Die Nähe des Reiches Gottes
Welche Botschaft hat Jesus verkündet?
Die Gestalt Jesu Christi ist in unserer Gesellschaft sehr präsent, und Jesu „Bekanntheitsgrad“ lässt nichts zu wünschen übrig. Denn jeder, den man fragt, hat irgendeine Vorstellung von Jesus, und viele können sich auch an zwei oder drei Geschichten aus dem Neuen Testament erinnern. Doch fragt man nach, was denn eigentlich Jesu Botschaft gewesen sei, was er gelehrt und gepredigt hat, sieht man ratlose Gesichter oder bekommt falsche Auskünfte. Frage ich die Konfirmanden, was Jesu Botschaft war, sagen sie manchmal: „Na, Jesus wollte, dass alle an Gott glauben!“ Aber das kann es nicht sein, denn zur Zeit Jesu gab es gar keine Atheisten. Alle Menschen glaubten an Gott. „Na dann“ sagen die Konfirmanden, „war’s vielleicht die Nächstenliebe. Jesus wollte, dass sich alle Menschen lieben.“ Doch von Nächstenliebe lesen wir schon so viel im Alten Testament, dass Jesus damit gewiss kein Aufsehen erregt hätte.
Was also war es, was den erbitterten Widerstand der Pharisäer und der Schriftgelehrten hervorrief? Was war so anders an der Verkündigung Jesu, dass man seine Lehre für skandalös und den ganzen Mann für gefährlich hielt? Eine schnelle Antwort fällt schwer, weil Jesu Wirken so vielfältig ist. Jesus wanderte nicht nur umher, berief unterwegs Jünger und stritt mit Pharisäern, sondern er heilte auch Kranke und trieb Dämonen aus. Er erzählte nicht nur Gleichnisse und erteilte strenge ethische Anweisungen, sondern er gab sich gleichzeitig mit Prostituierten und mit Zöllnern ab, redete prophetisch und tat Wunder. Das scheinen sehr verschiedene und sogar gegensätzliche Dinge zu sein. Und doch gibt es in der Verkündigung Jesu ein zentrales Thema, das alle seine Aktivitäten miteinander verbindet, weil nämlich alles was Jesus sagte und tat, unmittelbar zu tun hatte mit dem Reich Gottes.
(1) Schon gleich zu Beginn seines öffentlichen Auftretens nimmt Jesus die Botschaft Johannes des Täufers auf und ruft den Menschen zu: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Mt 4,17) Für Jesus ist das Himmelreich keine statische Größe, die irgendwo weit weg auf uns wartet, wenn wir mal gestorben sind, sondern er versteht das Reich Gottes als eine dynamische Größe, die sich unaufhaltsam auf uns zu bewegt. Denn Gott bleibt nicht untätig im „Jenseits“, wenn seine Geschöpfe auf Abwege geraten, sondern Gott kommt, um beanspruchend und heilend zugleich seine Hand auf diese Welt zu legen. „Gott ist im Kommen“, das ist die Zeitansage mit der Jesus seine Mitmenschen aufschreckt. Gottes Reich ist nahe herbeigekommen! Und wer nicht überrumpelt werden will, muss sich jetzt für Gottes Reich bereit machen, muss Buße tun und sein altes Leben hinter sich lassen, um offen und bereit zu sein für das Neue, das Gott geschehen lässt. Alles wird jetzt anders!
(2) Und diesen radikalen Aufbruch mit Jesus gemeinsam zu vollziehen, eben dazu werden seine Jünger berufen. Jesus ruft seine Leute heraus aus dem Trott ihrer familiär und beruflich festgelegten Situation, damit sie frei werden von allen weltlichen Bindungen, und dadurch frei werden für das Reich Gottes. Die in die Nachfolge Jesu eintreten, sollen sich nicht mehr um Alltägliches sorgen indem sie fragen: „Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?“ Sondern sie sollen dem Reiches Gottes absolute Priorität einräumen: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes“, ruft Jesus ihnen zu, „und nach seiner Gerechtigkeit.“ (Mt 6,31-33) Woran aber haben die Jünger erkannt, dass das Reich Gottes wirklich nah ist?
