Vom Kommen und Gehen des menschlichen Glanzes
Wir haben schon oft Silvester gefeiert. Und doch beinhaltet dieser Tag eine Überraschung, die paradoxer Weise jedes Jahr dieselbe ist – weil wir immer wieder erschrecken über das Eilen der Zeit und den Wechsel der Dinge. Mensch, sagt man sich, letztes Jahr um diese Zeit lebten der und der noch! Wir planten Projekte, die längst schon wieder abgehakt sind! Und wir machten uns eine Menge Sorgen, die unnötig waren, weil alles ganz anders kam! Man erinnert sich an manches so lebendig, als wär’s gestern gewesen, und doch sagt der Kalender, es sei schon 20 Jahre her! Man schaut erschrocken in den Spiegel, ist selbst nicht mehr der, der man einmal war, und fragt sich, wie das alles bloß gekommen ist! Wenn dieselbe Irritation aber bei jedem Jahreswechsel wiederkehrt – was sollen wir dann damit machen? Sollten wir sie einfach mit Sekt herunterspülen?
Ich denke damit wäre eine Chance verschenkt. Denn der vielfache Wechsel und Wandel hat uns ja etwas zu sagen! Er kann uns die Augen dafür öffnen, dass wir als Person mit unseren Kräften, Eigenschaften und Qualitäten nicht so innig und dauerhaft verbunden sind, wie wir meinen. Denn ein jeder redet zwar von „seiner“ Kraft und „seinem“ Wissen, von „seinem“ Haus und „seinem“ Ansehen, „seiner“ Gesundheit, „seinen“ Freunden und „seinen“ Fähigkeiten (als wären diese Dinge schon immer „sein“ gewesen und es auch blieben). Aber das stimmt eben nicht! Wir meinen, diese Qualitäten wären Aspekte unserer Person, die zu uns gehören wie das Gewicht zum Blei, die Hitze zum Feuer und die Nässe zum Wasser. Doch wenn wir den Wandel der Jahre überblicken, wird deutlich, dass wir unsere Qualitäten erst nach und nach erworben haben, und sie uns nach und nach auch wieder abhanden kommen. Wir sagen zwar „ich“ und „mir“ und „mein“ und „mich“ – „meine“ berufliche Stellung, „mein“ Fachwissen, „mein“ Freundeskreis, „meine“ Ausdauer beim Wandern, „meine“ Schlagfertigkeit, „mein“ gutes Gedächtnis! Aber in Wahrheit ist das alles nur eine Zeit lang „unser“ und geht dann weiter, wie ein Wanderpokal oder wie die Krone eines Königs, die einst auf dem Kopf des Großvaters saß und über kurz oder lang den Kopf des Enkels schmücken wird.
Nehmen sie z.B. das Wissen. Denn das ist auch so ein „Wanderpokal“. Als wir 10 Jahre alt waren, waren wir im Vergleich zu heute ziemlich dumm. Aber wir hatten Zeit und hatten Lehrer, so dass wir im Austausch gegen Zeit und Mühe Wissen erwarben. Es floss sozusagen von den Lehrern zu uns hinüber und füllte unseren Speicher. Heute kommen wir uns einigermaßen klug vor und bedauern vielleicht unsere Lehrer, weil einige von ihnen tot sind, und andere gar nicht mehr viel wissen, weil sie dement oder senil sind. Aber meinen sie, es würde uns besser ergehen? Vielleicht können wir heute noch Wissen weitergeben an einen Lehrling oder einen Enkel. Aber sehr bald können uns die geistigen Kräfte verlassen, so dass wir mental dorthin zurückkehren, wo wir mit 10 Jahren waren, und eines Tages nicht mal mehr unsere Kinder erkennen. Was uns ausmacht, unterliegt dem Wandel, das Leben ist immer im Fluss! Und wir sind ständig damit beschäftigt, vorhandene Potentiale einzusetzen und gegen etwas anderes zu tauschen, so wie Händler auf dem Markt Waren und Währungen in einander konvertieren. Haben wir Kraft und Zeit, können wir die in Arbeit umsetzen und für die Arbeit Lohn verlangen. Den Lohn setzen wir unter anderem in Lebensmittel um – und die erneuern unsere Kraft. Man kann auch Zeit und Geld aufwenden um sich zu bilden, kann mit dieser Bildung Ansehen erlangen, durch das Ansehen ein Amt gewinnen und durch das Amt wiederum zu Macht kommen. Investiert man hin-gegen in Charme und Hilfsbereitschaft, erwächst daraus ein Freundeskreis, von den Freunden kann man Informationen beziehen und diese wieder vorteilhaft einsetzen.
