehler. Denn Gottes Uhren gehen richtiger als unsere. Wir können ergreifen, was er uns bietet – oder können es lassen. Wir nutzen das Zeitfenster, das er uns öffnet – oder nutzen es nicht. Aber Beschwerden nimmt die Vorsehung so wenig entgegen wie Bestellungen. Gott spielt uns überraschende Bälle zu, die wir annehmen dürfen, um Chancen zu verwerten. Doch wenn wir Gottes Vorlagen nicht annehmen oder nichts daraus machen, ist es unsportlich, hinterher zu meckern. Denn Gott führt Regie. Manchmal lässt er kommen, womit wir schon nicht mehr rechneten. Und manchmal bleibt aus, was wir sicher erwartet haben. Oft verblüfft uns Gott, und wir müssen improvisieren. Aber gerade weil er nicht alles im Voraus verrät, kommt auch keine Langeweile auf. Und wir würden nur alles verderben, wenn wir ihm etwas vorschreiben wollten. Denn alle Dinge haben längst die ihnen von Gott bestimmte Stunde. Die Gelegenheit zum Lieben kommt, und auch die zum Streiten, zum Siegen und zum Ausruhen: man ergreife sie – oder lasse es! Die Gelegenheit zum Frieden kommt, auch die zum Aufbauen, zum Niederreißen, zum Lernen und Vergessen: man nutze sie – oder eben nicht! Aber man spare sich das Lamentieren. Denn so sehr wir Gott bitten dürfen, kann ihm doch keiner vorgreifen oder ihm etwas abtrotzen. Sucht man aber ein Bild für den klugen Umgang mit der gottbestimmten Zeit, so ist es der Gärtner oder Landwirt, der den Jahreslauf kennt und die Zeichen der Zeit liest, um sich dem Rhythmus der Natur anzupassen. So ein Landwirt sät, wenn es dran ist, und erntet, wenn’s was zu ernten gibt. Er respektiert aber jederzeit die Eigenlogik der natürlichen Prozesse. Und er bildet sich nicht ein, dass er etwas erzwingen könnte, indem er früher aussät als alle anderen – oder später erntet als die anderen. Sicher tut er, was er kann, und ist dabei fleißig! Aber er versucht nicht, die natürlichen Prozesse zu regieren, sondern fügt sich ein, wie es schließlich auch die Tiere tun. Wenn’s an der Zeit ist, fliegen die Wildgänse nach Süden, und die Lachse schwimmen die Flüsse hinauf. Die Tiere hadern nicht, sondern nehmen die Jahreszeiten, wie sie kommen. Und gerade so entspricht es auch christlicher Weisheit, mit Gottes Timing umzugehen – dass wir uns nämlich seiner Vorsehung gegenüber als Empfänger verstehen und nicht als Inhaber von Rechten, die etwas fordern könnten. Bietet uns Gott eine überraschende Chance, einen tollen Job, ein familiäres oder sonstiges Glück, müssen wir nicht grübeln, ob denn wohl der Zeitpunkt stimmt – sondern wenn Gott meint, etwas sei „dran“, greifen wir fröhlich zu! Bietet Gott uns aber etwas anderes nicht, was wir doch gern hätten, müssen wir trotzdem nicht mit ihm zanken, denn er ist uns ja nie etwas schuldig. Gott weiß am besten, wofür in unserem Leben Zeit sein soll – wir wissen es nicht! Warum sollten wir also nicht den Dingen „ihre“ Zeit lassen? Viele sträuben sich dagegen und erreichen doch nicht das Geringste. Unzufrieden mit der Gegenwart eilen sie in Gedanken der Zeit voraus oder eilen in der Zeit zurück – als fände ihr Leben ohne sie statt, wenn sie nicht „just in time“ zur Stelle wären. Entweder geht es nicht schnell genug oder sie meinen, die Zeit rinne ihnen durch die Finger. Doch bleibt es dabei, dass der Himmel bestimmt, in welchem Takt die Uhr unseres Lebens tickt. Und wir machen uns zum Narren, wenn wir ihr den Zeiger vor- oder zurückdrehen wollen. Ganz im Gegenteil wäre es richtiger und klüger, wenn wir sagten: „Prima, meine Zeit steht in Gottes Händen – da ist sie gut aufgehoben!“ (vgl. Ps 31,16). Doch viele besäßen ihre Zeit lieber so wie man Geld besitzt, um frei darüber zu verfügen. Und die werden enttäuscht. Denn tatsächlich ist Zeit ein täglich neues Geschenk, das irgendwann ausbleiben wird. Die Zeit entzieht sich unserer Kontrolle. Wir gehen nicht ewig „in die Verlängerung“, sondern sterben auch. Schlimm ist das aber nur, wenn wir in all der Zeit verpasst haben, was uns über sie hinausführen und Gott nahe bringen sollte. Denn alles andere, was unsere Tage füllt, versinkt in der Vergangenheit. Eines aber hat nicht nur „seine Zeit“, sondern hat die Verheißung der Ewigkeit. Und dies eine ist der Bund, den wir mit Gott schließen durch den Glauben. Dieser Bund beginnt zwar in der Zeit. Er trägt uns aber nicht nur durch die Zeit bis an ihr Ende, sondern trägt uns danach über alle Zeit hinaus – in Gottes Ewigkeit hinein. Und wer das weiß, muss sich über den seltsamen Terminkalender seines Lebens nicht mehr ärgern. Er muss nicht darüber schimpfen wie ein Schüler über seinen Stundenplan. Sondern er weiß, dass Gott ihm diesen Stundenplan mit Bedacht aufgestellt hat, damit der unstete Fluss seiner Zeit einmal mündet in das Meer der Ewigkeit. Und so einer kann dann sagen: „Danke, Herr. Ich nehme diesen und jeden weiteren Moment aus deinen Händen. Und wenn sie vorüber sind, lege ich meine Tage und Jahre vertrauensvoll in deine Hand zurück. Danke, Herr. Bei all der Zeit, die ich vergeudet habe, blieb mir doch genug Zeit übrig, um dich zu finden. Und diese eine genutzte Chance, dieser Hauptgewinn wiegt mir alles auf, was ich in diesem Leben vielleicht verpasst habe.“
Bild am Seitenanfang: Basket of Cherries
Félix Vallotton, Public domain, via Wikimedia Commons