J. G. Hamann: Brocken

Der Text wird hier wiedergegeben nach: „Schriften J. G. Hamanns, ausgewählt und herausgegeben von Karl Widmaier, Leipzig 1921, S. 170-188“. Er wurde aber der neueren Rechtschreibung angenähert, soweit es möglich und geboten schien. 2024 / T.G.

 

J. G. Hamann

 

Brocken

 

Joh. VI. 12

Sammlet die übrigbleibenden Brocken

dass nichts umkomme

 

Den 16. Mai 1758, London

 

Erklärung des Titels

215

Ein Heer von Volk wird von fünf Gerstenbroten überflüssig gespeist; dieses kleine Maß ist für die Menge in der Wüste so reich, dass mehr Körbe voll übrigbleiben, als sie Brote empfangen hatten. Wir sehen eben dieses Wunder des göttlichen Segens in der Menge der Wissenschaften und Künste. Was für ein Magazin macht die Geschichte der Gelehrsamkeit aus? Und worauf gründet sich alle? Auf fünf Gerstenbrote, auf fünf Sinne, die wir mit den unvernünftigen Tieren gemeinschaftlich besitzen. Nicht nur das ganze Warenhaus der Vernunft, sondern selbst die Schatzkammer des Glaubens beruhet auf diesem Stock. Unsere Vernunft ist jenem blinden thebanischen Wahrsager ähnlich (Tiresias), dem seine Tochter (Manto) den Flug der Vögel beschrieb; er prophezeite aus ihren Nachrichten. Der Glaube, sagt der Apostel, kommt durchs Gehör, durchs Gehör des Wortes Gottes. Röm. 10,17. Geht und sagt Johannes wieder, was ihr höret und sehet. Matth. 11,4.

216 

Der Mensch genießt unendlich mehr, als er nötig hat – und verwüstet unendlich mehr, als er genießt. Was für eine Verschwenderin muss die Natur ihrer Kinder wegen sein, wieviel Herunterlassung, womit sie die Waagschale und das Verhältnis unserer Anzahl und Bedürfnisse unterdrückt und sich nach dem Hunger und dem Übermut unserer Begierden in Aufwand setzt. Muss sie nicht die Tochter eines sehr liebreichen Vaters und Menschenfreundes sein? 

217 

Wie weit mehr sündigt der Mensch in seinen Klagen über das Gefängnis des Körpers, über die Grenzen, in die ihn die Sinne einschränken, über die Unvollkommenheit des Lichts – und verdammt selbige zu gleicher Zeit durch seine Unersättlichkeit in den Lüsten des Fleisches, durch seine Parteilichkeit für sinnliche Vorurteile und durch seinen Stolz auf das Licht, das er schmälert. – Die sichtbare Welt mag noch so eine Wüste in den Augen eines zum Himmel erschaffenen Geistes sein, die Brote, die uns Gott hier aufträgt, mögen noch so unansehnlich und kümmerlich aussehen, die Fische noch so klein sein, sie sind gesegnet und wir mit denselben von einem allmächtigen, wundertätigen, geheimnisvollen Gott, den wir Christen als den unsrigen nennen, weil er sich selbst so in der größten Demut und Liebe geoffenbart hat.

218 

Ist es nicht unser Geist selbst, der in der Tiefe seines Elendes dieses Zeichen seines hohen Ursprunges verrät und sich als einen Schöpfer über die sinnlichen Eindrücke erhebt, der sie fruchtbar macht, der selbige zu einem Gerüste baut, um den Himmel zu ersteigen, oder sich Götzen schafft, für die er Ziegel brennt und Stoppeln zusammensucht? Ist es nicht ein Wunder unsers Geistes selbst, der die Dürftigkeit der Sinne in einen solchen Reichtum verwandelt, über dessen Ausbreitung wir erstaunen müssen? 