So tauschen wir stets eine Währung in die andere, geben das eine und bekommen das andere. So wie mancher in der Jugend mit einem Übermaß an Arbeit seine Gesundheit ruiniert, um dabei ein Vermögen anzuhäufen. Und denselben sehen wir dann im Alter, wie er genau dieses Vermögen wieder den Ärzten geben muss, um einen Teil seine Gesundheit wiederzuerlangen. Es ist ein strategisches Spiel, in dem jeder einsetzt, was er hat. Der eine Schönheit und Charme, der andere Erfahrung und Klugheit, der dritte Körperkraft, und der vierte Geduld und Fleiß. Nur – was immer wir zum Tausch einsetzen ist flüchtig, und das Erworbene ist es gleichermaßen, so dass nichts von alledem auf Dauer „unser“ ist, sondern alles einem Wanderpokal gleicht, einer Leihgabe oder einer Königskrone, die sich heute dieser aufsetzt und morgen jener. Am Anfang unseres Lebens liegen wir hilflos auf dem Rücken. Zwischendurch kommen wir uns eine Zeit lang großartig vor. Und am Ende liegen wir wieder hilflos auf dem Rücken, um beim Verlassen dieser Welt nichts von dem mitzunehmen, was wir für unseren Besitz hielten. Was heißt das aber anderes, als dass unsere vielen Qualitäten (von denen wir doch meinen, dass sie unser Wesen ausmachen!) im eigentlichen Sinne gar nicht „unser“ sind? Ja, ich meine, das ist es eigentlich, was der Wandel der Zeiten uns lehrt: Dass wir nämlich nicht wirklich Macht und Leben in uns tragen (das ja, wenn es aus uns selber käme, uns auch immer bleiben müsste), sondern dass wir mit Macht und Leben nur „beliehen“ und „umhüllt“ sind. Etwa so, wie eine Schaufensterpuppe im Fenster eines Modegeschäftes mit wechselnden bunten Kleidungsstücken „umhüllt“ wird. Die Puppe selbst ist eigentlich uninteressant und gilt wenig. Aber der Besitzer des Ladens hängt mal eine Bluse drüber, mal eine Weste und mal einen Pelz. Die Schaufensterpuppe wird „beliehen“ mit reizvollen Qualitäten und Farben, die sich abwechseln und sie für den Betrachter interessant machen. Aber die Puppe dürfte das nicht stolz auf sich beziehen. Denn ihr gehören weder die Farben noch die Kleidungsstücke. Sie trägt sie alle nur vorübergehend und ist dabei selbst nicht mehr als ein besserer Kleiderbügel. Und so ist der Mensch auch. Denn wir selbst sind gar nicht viel, sondern sind nur Dasjenige, woran zeitweise Größe, Klugheit, Fleiß und Schönheit erscheinen. Der Ladenbesitzer aber, das ist Gott, der uns all unseren Schmuck verleiht und uns die Qualitäten auch wieder nimmt, wie und wann es ihm gefällt. Wir Menschen sind wie eine weiße Wand, an die ein Filmprojektor bunte Bilder wirft. Und das ist gar nicht zu verachten! Denn natürlich schauen alle wie gebannt auf diese Wand und auf den Film, der da zu sehen ist! Während der Vorstellung dreht sich keiner um und schaut auf den Projektor! Aber wenn der Film endet, wird die Wand sichtbar als eine graue Projektionsfläche, der selbst gar kein Zauber innewohnt. Die Wand ist dann nackt, ist nur noch, was sie in sich selbst ist. Und das ist herzlich wenig. Der Reiz ist verflogen, der Film zuende, und keiner schaut die Wand um ihrer selbst willen an. Denn sie war nur der Träger für etwas ihr Fremdes, das kam und wieder verschwand. Wir Menschen aber – sind wir etwa mehr? Gewiss ist manche Frau bewundernswert schön, aber wird es ihr etwa bleiben? Bestenfalls wird ihre Schönheit auf dem Gesicht der Enkelin wiederkehren, als sei sie auf geheimen Wegen dorthin gewandert! Mancher Mann ist brilliant und lustig und glänzt mit klugen Reden. Aber es warten schon jene, die ihn übertrumpfen und in den Schatten stellen, während er nur noch mit dem Gebiss klappert. Heute ist jemand mächtig, und doch sägt der Nachfolger schon an seinem Stuhl! Heute wird einer auf allen Titelseiten gefeiert, und in zehn Jahren erinnert man sich kaum seines Namens! Wer’s aber miterlebt, kann daraus lernen, dass jener Glanz, der uns eine Zeit lag schmückt, nicht aus uns selbst kommt und nicht uns gehört (so dass er bleiben müsste) sondern: Aller Glanz ist uns von außen verliehen. Wem aber ist dieser Glanz dann wahrhaft zu Eigen? Wem gehört er, und von wem kommen all diese Leihgaben, wenn nicht von uns?
