3. Vom Gebete.
LEHRER:
Da wir von dem zweiten Teil der Gottesverehrung, der im Gehorsam besteht, zur Genüge gehandelt haben, wollen wir nun vom dritten Teile handeln.
SCHÜLER:
Wir haben schon gesagt, dass es die Anrufung sei, wenn wir in jeder Not unsre Zuflucht zu Gott nehmen.
LEHRER:
Glaubst du, dass er allein angerufen werden dürfe?
SCHÜLER:
Allerdings. Denn das fordert er als eine Verehrung, welche nur seiner Gottheit zu-kommt.
LEHRER:
Wenn dem so ist, wie dürfen wir denn Menschen um Hilfe bitten?
SCHÜLER:
Das sind zwei verschiedene Dinge. Denn wenn wir Gott anrufen, so bezeugen wir, dass wir sonst von Niemand Gutes erwarten, und nirgend sonst vertrauungs-voll auf Beistand hoffen; indes suchen wir doch Hilfe, wie er es uns erlaubt und ihnen das Vermögen gegeben hat, uns Hilfe zu leisten.
LEHRER:
Wenn wir also auch zur menschlichen Hilfe unsre Zuflucht nehmen, so meinst du, dies sei vereinbar damit, dass wir Gott allein anrufen, da wir auf jene keineswegs unser Vertrauen setzen; wir suchen ihren Beistand auch nur darum, weil Gott, indem er ihnen die Fähigkeit, Gutes zu tun, verlieh, sie gewissermaßen zu Werk-zeugen seiner Güte bestimmt hat, indem er durch ihre Hand uns helfen, und die Unterstützungen, welche er ihrer Verwaltung anvertraut hat, uns will zukommen lassen.
SCHÜLER:
Das ist meine Meinung. Alle Wohltaten also, die wir von ihnen erhalten, haben wir zu betrachten als von Gott empfangen, wie er denn in der Tat allein das Alles durch sie, seine Werkzeuge, uns schenkt.
LEHRER:
Sind wir aber nicht doch den Menschen, wenn sie uns einen Dienst geleistet haben, dafür jedes Mal Dank schuldig? Das gebietet die natürliche Billigkeit und das Gesetz der Menschenliebe.
SCHÜLER:
Allerdings, und schon aus der einzigen Ursache, weil Gott sie der Ehre würdigt, dass er die Güter, welche aus der unerschöpflichen Quelle seiner Güte fließen, durch ihre Hände, wie durch Bäche, zu uns leitet. Auf diese Weise verpflichtet er uns gegen sie, und das sollen wir anerkennen. Wer sich also nicht dankbar ge-gen die Menschen zeigt, der verrät dadurch seine Undankbarkeit gegen Gott.
LEHRER:
Kann man daraus schließen, dass es unrecht sei, wenn man die Engel und die heiligen Diener Gottes, welche diese Welt verlassen haben, anruft?
SCHÜLER:
Ja wohl. Denn den Heiligen hat Gott nicht das Geschäft übertragen, uns zu helfen. Was aber die Engel betrifft, so bedient er sich ihrer zwar zu unserm Besten, er will aber nicht, dass wir sie anrufen.
LEHRER:
Was also mit der von Gott eingesetzten Ordnung nicht genau übereinstimmt, das, sagst du, streite mit seinem Willen.
SCHÜLER:
So ist es. Denn es ist ein sicheres Kennzeichen des Unglaubens, wenn wir mit dem nicht zufrieden sind, was man von Gott empfangen, Ferner, wenn wir uns in den Schutz der Heiligen und der Engel begeben, wenn Gott uns zu sich allein ruft, und wenn wir einen Teil des Vertrauens, welches wir auf Gott allein setzen sollten, auf sie übertragen, so fallen wir in Götzendienst, weil wir nämlich von dem, was Gott sich ganz und gar vorbehält, einen Teil ihnen zuwenden.
LEHRER:
Jetzt wollen wir von der Einrichtung des Gebets reden. Ist zum Beten nichts nötig als die Zunge? Oder erfordert das Gebet auch Verstand und Herz?
SCHÜLER:
Die Zunge ist nicht immer nötig; aber Verstand und Empfindung darf bei dem wahren Gebete nicht fehlen.
LEHRER:
Wie willst du das beweisen?