219 

Unsere Seele macht sich aber eben der Ausschweifung schuldig in der Nahrung ihrer Kräfte, als die sie durch den Leib begeht. Außer der Mäßigkeit, die unsere Notdurft uns vorschreiben sollte, ist eine wirtschaftliche Aufmerksamkeit auf die Brocken, die uns in der Hitze unseres Appetits entfallen und die wir nicht der Mühe wert achten zu sammeln, weil wir mehr vor uns sehen, nicht zu tadeln. Wir leben hier von Brocken. Unsere Gedanken sind nichts als Fragmente. Ja, unser Wissen ist Stückwerk. Ich denke mit göttlicher Hilfe gegenwärtige Blätter zu einem solchen Korbe zu machen, worin ich die Früchte meines Lesens und Nachdenkens in losen und vermischten Gedanken sammeln will. Um die von gleichem Inhalt mit der Zeit zusammenzubringen, will ich selbige nummerieren.

§ 1

220 

Sind es nicht die bloßen Erscheinungen der Selbstliebe, die wir mit dem Begriff der Freiheit belegen? Diese Selbstliebe ist das Herz unseres Willens, aus dem alle Neigungen und Begierden gleich den Blut- und Pulsadern entspringen und zusammenlaufen. Wir können so wenig denken, ohne uns unserer bewusst zu sein, als wollen, ohne uns unserer bewusst zu sein.

221

Der Japanese sieht seinen Abgott in einem so nahen Verhältnis mit seinen Begriffen und Neigungen, als der Russe seinen Bart und der Engländer seine Charta Magna. Der Abergläubige, der Sklave und der Republikaner streiten daher mit gleicher Wut für den Gegenstand ihrer Selbstliebe und mit einem gleichen Grund der Freiheit und Eifer für selbige.

 

222

Warum vermehrt der Handel die Liebe der Freiheit? Weil er das Eigentum eines Volks sowohl als jeden Bürgers vermehrt. Wir lieben, was uns eigen gehört. Hier ist also die Freiheit nichts als Eigennutz und ein Akt der Selbstliebe gegen unsere Güter.

223 – 224

Daher ist so viel Ähnlichkeit zwischen den Wirkungen der Selbstliebe und Freiheit. Ja, die erste ist das Gesetz der letzteren; wie Young sagt:

man love thyself;

in this alone free agents are not free.

So wie alle unsere Erkenntniskräfte die Selbsterkenntnis zum Gegenstand haben, so unsere Neigungen und Begierden die Selbstliebe. Das erste ist unsere Weisheit, das letzte unsere Tugend. Solange es dem Menschen nicht möglich ist, sich selbst zu kennen, so lange bleibt es eine Unmöglichkeit für ihn, sich selbst zu lieben. Die Wahrheit kann uns daher allein frei machen; dies ist die Lehre der himmlischen Weisheit, die deswegen in die Welt kam, uns Selbsterkenntnis und Selbstliebe zu lehren.

225

Warum kann der Mensch sein eigen Selbst nicht kennen? Dies muss bloß in dem Zustande unserer Seelen liegen. Die Natur, die uns in lauter Rätseln und Gleichnissen von dem Unsichtbaren unterrichtet, zeigt uns an den Beziehungen, von denen unser Körper abhängt, wie wir uns die Beziehung unsers Geistes auf andere Geister vorstellen können. So wie der Leib den Gesetzen der äußern Gegenstände unterworfen ist, der Luft, dem Boden, der Wirkung anderer Körper: so müssen wir unsere Seele uns gleichfalls vorstellen. Sie ist dem beständigen Einfluss höherer Geister ausgesetzt und mit selbigen verknüpft; dies macht daher unstreitig unser eigen Selbst so zweifelhaft, dass wir selbiges nicht erkennen, unterscheiden, noch selbst bestimmen können.

226

Die Unmöglichkeit, uns selbst zu kennen, kann sowohl in der Grundlage unserer Natur als in einer besondern Bestimmung und Zustande derselben liegen. So setzt die Bewegung einer Uhr eine gehörige Einrichtung ihres Baues und die Bedingung, aufgewunden zu werden, zum voraus. Wenn unsere Natur auf eine besonders genaue Art von dem Willen eines hohen Wesens abhinge, so folgt von selbst, dass man den Begriff desselben zu Hilfe nehmen müsste, um die erstere zu erklären; und dass, je mehr Licht wir in Ansehung dieses Wesens erhalten würden, desto mehr sich unsere eigene Natur aufklären müsste.