(3) Der Umbruch war für sie ganz offenkundig und sichtbar in den Zeichen und Wundern, die Jesus tat. Denn wenn Menschen krank sind, gelähmt, blind oder aussätzig – und Jesus heilt sie –, wird dann nicht die Macht ihres bösen Schicksals durchbrochen? Wenn Menschen besessen sind von bösen Geistern und Dämonen, und Jesus befreit sie aus dieser Umklammerung, indem er die Dämonen austreibt und bannt, ist dann nicht die Macht Satans gebrochen? Wenn Menschen tief in Schuld verstrickt sind, in Egoismus, Misstrauen, Resignation und lasterhafte Gewohnheiten, und Jesus holt sie da heraus, indem er sie annimmt und ihnen vergibt, ist dann nicht die Macht der Sünde gebrochen? Ja, Krankenheilung, Exorzismus und Vergebung zeigen, dass Jesus Fesseln löst, die vorher keiner lösen konnte. So wie die ersten Knospen an den Bäumen den Frühling ankündigen, so künden Jesu Wunder vom kommenden Reich! Wo Jesus auftritt, gelten die gnadenlosen Regeln plötzlich nicht mehr, Satan gerät in die Defensive und verliert zusehends an Boden. Denn in der Person Jesu ist eine Segenskraft erschienen, gegen die er nicht anstinken kann, und in den mächtigen Taten Jesu manifestiert sich das Reich Gottes eben nicht als jenseitige, sondern als gegenwärtige, hier und jetzt erfahrbare Größe. Jesus selbst deutet seine Wunder als den Beginn einer Revolution, in deren Verlauf das Böse auf Erden entmachtet werden wird. Er sagt: „Wenn ich ... durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ (Lk 11,20)
(4) Wenn das Reich Gottes aber nicht bloß kommt, sondern in und mit der Person Jesu schon da ist, ist es dann verwunderlich, dass er von sich selbst als von dem „Menschensohn“ spricht – und damit einen Titel wählt der unmittelbar mit der Erwartung des Reiches verbunden ist? Der „Menschensohn“ ist eine Gestalt, die der Prophet Daniel schon viele Jahrhunderte vor Jesus angekündigt hat (Daniel 7,13–14), und von der Daniel sagt, dass ihr Erscheinen unmittelbar mit dem Reich Gottes verknüpft sein wird. Jesus aber wendet genau diesen Begriff häufig auf sich an und dokumentiert damit, wie er seine Sendung versteht. Er ist es, den die Propheten angekündigt haben. Er ist es, mit dem und durch den das Reich Gottes kommt.
(5) Und so wundert es auch gar nicht, dass ein besonders großer und typischer Teil der Lehre Jesu aus Gleichnissen besteht, die das Reich Gottes veranschaulichen. Jesus redet in seinen Gleichnissen vom Reich Gottes als einem großen Abendmahl oder einer königlichen Hochzeit. Er vergleicht es mit einem Schatz im Acker oder mit einer kostbaren Perle, für die man alles hingibt. Und von der verborgenen Dynamik des Reiches spricht Jesus in den Gleichnissen vom Sauerteig, von der selbstwachsenden Saat, vom Senfkorn und vom Unkraut unter dem Weizen. Nichts ist Jesus wichtiger, als seine Jünger darin zu unterweisen. Das will er seine Schüler lehren! Denn sie sollen ihre ganze Aufmerksamkeit auf das kommende Reich richten, das klein und verborgen beginnt, wo Jesus Glauben findet, das aber einst groß und revolutionär vor aller Augen sichtbar werden wird. Jesus arbeitet daran, den Satan zu entmachten! „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre.“ (1.Joh 3,8) Denn diese alte Welt, in der sich der Böse breit gemacht hat, und die er beherrscht durch die Angst und Gier der Menschen, diese bleierne Zeit wird enden!