SCHÜLER:
Da Gott ein Geist ist, so verlangt er nicht nur überhaupt von dem Menschen das Herz, sondern insbesondere auch bei dem Gebete, das an ihn gerichtet wird. Daher verheißt er nur denen, die ihn in Wahrheit anrufen, er wolle ihnen nah sein; im Gegenteil aber verwünscht und verflucht er Alle, die nur verstellt und nicht aus dem Gemüte beten.
LEHRER:
Sind also die Gebete eitel und nichtig, die nur mit der Zunge gesprochen wer-den?
SCHÜLER:
Nicht das allein; sie missfallen auch Gott aufs höchste.
LEHRER:
Welch eine Gemütsverfassung fordert Gott beim Gebete?
SCHÜLER:
Zuerst, dass wir unsre Hilfsbedürftigkeit und unser Elend empfinden, dass diese Empfindung in unsrer Seele Traurigkeit und Angst erzeuge, dass wir ferner ein starkes und ernstes Verlangen bei uns nähren, Gnade von ihm zu erlangen. Da-durch soll auch die Inbrunst des Gebetes in uns entzündet werden.
LEHRER:
Entspringt diese Gemütsverfassung aus der menschlichen Natur, oder wird sie durch die Gnade Gottes bewirkt?
SCHÜLER:
Gott muss uns hier zu Hilfe kommen; denn wir sind zu beidem durchaus un-tüchtig. Der Geist Gottes ist es, der die unaussprechbaren Seufzer in uns erweckt, und unser Gemüt mit der Sehnsucht erfüllt, die zum Gebet erfordert wird, wie Paulus sagt.
LEHRER:
Geht dieser Unterricht dahin, dass wir träge und müßig die Regung des Geistes abwarten, und nicht Jeder sich selbst zum Gebet erweckt?
SCHÜLER:
Keineswegs. Vielmehr ist das der Zweck, dass die Gläubigen, wenn sie sich kalt und verdrossen oder nicht aufgelegt fühlen zum Gebet, sogleich zu Gott ihre Zuflucht nehmen, und ihn bitten, dass er sie mit den feurigen Stacheln seines Geistes entzünde, damit sie geschickt werden zum Gebet.
LEHRER:
Du meinst aber doch nicht, dass die Zunge beim Gebet nicht nötig sei?
SCHÜLER:
Keineswegs. Sie ist oft ein Mittel, den Geist zu unterstützen und ihn in der An-dacht zu erhalten, dass er sich nicht so leicht von Gott abziehen lasse. Da sie überdies vor andern Gliedern zur Verherrlichung der Ehre Gottes geschaffen ist, so ist es billig, dass ihr Vermögen ganz zu diesem Zweck gebraucht werde. Überdies wird der Mensch zuweilen von seinem Eifer in Bewegung gesetzt, so, dass die Zunge redet, ohne dass er daran denkt.
LEHRER:
Wenn dem so ist, was haben die für einen Nutzen davon, welche in einer frem-den, ihnen unbekannten Sprache beten?
SCHÜLER:
Das ist nichts Anderes, als Gottes spotten. Von Christen sei diese Heuchelei fern!
LEHRER:
Aber wenn wir beten, tun wir das aufs Geratewohl, ohne des Erfolges gewiss zu sein, oder müssen wir fest überzeugt sein, dass Gott uns erhören werde?
SCHÜLER:
Das muss beständig der Grund des Gebetes sein, dass wir vom Herrn werden erhört werden und Alles, was wir bitten, erlangen, wiefern es uns gut ist. In dieser Hinsicht lehrt Paulus, dass die rechte Anrufung Gottes aus dem Glauben kom-men. Denn Niemand wird ihn ja auf die rechte Weise anrufen, der sich nicht mit festem Vertrauen auf seine Güte verlässt.
LEHRER:
Was wird also denen geschehen, die zweifelnd beten, und nicht in ihrem Gemüte davon überzeugt sind, was sie durch das Gebet gewinnen werden, ja nicht ein-mal gewiss, ob Gott ihr Gebet erhören werde oder nicht?
SCHÜLER:
Ihre Gebete sind eitel und vergeblich, da sie sich auf keine Verheißung stützen; denn wir sollen mit festem Glauben bitten, und die Verheißung ist uns gegeben, dass wir erlangen werden, warum wir im Glauben bitten.
