Die menschliche Seele
Ist sie unsterblich?
Wenn wir an unsere Vergänglichkeit erinnert werden und an all die Verstorbenen, die nicht mehr unter uns sind, befällt uns so etwas wie Wehmut und stille Betrübnis. Denn viele, die wir verloren haben, obwohl wir sie gar nicht entbehren konnten, sind im Dunkel des Todes versunken. Und wir, die wir uns immerhin erinnern, können sie auch mit noch so viel Erinnerung dem nicht entreißen, dass ihr Leben vergangen ist. Daraus entsteht ein Gefühl der Ohnmacht. Und weil wir nur zu gut wissen, dass auch wir einmal dieser Welt abhanden kommen, weil jede Krankheit uns daran erinnern, dass auch unser Körper ein Verfallsdatum hat, macht uns das – je nach Mentalität – gekränkt, zornig oder verzweifelt. Denn unser Leben zu erhalten, ist ja alle Tage unsere Hauptbeschäftigung, die allerhand Mühe und Willenskraft kostet – und die dann auf längere Sicht doch erfolglos bleiben muss, weil das Leben eines Tages auch uns aussortiert und dem Tod überlässt. Ist es da ein Wunder, dass der Traum von der Unsterblichkeit die Menschheit schon immer bewegt? Ja, unsterblich zu sein, unbesiegbar und „ewig jung“, davon träumt der Mensch seit es ihn gibt. Denn wenn er unsterblich wäre, hätte er endlos Zeit für alles und wäre Gott-gleich ewig, er müsste sich nie verabschieden von dem, was er liebt, und müsste nicht fürchten, jemals vom Tod unterbrochen und abgebrochen zu werden. Von unsterblichem Ruhm träumen darum Feldherren, Schriftsteller und Stars. Von ewiger Jugend träumt so manche Frau, wenn sie Antifaltencrem kauft. Und auch der ganze Medizinbetrieb ist darauf angelegt, unser Leben maximal zu verlängern. Mancher Forscher hofft, den Alterungsprozess zu stoppen oder den Krebs zu besiegen, damit der Mensch mit steigender Lebenserwartung der Unsterblichkeit immer näher kommt. Und doch, das ist das Absurde, wissen viele nicht einmal, wie sie einen regnerischen Nachmittag herumbringen sollen ohne sich zu langweilen oder den Fernseher anzumachen. Da fragt man sich schon, ob der Mensch mit all der Zeit, die ihm Unsterblichkeit bescheren würde, überhaupt etwas anzufangen wüsste! Würde dieses Erdenleben bei ewiger Verlängerung nicht zur öden Wiederholung? Und sind wir sicher, dass wir in unserer heutigen Verfassung – so beladen mit Schuld und Schwäche – wirklich verewigt werden wollen, um dann ewig so zu bleiben? Hat der Tod nicht auch seine Berechtigung, insofern er untergehen lässt, was an uns verkehrt ist, und dabei viel Peinliches und Unvollkommenes tilgt, das in diesem Leben ohnehin nicht mehr besser geworden wäre?
Tatsächlich hat das seine Ordnung, dass unser Erdenleben endet. Es ist einerseits der „Sünde Sold“, wie Paulus sagt, es ist der Lohn unserer Verkehrtheit. Und es ist andererseits die Chance, einen guten Tausch zu machen. Denn wenn unser Leib stirbt, ist damit die Frage nach der Unsterblichkeit noch keineswegs erledigt. Ein verlängertes Erdenleben ist damit zwar ausgeschlossen. Aber es könnte schließlich sein, dass wir eine unsterbliche Seele haben. Oder ist es nicht genau das, was im christlichen Abendland über Jahrhunderte hinweg ganz selbstverständlich angenommen wurde? Ist es nicht das, was die griechische und römische Antike glaubte, und was nicht zuletzt auch die Bibel bezeugt? Ist es nicht in fast allen Kulturen und Religionen uralte Überzeugung, dass der Kern der Person, dass nämlich ihre „Seele“ nach dem Tod in irgendeiner Weise fortbesteht? Tatsächlich können wir das auch aus dem christlichen Glauben heraus bejahen und können Trost darin finden. Denn unsere Verstorbenen sind nicht einfach „weg“ oder unauffindbar „verloren“, sondern sind für Gott und vor Gott ganz gegenwärtig.