227 

Unser Leben ist das erste von allen Gütern und die Quelle der Glückseligkeit. Wenn wir das erste in Betrachtung ziehen, so zeigt die Beschaffenheit desselben die Eigenschaften der letzteren an. Dieses ist so abhängend, dass unzählige Zufälle uns desselben berauben können, und wir haben so viel Gewalt über dasselbe, als jedes äußere Ding sich rühmen kann. Das ganze Heer von den feindseligen Ursachen, wodurch das Band der Seele mit dem Leibe aufhören und getrennt werden kann, steht aber unter der Regierung desjenigen, dem wir unser Leben zu danken haben. Alle mittlere Werkzeuge stehen unter seiner Hand. Mit unserer Glückseligkeit muss es daher eine gleiche Bewandtnis haben. Hieraus sieht man, wie notwendig unser Selbst in dem Schöpfer desselben gegründet ist, dass wir die Erkenntnis unserer selbst nicht in unsrer Macht haben, dass, um den Umfang desselben auszumessen, wir bis in den Schoß der Gottheit dringen müssen, die allein das ganze Geheimnis unsers Wesens bestimmen und auflösen kann.

228 

Die erste Ursache aller Dinge, von der wir so unmittelbar abhängen, muss daher unumgänglich zu Hilfe genommen werden, wenn wir unser eigen Selbst, unsere Natur, Bestimmung und Einschränkung einsehen wollen. Nächst dieser ersten Ursache gehört dazu eine Kenntnis aller der Mittelwesen, die mit uns in Verbindung stehen und die durch ihre Wirkung unsere hervorbringen helfen oder zu ändern imstande sind. Alle diese Betrachtungen zusammengenommen können wir den Zustand der menschlichen Natur auf der Welt nennen. Es ist die Frage nicht allein, wenn ich mein eigen Selbst ergründen will, zu wissen, was der Mensch ist, sondern auch, was der Stand desselben ist. Bist du frei oder ein Sklave? Bist du ein Unmündiger, eine Waise, eine Witwe, und in welcher Art stehst du in Ansehung höherer Wesen, die ein Ansehen sich über dich anmaßen, die dich unterdrücken, die dich übervorteilen und durch deine Unwissenheit, Schwäche, Torheit zu gewinnen suchen? 

229

Hieraus lässt sich ersehen, auf wie viele Fakta unsere Selbsterkenntnis beruht, und dass selbige so lange unmöglich oder unhinlänglich und betrüglich ist, als uns jene nicht entdeckt und offenbart werden. Dass die Vernunft nichts als Analogien auffassen kann, um ein sehr undeutlich Licht zu erhalten; dass wir durch Beobachtungen über den Plan der göttlichen Schöpfung und Regierung allein auf Mutmaßungen gebracht werden können, die sich auf den besondern Entwurf seines geheimen Willens mit uns anwenden lassen.

230

Unser Leben besteht in einer Vereinigung des sichtbaren Teils mit einem höheren Wesen, das wir bloß aus seinen Wirkungen schließen können. Diese Vereinigung ist unserm eigenen Willen einigermaßen preisgegeben – und unzählig vielen andern Zufällen ausgesetzt. – Beide stehen auf eine unbegreifliche und verborgene Weise unter der Regierung und Vorsehung desjenigen, der es uns gibt und nach seinem Willen erhält. Diese und dergleichen Begriffe sind Zeigefinger, auf die wir Achtung geben müssen, um einige Schlüsse über uns selbst zu machen.

231 

Um die Erkenntnis unserer selbst zu erleichtern, ist in jedem Nächsten mein eigen Selbst als in einem Spiegel sichtbar. Wie das Bild meines Gesichts im Wasser widerscheint, so ist mein Ich in jedem Nebenmenschen zurückgeworfen. Um mir dieses Ich so lieb als mein eigenes zu machen, hat die Vorsehung so viele Vorteile und Annehmlichkeiten in der Gesellschaft der Menschen zu vereinigen gesucht.