LEHRER:
Wir müssen noch sehen, woher uns ein solches Vertrauen kommt, dass wir wagen, vor Gott zu erscheinen, da wir auf so vielfache Weise dessen unwert sind.
SCHÜLER:
Zuerst haben wir die Verheißungen, auf die wir uns ohne Rücksicht auf unsre Würdigkeit verlassen müssen. Ferner, wenn wir Gottes Kinder sind, so ermuntert und treibt uns sein Geist, dass wir kein Bedenken tragen, ihm vertrauensvoll zu nahen, als unserm Vater. Und damit wir, obgleich nur Würmer und von dem Bewusstsein unsrer Sünden niedergebeugt, uns doch vor seiner herrlichen Ma-jestät nicht fürchten, stellt er uns Christum als Vermittler dar, der uns den Zugang öffnet, so, dass wir nicht zweifeln dürfen, seine Gnade zu erlangen.
LEHRER:
Meinst du, dass man einzig und allein im Namen Christi Gott anrufen dürfe?
SCHÜLER:
Das ist meine Meinung, denn dies wird uns ausdrücklich befohlen, und die Ver-heißung wird hinzugefügt, er werde durch seine Vermittlung bewirken, dass wir erlangen, warum wir bitten.
LEHRER:
Man darf also den nicht der Verwegenheit oder Anmaßung beschuldigen, der, im Vertrauen auf diesen Fürsprecher, sich vertrauensvoll zu Gott naht, und ihn allein als den betrachtet, durch den er erhört werden will?
SCHÜLER:
Auf keine Weise. Denn wer so betet, der betet gleichsam mit seinem Munde, da er weiß, dass durch seine Fürsprache das Gebet unterstützt und empfohlen wer-de.
LEHRER:
Wir wollen nun untersuchen, was die Gebete enthalten müssen. Dürfen wir von Gott Alles verlangen, was uns in den Sinn kommt, oder gibt es darüber eine ge-wisse Regel?
SCHÜLER:
Das wäre eine sehr verkehrte Art zu beten, wenn wir unsren Begierden und dem Urteil des Fleisches folgten. Denn wir sind zu beschränkt, um beurteilen zu kön-nen, was uns heilsam ist, und unsre Begierden sind so heftig, dass sie gezügelt werden müssen.
LEHRER:
Was muss also geschehen?
SCHÜLER:
Das eine bleibt übrig, dass Gott selbst uns die rechte Art zu beten vorschreibe, so, das ser uns bei der Hand führt und gleichsam die Worte vorsagt.
LEHRER:
Welche Anweisung hat er uns denn gegeben?
SCHÜLER:
Er gibt uns zwar in der Schrift an mehreren Stellen einen ausführlichen und voll-ständigen Unterricht über diesen Gegenstand; aber um uns das Ziel desto be-stimmter zu zeigen, hat er uns eine Vorschrift aufgestellt und uns gleichsam vorgesagt, worin er Alles, was wir von Gott bitten dürfen, und was uns frommt, kurz zusammengefasst und in wenige Hauptstücke geteilt hat.
LEHRER:
Sage sie hier.
SCHÜLER:
Als Christus unser Herr, von seinen Jüngern gefragt ward, wie man beten müsse, antwortete er: Wenn ihr beten wollet, so sprechet also: „Unser Vater, der du bist im Himmel, dein Name werde geheiligt; dein Reich komme; dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel; unser tägliches Brot gib uns heute; und vergib uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern; und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns vom Bösen. Denn dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit, in Ewigkeit. Amen.“
LEHRER:
Um den Inhalt besser zu verstehen, wollen wir das Gebet in Abschnitte teilen.
SCHÜLER:
Es hat sechs Teile, von denen die ersten drei, ohne Rücksicht auf uns, sich allein auf die Ehre Gottes, als ihren eigentlichen Zweck, beziehen, die übrigen aber unsern Nutzen betreffen.
LEHRER:
Dürfen wir denn Gott um Dinge bitten, die uns keinen Gewinn bringen?
SCHÜLER:
Er ordnet zwar nach seiner unendlichen Güte Alles so, dass nichts zu seiner Ehre dient, ohne dass es auch uns heilsam wäre. Wenn also sein Name geheiligt wird, so gereicht das auch zu unsrer Heiligung; sein Reich kommt nicht, ohne dass wir daran Teil nehmen. Allein wenn wir dies Alles begehren, so müssen wir dabei allein auf seine Ehre sehen, und unsern Vorteil gar nicht ins Auge fassen.