Na – von Gott natürlich. Denn er ist das Wirkliche in allem Wirklichen, ist der Urgrund des Guten in allen guten Dingen und ist in allem Seienden das Sein selbst. Eigentlich ist alle Schönheit Gottes Schönheit. Es gefällt ihm aber immer wieder, hier und da Funken davon in diesem oder jenem Geschöpf aufblitzen zu lassen, das dann für gewisse Zeit daran Anteil hat und die Beobachter in Stau-nen versetzt. Eigentlich ist alle Klugheit Gottes Klugheit, alle Kraft ist Gottes Kraft, alle Wahrheit ist seine Wahrheit, alles Leben ist Ausfluss seiner Lebendigkeit. Alle Güte und Freundlichkeit, alle Disziplin und Klarheit, alles wahrhaft Mütterliche und Väterliche und was sonst eine echte Qualität darstellt, kommt von ihm und ist Abglanz seiner Herrlichkeit. Wir Menschen aber sind nur die Wand, der Gott als Projektor seine Farbigkeit verleiht. Wir sind die Schaufensterpuppen, an denen Gott als Ladenbesitzer mal dies und mal das erscheinen lässt. Und nur weil wir das so gern verdrängen, nur weil wir uns selbst nicht als „Beliehene“ sehen möchten, nur darum wundern uns all die Veränderungen von Jahr zu Jahr. Wir bilden uns gern ein, wir seien doch mit unseren Kräften und Fähigkeiten identisch und also fest mit ihnen verknüpft. Aber dem ist nicht so. Denn Gesundheit, Geld, Wissen und Schönheit sind stets auf Wanderschaft. Sie besuchen uns, verweilen ein paar Jahre, gehen dann aber auch wieder. Und nur weil es so schleichend passiert, fällt uns gar nicht auf, dass wir täglich anders werden. Ein italienisches Sprichwort sagt, die Zeit sei eine geräuschlose Feile. Sie arbeitet fast unbemerkt und trägt immer nur ganz wenig ab. Aber wenn die Späne auch leise fallen, sorgt die Zeit doch für beständigen Wandel, und im Verfließen der Jahre kommt uns der Mensch abhanden, der wir früher mal waren. Der Zaun, über den man sonst locker gesprungen ist, kommt einem plötzlich viel höher vor. Und man ertappt sich bei Redewendungen, die man einst aus dem Mund des eigenen Großvaters hörte. Wenn’s das aber ist, worauf ein Jahreswechsel uns stößt – dass wir nur Projektionsflächen sind, an denen mal diese und mal jene Qualität Gottes vorübergehend aufscheint – was machen wir dann damit? Wollen wir deswegen beleidigt sein? Nein! Ich finde, dazu haben wir keinen Anlass, sondern im Gegenteil: Wenn man sich an den Gedanken gewöhnt hat, ist es sogar schön und ehrenvoll! Denn wir werden von Gott gewürdigt, für eine gewisse Zeit Träger seiner guten Eigenschaften zu sein, und bekommen damit in seinem Plan eine Rolle zugewiesen. Konnte dann jemand ein Jahr lang ein guter Lehrer sein und Wissen weitergeben – ist das nicht gut und ehrenvoll? Ist es jemandem gelungen, einem Kind eine gute Mutter zu sein, oder pflegend einem kranken Menschen wirklich zu helfen – ist das dann nicht toll und erfüllt es das Leben nicht mit Sinn? Vielleicht ist jemand nicht besonders begabt – und kann doch mit eisernem Fleiß den Lebensunterhalt seiner Familie sichern. Vielleicht ist an jemandem gar nichts schön außer der Singstimme – und doch kann er damit traurigen Menschen Freude bereiten. Vielleicht macht sich jemand regelmäßig unbeliebt – aber wenn er mit unbequemer Wahrheit den Anderen die Augen öffnet, ist das etwa nichts? Da ist kein Menschenleben, das nichts Gutes enthielte, und keiner ist so alt