232 

Gott und mein Nächster gehören also zu meiner Selbsterkenntnis, zu meiner Selbstliebe. Was für ein Gesetz, was für ein entzückender Gesetzgeber, der uns befiehlt, ihn selbst mit ganzem Herzen zu lieben und unsern Nächsten als uns selbst! Dies ist die wahre und einzige Selbstliebe des Menschen, die höchste Weisheit der Selbsterkenntnis eines Christen, der nicht nur Gott als das höchste, wohltätigste, einzig und allein gute und vollkommene Wesen liebt, sondern überdem weiß, dass dieser Gott selbst sein Nächster und seines Nebenmenschen Nächster im strengsten Verstande geworden ist, damit wir alle mögliche Ursache hätten, Gott und unsern Nächsten zu lieben.

233 

In unserm Glauben, sieht man also, ist allein himmlische Erkenntnis, wahres Glück und erhabenste Freiheit der menschlichen Natur vereinigt. Vernunft – Geister – Sittenlehre sind drei Töchter der wahren Naturlehre, die keine bessere Quelle als die Offenbarung hat.

§ 2

234

Wie sollten wir über die Größe unserer Natur erschrecken, wenn wir bedenken, dass die Wahl nicht nur des Guten, sondern des Besten, ein Gesetz unsers Willens ist? Der Bau jedes Geschöpfes bezieht sich auf seine Bestimmung. Ist dieser Ruf nicht eine Prophezeiung der höchsten Glückseligkeit?

§ 3

235

Es war nach dem römischen Recht den Soldaten nicht erlaubt, Ländereien zu kaufen in dem Lande, wo sie Krieg führten. I, 9. Dig. de re militari, I, 13. eod. Wir sehen hier ein römisch Gesetz, welches den Christen verdammt, der zum Streiter auf diese Erde berufen ist und sich zum Angesessenen derselben machen will. In den Geschichten, Gesetzen und Gebräuchen aller Völker finden wir, dass ich so sage, den sensum communem der Religion. Alles lebt und ist voll von Winken auf unsern Beruf und auf den Gott der Gnade. Wir haben ein groß Vorurteil in Ansehung der Einschränkung, die wir von Gottes Wirkung und Einfluss bloß auf das jüdische Volk machen. Er hat uns bloß an dem Exempel desselben die Verborgenheit, die Methode und die Gesetze seiner Weisheit und Liebe erklären wollen, sinnlich machen; und uns die Anwendung davon auf unser eigen Leben und auf andere Gegenstände, Völker und Begebenheiten überlassen. Der Apostel sagt dieses ausdrücklich den Lystrensern, dass Gott den Heiden ebensogut ein Zeugnis und einen Zeugen von sich selbst gegeben; und worin bestand das? Er tat ihnen Gutes – er gab sich ihnen als die Liebe und den Gott der Liebe zu erkennen. – Er gab ihnen Regen vom Himmel und fruchtbare Jahreszeiten und füllte ihr Herz mit Nahrung und Freude. Apostelgesch. 14,17. Man sieht hier offenbar, dass dieser Regen und diese fruchtbaren Zeiten nicht allein in der Witterung bestehen, sondern eben die Wirkungen des Geistes anzeigen, die uns gute Gedanken, Bewegungen, Anschläge mitteilen, und der auf eine so unterscheidende Art den Juden zugeschrieben wird, dass es von ihren Weibern sogar heißt, sie hatten seinen Beistand nötig, um Wolle zur Stiftshütte zu spinnen.