LEHRER:
Nach dieser Ansicht sind die drei ersten Bitten also zwar mit Gewinn für uns verbunden; sie sollen aber keinen andern Zweck haben, als die Verherrlichung des göttlichen Namens.
SCHÜLER:
So ists. Doch auch bei den übrigen drei Bitten muss Gottes Ehre uns am Herzen liegen, obgleich sie eigentlich nur das erflehen, was sich auf unsre Wohlfahrt be-zieht.
LEHRER:
Wir wollen jetzt zur Erklärung der Worte übergehen. Zuerst, warum wird hier Gott „Vater“, und nicht mit einem andern Namen genannt?
SCHÜLER:
Da, um auf die rechte Art zu beten, zuvörderst eine feste Zuversicht erfordert wird, so legt Gott sich diesen Namen bei, der so ungemein lieblich klingt, um alle Furcht aus unsern Herzen zu verbannen und uns aufzumuntern, dass wir ihn ver-trauensvoll anrufen.
LEHRER:
Dürfen wir aber wagen, uns unbedenklich an Gott zu wenden, wie Kinder an ihre Eltern?
SCHÜLER:
Ja, und mit einer noch festern Zuversicht, das zu erlangen, was wir bitten. Denn, wie unser Lehrer sagt, wenn wir, die wir böse sind, unsern Kindern, was ihnen gut ist, nicht abschlagen und sie nicht unbegabt weggehen lassen können, ihnen auch nicht Gift geben statt des Brotes; um wie viel mehr dürfen wir von dem himmlischen Vater Wohltaten erwarten, der nicht nur höchst gütig, sondern die Güte selbst ist!
LEHRER:
Dürfen wir aus diesem Namen nicht auch einen Beweis herleiten, wodurch das, was zu Anfange gesagt ist, bestätigt wird, dass nämlich alle Bitten auf die Ver-mittlung Christi sich gründen müssen?
SCHÜLER:
Und zwar ein sehr starker Beweis. Denn Gott behandelt uns nur in sofern wie seine Kinder, als wir Christi Glieder sind.
LEHRER:
Warum nennst du Gott „unsern“ Vater im Allgemeinen, nicht „deinen“ insbesondere?
SCHÜLER:
Zwar kann ein jeder Gläubiger ihn „den seinen“ nennen; aber der Herr hat sich des allgemeinen Beiworts bedient, um uns zur Menschenliebe bei unsern Gebe-ten zu gewöhnen, damit nicht ein Jeder ohne Rücksicht auf Andere nur für sich sorge.
LEHRER:
Was will das sagen, wenn hinzugefügt wird, dass Gott „im Himmel“ sei?
SCHÜLER:
Es ist ebenso viel, als wenn ich ihn erhaben, mächtig, unbegreiflich nennte.
LEHRER:
Wie das und warum?
SCHÜLER:
Auf diese Weise lernen wir, wenn wir ihn anrufen, das Gemüt zu erheben, dass wir nicht fleischlich oder irdisch von ihm denken, und ihn nicht nach dem Maße unsrer Einsicht messen, oder, indem wir uns unwürdige Vorstellungen von ihm machen, ihn bewegen wollen, unsern Willen zu tun, sondern vielmehr seine herr-liche Majestät mit Ehrfurcht betrachten. Auch soll es unser Vertrauen zu ihm wecken und befestigen, wenn wir ihn den Herrn und Gebieter des Himmels nennen, der Alles nach seinem Willen lenkt.
LEHRER:
Sage mir den Inhalt der ersten Bitte.
SCHÜLER:
Unter „dem Namen Gottes“ versteht die Schrift seine Erkenntnis und Verehrung unter den Menschen. Wir wünschen also, dass seine Ehre überall und bei Allen befördert werde.
LEHRER:
Aber kann diese seine Ehre durch irgendetwas vermehrt oder vermindert wer-den?
SCHÜLER:
An sich nimmt sie weder zu, noch ab. Aber wir wünschen, dass sie, wie sichs gebührt, unter den Menschen verherrlicht werde, dass Alles, was Gott tut, Allen seine Werke so herrlich erscheinen, wie sie sind, und dass er auf diese Weise verherrlicht werde.