(6) Und alle ethischen Weisungen Jesu laufen lediglich darauf hinaus, dass wir den großen Herrschaftswechsel vorwegnehmen und dem Verderber unseren Gehorsam mit sofortiger Wirkung aufkündigen. Denn die Jünger Jesu sollen schon heute leben im Licht des kommenden Tages und sollen schon heute den Regeln folgen, die im Reich Gottes gelten. Dort wird Barmherzigkeit herrschen, darum sollen wir schon hier Barmherzigkeit üben. Dort werden wir reinen Herzens sein, darum sollen wir schon hier den Schmutz aus uns tilgen. Dort wird Gerechtigkeit herrschen, darum sollen wir schon hier nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. Ja, die gesamte Ethik Jesu läuft darauf hinaus, dass ein Mensch die Fesseln abwirft, mit denen er gebunden war, und anfängt, nach den neuen Spielregeln zu spielen, die da heißen Sanftmut, Friede, Demut, Liebe und Wahrhaftigkeit. Die Bergpredigt ist nichts anderes als Jesu Regierungserklärung für das Reich Gottes, das mit ihm und in seiner Person anbricht!
(7) Wer aber ist zu diesem Reich eingeladen? Wer darf schon auf Erden ein Bürger des Himmels sein? Überraschender Weise richtet Jesus seine Einladung nicht in erster Linie an die Gerechten und Klugen, an die Frommen und Anständigen, sondern ruft zuerst und mit besonderem Nachdruck die moralisch und sozial Gescheiterten. Denn Jesus wendet sich den Sündern zu, den Zöllnern und Prostituierten! Die Pharisäer und die Schriftgelehrten finden das natürlich höchst anstößig, dass Jesus sich mit solchen Leuten abgibt. Sie können sich nicht vorstellen, wie einem Menschen Heil widerfahren soll, der Gottes Gesetz fern steht. Aber Jesus sagt: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ (Lk 19,10) Jesus unterteilt die Menschen nicht in brave Bürger und sozialen Abschaum. Er unterscheidet nicht mehr Erfolgreiche und Versager, Reiche und Arme, Angesehene und Verachtete, Schlaue und Dumme. Sondern weil mit dem Reich Gottes etwas völlig Neues beginnt, unterscheidet Jesus nur noch zwischen Menschen, die sich dem Reich Gottes vorbehaltlos öffnen, und solchen, die sich ihm verschließen.
Ob einer Zugang findet zu Gottes Reich, das entscheidet sich nicht mehr an seinem Verhältnis zu den religiösen Riten und Vorschriften des Alten Testamentes, sondern es entscheidet sich an seinem Verhältnis zu Jesus selbst. Denn wer Jesus im Glauben annimmt, der hat in ihm das Reich Gottes – auch wenn er ansonsten komplett scheiterte. Wer aber Jesus ablehnt, der hat damit zugleich das Reich Gottes abgelehnt und verloren – auch wenn er ansonsten das Leben eines Heiligen führte. Mit welchem Recht aber stößt Jesus die alten Maßstäbe über den Haufen, wenn es doch um Gottes Gebote geht, die Jesus wahrlich nicht gleichgültig sind? Wie kann Jesus den Sündern helfen und ihnen Heil zusprechen, wo sie doch krank sind an sich selbst, wo sie doch unwürdig sind, in Gottes Gemeinschaft einzugehen, und unfähig, sich zu Höherem aufzuschwingen?