236

Ist das kleinste Gräschen ein Beweis Gottes; wie sollten die kleinsten Handlungen der Menschen weniger zu bedeuten haben? Hat die Schrift nicht das verächtlichste Volk ausgesucht, eines der kleinsten, die schlechtesten Handlungen, ja die sündlichsten derselben, um Gottes Vorsehung und Weisheit darin einzukleiden und ihn zu offenbaren in solcher Erniedrigung der Bilder? Natur und Geschichte sind daher die zwei großen Commentarii des göttlichen Worts, und dieses hingegen der einzige Schlüssel, uns eine Erkenntnis in beiden zu eröffnen. Was will der Unterschied zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion sagen? Wenn ich ihn recht verstehe, so ist zwischen beiden nicht mehr als der Unterschied zwischen dem Auge eines Menschen, der ein Gemälde sieht, ohne das geringste von der Malerei und Zeichnung oder der Geschichte, die vorgestellt wird, zu verstehen, und dem Auge eines Malers; zwischen dem natürlichen Gehör und dem musikalischen Ohr.

237 

Könnte man nicht von Sokrates, wenn er sich auf seinen Schutzgeist bezog, eben das sagen, was von Petrus steht: er wusste nicht, was er sagte, oder von Kaiphas, der prophezeite und göttliche Wahrheiten verkündigte, ohne dass er, noch seine Zuhörer, das geringste von dem wahrnahmen, was Gottes Geist durch ihn redete? Dies ist in der merkwürdigen Geschichte Sauls und Bileams vorgestellt, dass unter den Abgöttern selbst, ja in den Werkzeugen der Hölle die Offenbarung Gottes vor Augen liegt, und dass er sie selbst dazu braucht, um seine Diener und Knechte zu sein, wie Nebukadnezar.

238

Ein englischer Geistlicher hat in die Naturlehre die Salbung der Gnade zuerst einzuführen gesucht; es fehlt uns noch ein Derham (engl. Geistlicher W. Derham, Physiko-Theologe, London 1712), der uns nicht den Gott der nackten Vernunft, dass ich so rede, sondern den Gott der Heiligen Schrift im Reiche der Natur aufdeckt, der uns zeigt, dass alle ihre Schätze nichts als eine Allegorie, ein mythologisch Gemälde himmlischer Systeme – so wie alle Begebenheiten der weltlichen Geschichte Schattenbilder geheimerer Handlungen und entdeckter Wunder sind. Jerem. 32,20.

§ 4

239

Welche Frage hat den Weltweisen mehr zu schaffen gemacht, als der Ursprung des Bösen oder die Zulassung desselben? Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse. – Wenn wir einen rechten Begriff von den Dingen hätten oder uns zu machen suchten, so dürften wir uns durch Ausdrücke nicht verwirrt machen, noch beleidigt halten. Gut und Böse sind eigentlich allgemeine Begriffe, die nichts mehr als eine Beziehung unserer selbst auf andere Gegenstände und dieser Zurückbeziehung, dass ich so sage, auf uns anzeigen. Wir stehen also mit andern Dingen in Verbindung; auf diesem nexum beruht nicht nur unser wahres Wesen und eigentliche Natur, sondern auch alle Abwechslungen und Schattierungen, deren sie fähig ist.

240 

Unser Leben hat nötig, durch Nahrung erhalten und ersetzt zu werden. Diese hängt von den Früchten der Erde ab, und diese gewissermaßen von der Ordnung unseres Fleißes und dem Lauf der Natur. Die Faulheit ist daher ein sittlich Übel und die Teurung ein physisches Übel. Wir nennen aber beide so, weil durch selbige die Verbindung zertrennt wird, worin unser Dasein und die Erhaltung desselben zum Teil besteht.

241 

Unsere Gesundheit ist ein Gut, das in einer Harmonie des körperlichen Baues und der Vereinigung mit der Seele besteht. Alles dasjenige, was selbige zu zerstören und zu ändern fähig ist, heißt daher ein Übel; und im Gegenteil ist dasjenige ein Gut, was selbige erhält oder wiederherstellen kann. Unsere Gesundheit und Leben kann daher aufhören ein Gut zu sein, sobald beide in eine höhere Ordnung Eingriffe tun, die in einem näheren Verhältnis mit unserer geistigen Natur stehen.