LEHRER:
Was verstehst du in der zweiten Bitte unter „dem Reiche Gottes?“
SCHÜLER:
Es besteht hauptsächlich aus zwei Stücken, dass er die Auserwählten durch seinen Geist regiert, dass er die Verworfenen, die sich ihm nicht zum Gehorsam übergeben wollen, stürzt und dem Verderben übergibt, damit so offenbar werde, dass nichts seiner Kraft widerstehen könne.
LEHRER:
Wie betest du nun, dass dieses Reich komme?
SCHÜLER:
Dass der Herr die Zahl der Gläubigen von Tage zu Tage vermehre, dass er ihnen neue Gaben des Geistes schenke, bis sie dieselben im vollen Maße besitzen, dass er ferner seine Wahrheit immer heller und glänzender mache, die Finsternis des Satans zu zerstreuen, dass er seine Gerechtigkeit ausbreite und alle Unge-rechtigkeit zerstöre.
LEHRER:
Geschieht dies Alles nicht täglich?
SCHÜLER:
Es geschieht so, dass man sagen kann, das Reich Gottes habe begonnen. Wir wünschen nun, dass es immerfort wachse und sich verbreite, bis es zur Voll-endung kommt. Dies hoffen wir jedoch erst am jüngsten Tage, da Gott allein, nachdem er alle Geschöpfe sich unterworfen, hoch und erhaben, ja Alles in Allem sein wird.
LEHRER:
Wenn du bittest, dass „Gottes Wille geschehe“, welchen Sinn hat das? SCHÜLER:
Dass alle Geschöpfe gezwungen werden, ihm zu gehorchen, und so an seinem Winke zu hangen, dass nichts ohne seinen Willen geschieht?
LEHRER:
Meinst du denn, dass etwas wider seinen Willen geschehen könne?
SCHÜLER:
Wir wünschen nicht nur, dass das geschehe, was er bei sich beschlossen hat, sondern auch, dass er allen Ungehorsam bändige und demütige, und so den Willen Aller sich unterwirft und sie zum Gehorsam bringt.
LEHRER:
Leisten wir, wenn wir so beten, nicht Verzicht auf das, was wir wollen?
SCHÜLER:
Allerdings, nicht nur, dass er alle Wünsche vereitle, die mit seinem Willen strei-ten, sondern auch, dass er uns einen neuen Sinn und ein neues Herz gebe, so, dass wir nichts von uns selbst wollen, sondern vielmehr sein Geist unsre Wün-sche regiere, damit sie den Beifall Gottes in vollkommenem Maße haben.
LEHRER:
Warum wünschest du, dass dieses auf der Erde geschehe, „wie im Himmel?“
SCHÜLER:
Weil die heiligen Engel, welche seine himmlischen Geschöpfe sind, keinen andern Vorsatz haben, als ihm in Allem zu gehorchen, immer auf sein Gebot hören, und aus freiem Entschluss bereit sind, Gehorsam zu leisten, so wünsche ich den Menschen eine solche Neigung zum Gehorsam, so, dass Jeder sich ihm zur freiwilligen Unterwerfung hingebe.
LEHRER:
Jetzt kommen wir zum zweiten Teil. Was verstehst du unter „dem täglichen Brot“, um welches du bittest?
SCHÜLER:
Überhaupt Alles, was zur Erhaltung des gegenwärtigen Lebens dient, nicht nur zur Speise oder zur Kleidung, sondern auch zur Herbeischaffung aller andern Mittel, durch welche die Bedürfnisse unsers äußern Lebens befriedigt werden, damit wir unser Brot, wiefern es uns nach dem Urteil des Herrn nützlich ist, in Ruhe essen können.
LEHRER:
Warum verlangst du aber, dass Gott dir „gebe“, was er uns durch Arbeit zu er-werben gebietet?
SCHÜLER:
Obgleich wir zur Erwerbung unsres Unterhalts arbeiten und uns anstrengen sollen, so werden wir doch nicht durch unsre Arbeit, unsern Fleiß, unsre Emsig-keit ernährt, sondern nur durch Gottes Segen, durch den die Arbeit unsrer Hände gedeiht, die sonst vergebens sein würde. Außerdem muss man es so verstehen, dass, auch wenn er uns Speise in Überfluss darreicht und wir dieselbe genießen, wir doch nicht durch sie selbst, sondern allein durch Gottes Kraft ernährt werden. Denn sie haben diese Eigenschaft nicht von Natur, sondern Gott im Himmel be-dient sich ihrer, als Werkzeuge seiner Güte.