oder krank, dass er nicht auf irgendeine Weise als Werkzeug Gottes dienen könnte. Selbst ans Bett gefesselt kann man immernoch die Hände falten und für andere beten! So hat Gott in jeden von uns etwas von seinen Qualitäten und Möglichkeiten hineingelegt! Und wenn‘s auch nicht viel scheint, oder nicht von Dauer ist, kann‘s uns doch daran hindern, uns selbst zu verachten. Das Gute, das wir haben und in Gottes Auftrag verwalten, mag nicht uns gehören. Aber was macht das schon, wenn es ihm doch gefällt, uns mit seinen Federn zu schmücken? Ist es nicht ehrenvoll zu wissen, dass etwas vom Allerhöchsten an uns erscheinen will und durch uns eine Zeit lang vor der Welt sichtbar wird? Wenn’s mir aber wenig scheint, kann ich mir dann nicht vor-nehmen, es demnächst besser zu machen, damit Gottes Gaben hilfreicher an mir zur Geltung kommen? Ist es nicht Eleganz was mich auszeichnet, na gut, viel-leicht kann ich Gott um echte Demut bitten? Ist es nicht übermäßige Intelligenz, na, vielleicht kann ich Güte ausstrahlen? Und sollte ich auch mit der Güte Probleme haben, kann ich dann nicht immernoch Gerechtigkeit üben? Wäre das nicht ein Programm und ein guter Vorsatz, dass jeder von uns versucht ein Abglanz Gottes in der Welt zu sein und ein kleines Fenster, durch das Gottes Licht ins Dunkle fällt? Wenn sie aber denken „Das bin ich nicht, das konnte ich noch nie, das liegt nicht in mir!“ – dann erinnern sie sich bitte an das Gesagte! Das Gute liegt sowieso nie im Menschen selbst (so dass wir selbst die Quelle sein müssten), sondern das Gute liegt immer in Gott – und der kann uns reichlich zufließen lassen, was immer er will. Gottes Vorrat an Güte, Kraft und Weisheit ist unerschöpflich! Und darum dürfen wir ihn ruhig bitten, uns zu Rohren und Kanälen zu machen, durch die seine Kräfte hindurchfließen zu allen, die dessen bedürfen. Zeit ist genug, denn immer wieder wird uns ein neues Jahr geschenkt! Und es liegt nur an uns, es mit der richtigen Haltung zu beginnen. Nämlich nicht mit der Hoffnung, dass Gott uns endlich nützlich wird und endlich tut, was wir wollen, sondern in der Hoffnung, dass wir endlich ihm etwas nützlicher werden und anfangen zu tun, was er will. Wir bleiben sowieso nicht! In ein paar Jahren sind wir nur noch gewesen. Was wir dann aber gewesen sind, das haben wir heute noch in der Hand. Und können wir unser Leben auch nicht konservieren, haben wir doch die Chance, es für einen guten Zweck zu verbrauchen. Auch für den Fall, dass wir unsere gute Bestimmung lange ignoriert haben, haben wir sie doch keineswegs verloren. Ebenbilder Gottes sollen wir sein – ein Widerschein und Werkzeug seiner Güte auf Erden! Solange wir atmen, haben wir dieses Ziel nicht endgültig verfehlt! Wir können Kurs darauf nehmen und den Rest unseres Lebens Gott zur Verfügung stellen, indem wir bitten, er mögen uns genau so formen und wandeln, wie er uns haben will, und möge uns dann gebrauchen, wie er es für richtig hält. Stellen wir also unsere törichten Träume ganz bewusst hintenan. Und bitten wir Gott in dem Sinne um ein gesegnetes Leben, dass es hart sein möge, fröhlich, oder auch ganz gewöhnlich, wenn’s denn nur ihm gefällt und uns ihm näher bringt…
Bild am Seitenanfang: Jan Mandijn (or Mandyn) - Burlesque Feast
Frans Verbeeck, Public domain, via Wikimedia Commons