242 

Der Mensch ist ein sehr entferntes Glied in der Reihe der erschaffenen Dinge von dem großen Urwesen, wodurch alle bestehen und durch dessen Wort alle entstanden sind. Er mag noch so schwach gegen den ganzen nexum sein, so hängt doch alles von Gott ab, und derjenige, welcher die ganze Kette in seiner Hand hält, trägt ihn in seiner unmittelbaren Obhut, vermöge der Gesetze, wodurch alle Mittelwesen in ihm ihren Grund und ihre Bestimmung haben.

243 

Nichts gibt uns ein so außerordentlich Licht in die ganze Natur der Dinge, als die große Wahrheit unseres Heilandes: niemand ist gut, als der einige Gott. Anstatt also zu fragen, wo kommt das Böse her, sollten wir die Frage vielmehr umkehren und uns wundern, dass endliche Geschöpfe fähig sind, gut und glücklich zu sein. Hierin besteht das wahre Geheimnis der göttlichen Weisheit, Liebe und Allmacht. Diese philosophische Neugierde, die sich über den Ursprung des Bösen so sehr wundert und beunruhigt, sollte man fast für ein dunkel Bewusstsein des göttlichen Ebenbildes in unserer Vernunft ansehen, für ein Üsteron prÒteron (hysteron proteron) dessen wahrer Sinn umgekehrt genommen werden muss, in dessen Versetzung aber gleichwohl eine Cabbala liegt, ein geheimer Verstand.

244 

Es gibt nicht mehr als eine einzige Verbindung, die Gott zum Gesetz unserer Natur und ihres Glücks gemacht. Alles dasjenige, was der Mensch gegen diesen Zusammenhang tut, löst das allgemeine Band auf, die Harmonie, den Frieden, wodurch alle äußere Dinge zu schwach sind, in ihn zu wirken, und er stark genug, dem Ungestüm aller Gegenstände, die ihn unterdrückend überfallen, zu widerstehen, ja nicht nur zu widerstehen, sondern selbst über diese vereinigte Macht zu herrschen.

245

Man stelle sich einen mächtigen Monarchen vor, der einen Liebling der Wut seiner Höflinge aufgeopfert, um sich durch seinen Sohn an selbigen zu rächen. Der Vater ist verbannt und plötzlich der Rache und Macht seiner Feinde entzogen worden. Sein unmündiger Sohn bleibt im Reich, und alles wütet um dieses Kind, um den Vater doppelt in demselben zu foltern und sich an seinem Erben mit desto mehr Grausamkeit zu rächen. Der Monarch entdeckt diesem Kinde das Schicksal seines Vaters, die Bosheit, die Macht und List seiner Feinde, ja ein Teil des Geheimnisses, warum er sich nicht öffentlich für seinen Vater und ihn selbst erklären kann, warum er ihm den Hof verbieten muss, er tut ihm zugleich die Versicherung, dass er unbesorgt allenthalben sein soll, dass er einen unerkannten Freund auf alle seine Wege und die Schritte seiner Feinde bestellt hat; ja, dass er ihm ein Zeichen eindrucken will, das jedermann verehren soll und das niemand imstande wäre auszulöschen oder ihm zu rauben als seine eigene Hand oder sein eigener Wille oder sein eigener Ungehorsam und Verachtung der Warnungen und Hilfsmittel, deren Gebrauch er ihm überließe. Dass seine Entfernung eine kurze Zeit sein sollte, dass er ihn zu dem Aufenthalt seines Vaters unbekannt zu führen gedächte und sie beide nach Vollziehung einiger wichtigen Geschäfte in sein Reich öffentlich zurückzurufen und zu seinen Freunden und Nachfolgern oder Mitregenten öffentlich erklären und zugleich Strafe an ihren Feinden ausüben wollte.