LEHRER:
Aber mit welchem Rechte nennst du das, was Gott dir geben soll, „dein Brot“?
SCHÜLER:
Weil es durch Gottes Gabe unser wird, obgleich er es uns nicht schuldig ist. Wir werden durch dies Wort erinnert, dass wir fremdes Brot nicht begehren, sondern mit dem zufrieden sein sollen, was uns auf rechtmäßige Weise gleichsam aus Gottes Hand zukommt.
LEHRER:
Warum fügest du hinzu „täglich“ und „heute“?
SCHÜLER:
Durch diese beiden Ausdrücke werden wir zur Mäßigung und Enthaltsamkeit ermuntert, dass unsre Wünsche nicht über das Maß des Bedürfnisses hinaus-gehen.
LEHRER:
Da dies das gemeinschaftliche Gebet Aller sein soll, wie ist es möglich, dass die Reichen, welche Überfluss und Vorrat für lange Zeit haben, bitten, dass es ihnen für einen Tag gegeben werde?
SCHÜLER:
Das müssen die Reichen, wie die Armen, wissen, dass nichts von dem, was sie haben, ihnen Nutzen bringen könne, außer, wiefern Gott bestimmt und durch seine Gnade bewirkt, dass ihnen Nutzen und Gewinn daraus erwachse. So haben wir nichts, wenn wir auch Alles besitzen, ausgenommen, wiefern wir für jede Stunde aus Gottes Hand empfangen, so viel uns nötig und für uns hinrei-chend ist.
LEHRER:
Was enthält die fünfte Bitte?
SCHÜLER:
„Dass der Herr uns unsre Sünden vergebe.“
LEHRER:
Sollte kein Sterblicher gefunden werden, der so gerecht werde, dass er dieser Verzeihung nicht bedürfe?
SCHÜLER:
Durchaus Keiner. Denn indem Christus diese Anweisung zu beten seinen Apos-teln gab, bestimmte er sie für die ganze Kirche. Wer sich also davon ausnehmen wollte, der müsste aus der Kirche scheiden. Und in der Tat wir hören, was die Schrift bezeugt, „dass, wenn Jemand in Einem Stück vor Gott sich rechtfertigen wollte, er in tausend schuldig sein würde.“
LEHRER:
Wie, glaubst du, werden uns die Sünden vergeben?
SCHÜLER:
Wie die eigenen Worte Christi lauten; sie sind Schulden, um deren willen wir verdienen zum ewigen Tode verurteilt zu werden, bis uns Gott aus bloßer Gnade davon befreit.
LEHRER:
Du behauptest also, dass wir durch Gottes unverdiente Barmherzigkeit Verge-bung der Sünden erlangen?
SCHÜLER:
Allerdings; denn wenn die Strafe auch nur für eine der kleinsten Sünden abge-kauft werden soll, so sind wir doch nimmermehr im Stande, genug zu tun. Daher muss er Alles unverdient erlassen und vergeben.
LEHRER:
Welchen Nutzen hat diese Vergebung für uns?
SCHÜLER:
Wir werden ihm dadurch angenehm, als wären wir gerecht und unschuldig; zugleich wird das Vertrauen auf seine väterliche Güte, der wir unser Heil verdan-ken, befestigt.
LEHRER:
Soll die hinzugefügte Bedingung, Gott möge uns vergeben, „wie wir unsern Schuldigern vergeben“, anzeigen, dass wir die Gnade Gottes verdienen, wenn wir den Menschen, die gegen uns gesündigt haben, es verzeihen?
SCHÜLER:
Keineswegs. Denn alsdann wäre es keine unverdiente Vergebung, allein auf die Genugtuung Christi gegründet, die er durch seinen Tod am Kreuze geleistet hat. Sondern, wenn wir die uns zugefügten Beleidigungen vergessen, und so seine Gnade und Güte nachahmen, so zeigen wir durch die Tat, dass wir seine Kinder sind; dies Unterpfand hat er uns gegeben; auf der andern Seite aber zeigt er auch, dass, wenn wir uns nicht bereitwillig zum Verzeihen und nachgiebig be-weisen, wir nichts von ihm zu erwarten haben, als den Ernst der höchsten und unerbittlichsten Strenge.