Nur müssen wir, wenn wir in diesem Sinne von einer Unsterblichkeit der menschlichen Seele sprechen, genau dazu sagen, wie wir es meinen. Denn sonst laufen wir Gefahr missverstanden zu werden. Die Dichter und Denker der Antike hielten die menschliche Seele nämlich auch schon für „unsterblich“. Die heidnischen Griechen und Römer verwendeten denselben Begriff. Sie meinten aber durchaus etwas anderes. Denn Leute wie Platon oder Aristoteles dachten, eine jede menschliche Seele habe schon einmal vor ihrer irdischen Existenz zur himmlischen Welt gehört. Sie meinten, jede Seele sei göttlicher Herkunft, ja, die Seele sei sozusagen ein kleines Stück, ein Splitter von Gott selbst und gehöre daher substanziell schon immer zur idealen und ewigen, himmlischen Welt. Diese Seele dachte man sich nur vorübergehend mit einem irdischen Leib verbunden, der von vornherein als minderwertig galt, weil er materiell und vergänglich ist. Ja, diesen Leib, den angeblich schlechteren Teil des Menschen, hielt man geradezu für einen Gefängnis, in das der göttliche Seelenfunken eingesperrt ist. Und den Tod konnte man dann folgerichtig als eine Befreiung ansehen, weil mit dem Tod das Gefängnis des Leibes zerbrach, und der Seelenfunken in die himmlische Welt zurückkehren durfte, wo er seinem Wesen und seiner Herkunft nach schon immer hingehörte.
Nun, die ganze Vorstellung ist schmeichelhaft für jene, die gerne glauben wollen, tief in ihnen wohne etwas Göttliches. Was aber ist falsch daran? Was stimmt nicht? Aus christlicher Sicht eine ganze Menge! Denn zunächst einmal ist es der Bibel fremd, den Menschen in zwei Teile zu zerlegen, von denen der Leib angeblich der schlechtere sein soll. Vielmehr sagt der Schöpfungsglaube sehr deutlich, dass der Leib des Menschen eine gute Gabe Gottes ist und keineswegs ein „Kerker der Seele“. Konsequenter Weise schildert die Bibel auch die Auferstehung und das Reich Gottes nie als „leiblose“, rein geistig Existenz, sondern immer als ein Dasein in neuer, himmlischer Leiblichkeit. Darüber hinaus aber ist die griechische Vorstellung von der Seele abzulehnen, weil darin die Unsterblichkeit wie eine Beschaffenheit oder innere Qualität der Seele erscheint. Man stellt sich die Seele unzerstörbar vor, weil sie sozusagen ein kleiner Splitter von Gott selbst sein soll. Doch auch das ist – biblisch betrachtet – großer Unsinn, weil dabei der strikte Unterschied von Schöpfer und Geschöpf übersehen wird.
Wohl kommt der Mensch aus Gottes Hand! Aber deswegen ist am Menschen noch nichts „göttlich“ und nichts „unzerstörbar“. Weder Geist noch Leib oder Seele haben von sich aus das Potential zur Ewigkeit. Denn der Mensch ist seit dem Sündenfall nicht nur „in Teilen“ vergänglich, sondern ist es ganz und gar! Darum gibt es auch keinen Automatismus, nach dem die Seele eines Verstorbenen ganz von selbst zum Himmel aufstiege, weil sie dort hingehört, sondern es gibt in biblischer Sicht den Tod, der den ganzen Menschen betrifft, und es gibt die Auferstehung, die ebenfalls den ganzen Menschen betrifft. Es gibt kein Weiterleben, das automatisch erfolgte, sondern nur eines nach dem freien Willen Gottes. Die heidnischen Dichter und Denker irrten also, wenn sie meinten, der Mensch habe einen unzerstörbaren Kern. Sie verstanden nicht den engen Zusammenhang von Leib und Geist. Und sie überschätzten das Geistige, das sie an sich schon für unvergänglich hielten. Ist es also klug, wenn Christen dasselbe Wort benutzen und genau wie die alten Griechen von einer „Unsterblichkeit der Seele“ reden?