246

Lasst uns diesem Kinde folgen, dem von seinen Feinden auf dem Wege nachgestellt wird, die alles tun, um durch Liebkosungen und Drohungen es zu gewinnen, die das Zeichen an seiner Stirn bald lächerlich machen, bald ihn bewegen, selbiges als einen Flecken abzuwischen, bald ihm Näschereien und güldene Berge versprechen, um ihn von selbst dazu zu bewegen. – Gesetzt, die Feinde erreichten es so weit, um es unkenntlich zu machen oder eine Zeitlang unsichtbar zu machen. Sie warten bloß hierauf, um ihre Rachsucht auszuüben; und mitten in der Entdeckung ihrer Grausamkeit und der Gefahr, worin sich dieses Kind befindet, kommt der unbekannte Freund, um es aus ihren Klauen zu erretten. So kurz der Weg, so ist es von innerlicher Angst, Furcht und beständigen Anfällen seiner Feinde bedroht, in denen immer sein voriger unbekannter Erretter zu rechter Zeit erscheint, um ihn nicht umkommen zu lassen, und mit dessen Gegenwart alle Schreckbilder und Gestalten der Gefahr verschwinden.

247

Um der Ähnlichkeit in der Erdichtung noch näher zu folgen, lasst uns annehmen, dass dieses Kind ein Zeichen an seinem Gesicht trüge, ohne es zu wissen, und das keine fremde Hand als seine eigene auslöschen könnte, dass es ihm daher aufgebunden würde, nicht mit der Hand die Stirne zu berühren und sich dazu durch keine Vorstellung bewegen zu lassen, ohne dass ihm die Ursachen oder das Dasein dieses Zeichens und die Ehrfurcht, die seine Feinde für selbiges haben müssten, alle die Folgen aber seines Ungehorsams in diesem Stück entdeckt würden.

248 

Dieser Unmündige wandert jetzt – des Monarchen Verheißungen und Befehle – der Aufenthalt, wo er seinen Vater finden soll – und der Schutz des unbekannten Freundes, auf den er sich bei aller aufstoßenden Gefahr gewiss zu verlassen hatte; Hoffnung, kindliche Liebe und Zuversicht sind sein Stolz, seine Lust und seine Stärke.

249 

Wenn wir das menschliche Geschlecht und jeden Menschen uns in ähnlichen Fällen vorstellen, dass sein Leben, seine Sicherheit und ewig Glück von einer Bedingung abhängt, die über alle Schwierigkeiten siegt, und dass er mit Übertretung derselben nicht nur sein Glück verscherzt, sondern auch in das höchste Elend gerät und in beständiger Furcht, Angst und Gefahr schweben, ja einer augenblicklichen Erlösung nötig haben muss, falls er nicht auf ewig verloren sein soll – so wird uns die Frage vom Ursprung des Bösen in einem ganz fremden Gesichtspunkt vorkommen.

§ 5

250 

Je mehr ich dem Begriff der Freiheit nachdenke, desto mehr scheint er mir mit allen Beobachtungen derselben übereinzukommen. Ich will zwei anführen. Man kommt überein, dass es keine Freiheit ohne Gesetze geben könne; und man erklärt diejenigen für freie Staaten, wo die Untertanen sowohl als der Fürst von Gesetzen abhängen. Gesetze haben alle ihre Kraft bloß durch den Grundtrieb der Selbstliebe, der Belohnungen und Strafen als Bewegungsgründe wirksam macht. Ein Gesetz ist niemals so beunruhigend und so beleidigend als ein Richterspruch, der auf Billigkeit gegründet ist. Das erste rührt meine Eigenliebe gar nicht und erstreckt sich auf meine Handlung allein, macht daher alle diejenigen mit mir gleich, die im gleichen Falle stehen. Der letzte, ein willkürlicher Spruch ohne Gesetz, ist aus entgegengesetzten Bewegungen der Selbstliebe allemal als eine Knechtschaft für uns. Durch ein Gesetz sind mir die Folgen meiner Handlung bekannt; die Einbildungskraft kann daher durch keine Schmeicheleien oder argwöhnische Überlegungen von der Gerechtigkeit unsers Fürsten oder Richters uns hintergehen. Ja, der Richter in einer freien Republik zeigt mir selbst durch sein Beispiel, dass ihm das Gesetz so gut befiehlt, dies gegen mich auszusprechen, als es mir befiehlt, das, was er ausspricht, zu leiden. Hierin bestehen also alle die Vorzüge der politischen Freiheit, jeder weiß die Folgen seiner Handlungen, und niemand kann selbige ungestraft übertreten, weil nichts als der Wille des Gesetzes mich einschränken kann, und dieser Wille ist mir so wohl bekannt als unwandelbar, ja, der Wille des Gesetzes ist in allen Fällen für mich und eine Stütze meiner Selbsterhaltung und Selbstliebe. Daher berufen wir uns auf Gesetze, daher fürchten wir selbige. Man füge noch hinzu, dass die Gesetze, die wir uns selbst geben, aus eben dem Grunde der Selbstliebe uns niemals schwer vorkommen, und dass es das größte Vorrecht freier Staaten ist, ihre eigenen Gesetzgeber zu sein. Gesetze schränken also nicht Freiheit ein, sondern geben mir die Fälle zu erkennen und die Handlungen, die vorteilhafte oder nachteilige Folgerungen für meine Selbstliebe haben sollen, und diese Einsicht bestimmt daher unsere Neigungen.