LEHRER:
Du meinst also, dass hier Alle, welche Beleidigungen nicht vergessen können, von Gott verworfen und von der Kindschaft ausgeschlossen werden, so, dass sie nicht hoffen dürfen, im Himmel Vergebung zu finden.
SCHÜLER:
Das ist meine Meinung. So geht der Ausspruch in Erfüllung, dass Jedem mit dem Maße wird gemessen werden, dessen er sich gegen Andere bedient hat.
LEHRER:
Was folgt weiter?
SCHÜLER:
„Dass der Herr uns nicht in Versuchung führen, sondern vom Bösen erlösen wolle.“
LEHRER:
Fassest du das Alles in Einer Bitte zusammen?
SCHÜLER:
Es ist nur Eine Bitte; denn das zweite Glied ist nur die Erklärung des ersten.
LEHRER:
Was ist der kurze Inhalt?
SCHÜLER:
Gott wolle nicht zulassen, dass wir in Sünde geraten, oder von dem Teufel und den Lüsten unsers Fleisches, die einen immerwährenden Krieg mit uns führen, besiegt werden, er wolle uns vielmehr zum Widerstande mit seiner Kraft aus-rüsten, mit seiner Hand uns unterstützen, mit seiner Hilfe uns bewahren und bedecken, so, dass wir unter seinem Schutz und Schirm in Sicherheit wohnen.
LEHRER:
Wie geschieht das aber?
SCHÜLER:
Wenn wir von seinem Geiste regiert und von solch einer innigen Liebe zur Ge-rechtigkeit erfüllt werden, dass wir die Sünde, das Fleisch und den Satan über-winden, und mit einem solchen Hass gegen die Sünde, dass wir dadurch von der Welt entfernt und in wahrer Heiligkeit erhalten werden. Denn auf die Kraft des Geistes gründet sich unser Sieg.
LEHRER:
Bedürfen Alle dieser Hilfe?
SCHÜLER:
Wer könnte ihrer entbehren? Denn immerfort bedroht uns der Teufel, der, wie ein brüllender Löwe umhergeht, und sucht, wen er verschlinge; wir aber sind so schwach, dass wir sogleich erlägen, ja, dass es in manchen Augenblicken um uns geschehen wäre, wenn nicht Gott uns zum Kampf mit seinen Waffen rüstete und mit seiner Hand stärkte.
LEHRER:
Was soll das Wort „Versuchung“ sagen?
SCHÜLER:
Die Ränke und Betrügereien des Satans, mit denen er uns immerfort angreift, und leicht berücken würde, wenn Gottes Hilfe uns nicht unterstützte. Denn unsre Seele wird ihrer natürlichen Eitelkeit wegen von seiner List getäuscht, und da unser Wille immer geneigter zum Bösen ist, so würde er ihr ganz und gar unter-liegen.
LEHRER:
Aber warum bittest du, dass Gott dich nicht in Versuchung führe, da das doch eher das eigentümliche Geschäft des Satans, als Gottes zu sein scheint?
SCHÜLER:
Wie Gott die Gläubigen mit seinem Schutze behütet, dass sie nicht von dem Satan überlistet oder von der Sünde überwunden werden, so entzieht er denen, die er bestrafen will, nicht nur seine Gnade, sondern übergibt sie auch der Tyrannei des Satans, schlägt sie mit Blindheit, und überlässt sie ihrem verkehrten Sinn, so, dass sie ganz und gar Sklaven des Lasters und allen Angriffen der Ver-suchung Preis gegeben sind.
LEHRER:
Was bedeutet der noch hinzugefügte Schluss: „Denn dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit, in Ewigkeit.“?
SCHÜLER:
Hier werden wir abermals erinnert, dass unser Gebet sich mehr auf die Macht und Güte Gottes stützt, als auf Vertrauen zu uns. Außerdem lernen wir alle unsre Gebete mit dem Lobe Gottes beschließen.
LEHRER:
Darf man Gott um nichts bitten, als was in diesem Gebete enthalten ist?
SCHÜLER:
Obgleich es uns frei steht, mit andern Worten und auf andere Weise zu beten, so müssen wir doch festhalten, dass kein Gebet Gott gefallen könne, das sich nicht nach dieser alleinigen Anweisung zu beten richtet.