Wenn wir es tun, müssen wir uns zumindest vor Missverständnissen schützen und müssen sagen, dass wir etwas Anderes meinen als z.B. Platon. Denn was Christen „Unsterblichkeit“ nennen, das verdankt die Seele nicht ihrem eigenen Beharrungsvermögen, sondern allein der Treue und Beharrlichkeit Gottes. Mit anderen Worten: Dass die Toten nicht einfach „nichts“ sind, nicht verschwunden und nicht verloren, beruht einzig darauf, dass Gott ihrer gedenkt, dass er sie weiterhin kennt, dass er sie nicht vergisst und sie aus der Beziehung zu ihm auch nicht entlässt. Gottes Auge ruht weiterhin auf den Verstorbenen – und nur das verleiht ihnen die bleibende Wirklichkeit, die sie aus sich selbst heraus nicht haben. Wir müssen also allen widersprechen, die im Menschen selbst etwas Unzerstörbares vermuten. Auf der anderen Seite aber müssen wir auch denen widersprechen, die ins entgegengesetzte Extrem verfallen und mit der völligen Zerstörung des Sterbenden rechnen. Das ist der größere Teil unserer Mitmenschen! Denn die heute vorherrschende, materialistische Sicht der Dinge setzt wie selbstverständlich voraus, der Mensch würde durch den Tod komplett ausgelöscht. Und auch an dieser zweiten Front kommt es auf Deutlichkeit an. Denn die materialistische Überzeugung, es gäbe so etwas wie eine Seele gar nicht, nach dem Tod sei einfach „nichts“, und der Mensch sei danach ausgelöscht wie „nie gewesen“, ist genauso unbiblisch wie die Seelenlehre der Griechen – und ist auch mindestens so gefährlich, weil der, der sie vertritt, irriger Weise annimmt, mit seinem Leben ende auch seine Verantwortung. Viele Zeitgenossen, die sich für besonders aufgeklärt und nüchtern halten, versuchen mit aller Macht im Diesseits selig zu werden, nehmen jedes Vergnügen mit und nehmen’s ansonsten nicht so genau – weil sie meinen, mit ihrem Tod in ein großes Dunkles Gar-Nichts zu verschwinden. Sie verlassen sich darauf, dass mit dem Tod „alles aus“ sei, rechnen mit keiner Fortexistenz und bereiten sich auch auf nichts vor. Sie glauben ganz fest, dass ihr Seelenleben bloß eine Körperfunktion sei, die mit den übrigen Körperfunktionen erlischt. Doch diesen Menschen muss man aus biblischer Sicht ein wahrhaft böses Erwachen vorhersagen, weil Gott nicht vorhat, sie einfach so in den Tod entwischen zu lassen. Nein – es wird sich keiner in den Tod davonstehlen, sondern ein jeder wird vor seinen Schöpfer gestellt, um ihm Rechenschaft zu geben. Und wahrlich mancher, der dann belangt wird, wird sich wünschen, es wäre mit dem Tod „alles aus“ gewesen, weil er dann nämlich unsterblich lange seine Verantwortung spürt und ganz unverhofft eine Ewigkeit verbringt – in der Verdammnis. Ja, manch einer würde sich nicht Unsterblichkeit wünschen, wenn ihm klar wäre, dass dies bedeutet, Gott niemals los zu werden. Mancher wird sich wünschen, er könnte sich die Bettdecke des Todes über beide Ohren ziehen und sich darunter verkriechen. Aber das wird keinem gelingen. Denn in dem genannten Sinne sind wir unsterblich – nämlich präzise in dem Sinne, dass Gott uns aus der Beziehung zu ihm niemals entlässt.
Wir werden unser Dasein nicht endlos verlängern, denn einen unzerstörbaren Kern haben wir nicht. Wir werden aber auch nicht einfach ins Dunkle verschwinden, weil Gottes Blick uns festhält. Gott wird keinen von uns jemals vergessen, wir werden ihm alle gegenwärtig sein von Ewigkeit zu Ewigkeit. Aber den einen wird er eben auf beglückende, und den anderen auf fürchterliche Weise gegenwärtig sein. Für die einen wird die ewige Gegenwart vor Gottes Angesicht unendlichen Trost bedeuten und unendliche Freude. Und für die anderen wird es ein Albtraum sein, dem Zorn Gottes unendlich ausgesetzt zu bleiben und seinem Blick nirgends zu entrinnen. Wer wir am Tag unseres Todes sind, dieser Mensch werden wir für die Ewigkeit bleiben – sei es im Frieden mit Gott oder im Unfrieden. Und diese langen Konsequenzen unseres kurzen Lebens sollten uns gewärtig sein, damit wir aufwachen und über die uns verbleibende Zeit ernsthaft nachdenken! Im Blick auf die Verstorbenen aber darf uns das Gesagte trösten. Denn „ausgelöscht“, „verloren“ oder „vergessen“ ist keiner von ihnen. Das Neue Testament sagt deutlich genug, dass die Seelen der Verstorbenen nach dem Tod bewahrt bleiben bis zum Jüngsten Tag, um bei der Auferstehung mit ihrem Leib neu vereint vor den Richterstuhl Gottes zu treten und dort endgültig in die Gemeinschaft des Reiches Gottes aufgenommen oder von dieser Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Keiner wird einfach in seinem Grab bleiben, und keiner wird aus eigener Kraft auferstehen, sondern alle werden da sein, weil Gott an ihnen festhält. Unsere Untreue ist der Grund unseres Todes, aber Gottes Treue ist der alleinige Grund unserer Unsterblichkeit. Weil das aber auch für die Verstorbenen gilt, darum müssen wir um sie nicht in Sorge sein. Sie sind nicht bloß in unserer Erinnerung aufgehoben – die währt ja nicht länger als unser eigenes Leben. Sondern sie sind in Gott aufgehoben, in seinem Gedenken, in seiner Treue und seiner Beharrlichkeit. Er hat nie einen vergessen. Und was er festhält, das reißt ihm auch keiner aus der Hand. Darum sind wir zwar von unseren Lieben getrennt nach dem Augenschein dieser Zeit, sind aber zugleich mit ihnen vereint in Gott, weil ihm die Verstorbenen genauso nah sind wie die Lebenden – und es bleiben…
Bild am Seitenanfang: Death and the Miser
Jheronimus Bosch, Public domain, via Wikimedia Commons