251 

Der stoische Grundsatz: Der Tugendhafte ist allein frei und jeder Bösewicht ein Sklave, bekommt aus dieser Erklärung gleichfalls sein Licht. Lüste und Laster hindern unsere Erkenntnis, die falschen Urteile derselben verwirren daher unsere Selbstliebe. Wir glauben, zu unserm Besten, zu unserm Vergnügen, zu unserer Ehre zu handeln, und wählen Mittel, die allen diesen Endzwecken widersprechen. Ist dies Selbstliebe? Wo diese nicht ist, kann auch keine Freiheit sein.

§ 6

252 

Wenn man erwägt, wieviel Stärke, Gegenwart des Geistes, Geschwindigkeit, der wir sonst nicht fähig sind, uns die Furcht einer außerordentlichen Gefahr gibt: so begreift man, warum ein Christ dem natürlichen sichern Menschen so sehr überlegen ist, weil er mit beständiger Furcht und Zittern seine Seligkeit sucht. 

§ 7

253 

Mein Magen beschwert sich über die Unmäßigkeit, jedes Glied hat sein Gefühl, das es warnt vor einem Gegenstand, der ihm nachteilig ist: dies ist ein physisches Gewissen.

§ 8

254 

Wo kommt das Ansehen her, in dem die Wahrsagerkünste stehen und die große Anzahl derselben, die sich auf nichts als ein Missverständnis unseres Instinkts oder natürlicher Vernunft gründen? Wir sind alle fähig, Propheten zu sein. Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Gesichte, Rätsel, die ihre Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chiffren, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nötig haben, der die Heilige Schrift auslegt und die Absicht ihrer Eingebung ist.

§ 9

255

Der Leib ist das Kleid der Seele. Er deckt die Blöße und Schande derselben. Der Wollüstige und Ehrgeizige schreiben die lasterhaften Neigungen ihrem Blut und Fiebern zu. Er hat gedient, unsere Seele zu erhalten, eben wie die Kleidung unsern Leib schützet gegen die äußerlichen Angriffe der Luft und anderer Gegenstände. Diese Notdurft unserer Natur hat uns erhalten, unterdessen höhere und leichtere Geister ohne Rettung fielen. Die Hindernis, die uns ein Kleid gibt, das uns ein wenig schwerer macht und ein wenig von dem Gebrauch unserer Glieder entzieht, erstreckt sich nicht sowohl auf das Gute in Ansehung der Seele als in Ansehung des Bösen. Wie abscheulich würde vielleicht der Mensch sein, wenn ihn der Leib nicht in Schranken hielte!

§ 10

256

Das allgemeine Beste eines Staates wird von den Almosen der Untertanen unterhalten. Jede Scherbe des Fleißes wird von Gott gesegnet zum allgemeinen Reichtum und Nahrung.