(8) Wir erreichen damit den entscheidenden Punkt, an dem uns bewusst wird, wie eng Jesu Botschaft vom Reich Gottes zusammenhängt mit seinem Tod am Kreuz. Denn wenn sein ganzes Leben der Botschaft vom Reich gewidmet war – wäre es da nicht seltsam, wenn dasselbe nicht auch von seinem Tod gelten würde? Tatsächlich ist der Kreuzestod Jesu der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen. Denn erst dieser stellvertretende Tod macht es möglich, dass Sünder wie sie und ich zum Reich Gottes Zugang erlangen. Wir, auf uns gestellt, hätten den Preis für die Eintrittskarte nämlich nie aufgebracht. Wir würden beschämt vor verschlossenen Türen stehen, weil wir die Rechnungen nicht begleichen können, die wir bei Gott offen haben. Aber Jesus hat sterbend unsere Schuld gebüßt, und hat uns damit durch Tod und Auferstehung hindurch den Weg gebahnt in Gottes Reich hinein. Das Lebensthema Jesu hat sich also am Ende nicht im Geringsten geändert. Es bleibt bis zuletzt das Reich Gottes. Denn alles im Leben Jesu hatte mit dem Reich zu tun – von den Wundern über die Ethik bis zu den Gleichnissen. Am allermeisten aber hat das Sterben Jesu mit dem Reich Gottes zu tun, weil er darin alles, was uns vom Reich Gottes hätte trennen können, erleidet und büßt und erträgt und überwindet. Jesus geht nach Jerusalem, um dort den Fluch unserer Schuld auf sich zu ziehen und uns dafür den Segen seiner Gerechtigkeit zu schenken. Und am Ostermorgen geht er aus dem Grab hervor, um für uns einen Weg zu bahnen, auf dem wir ihm folgen können. Kein Mensch hätte Zugang zu Gottes Reich, wenn er diesen Zugang nicht hätte in und durch Jesus. Wer aber Jesus hat, der hat auch das Reich Gottes, und ist ein Bürger der kommenden Welt. Wo aber ist nun dieses Reich? Und wo erfahren wir es? Kommt es erst noch? Oder ist es schon da?
Nach allem, was wir gesagt haben, dürfte klar sein, dass beide Antworten richtig sind. Denn obwohl Gottes Reich noch im Kommen ist, ist es doch auch schon gegenwärtig. Das Reich Gottes ist eine himmlische Wirklichkeit, die durch Jesu Person und Werk in unsere irdische Gegenwart hineindrängt. Und es ist darum nicht bloß Zukunft, sondern beginnt schon überall, wo das Verhältnis zwischen Gott und Mensch durch Jesus Christus bestimmt wird. Das Reich ist nicht auf eine entfernte Zukunft beschränkt, so dass es jetzt noch „unwirklich“ wäre. Es ist aber auch nichts, was in der Gegenwart schon aufginge, ohne einer künftigen Steigerung fähig zu sein. Sondern am ehesten sollte man an eine große Flutwelle denken oder an eine heranbrausende Lawine, denn dann versteht man, warum sich das Reich Gottes nicht in das Schema von Diesseits und Jenseits einfügen kann. Das Reich Gottes lässt sich weder dem Himmel noch der Erde zuordnen, weil sein Wesen gerade in der Grenzüberschreitung liegt. Es ist nicht hier oder da. Sondern es ist die Bewegung von hier nach da. Und in dieser Bewegung geschieht nichts Geringeres, als dass der Himmel zur Erde kommt. Gott selbst kommt in die Welt und bekräftigt seinen Anspruch auf jede lebende Seele. In Jesus Christus erschien er auf dem irdischen Schauplatz. Und um Christus herum wächst seither Gottes Reich. Denn Gottes Sohn selbst ist der Sauerteig, der die Welt nach und nach durchdringt.
Wenn wir getauft sind auf den Namen Jesu, wenn wir in seiner Gegenwart Abendmahl feiern, wenn wir uns seiner Wahrheit beugen und uns seiner Barmherzigkeit überlassen, dann ist damit der Himmel schon tief hineingedrungen in unser Erdenleben. Ja, haben wir durch den Glauben Anteil an Christus, so stehen wir schon jetzt mit einem Bein im Reich Gottes. Mitten im irdischen Leben sind wir schon Bürger des Himmels. Mitten in unserer Schuld sind wir schon begnadigt. Und mitten im Gericht sind wir schon durch das Gericht hindurchgedrungen. Denn Christus sagt eben nicht, irgendwann werde das Reich Gottes wirklich werden, sondern er spricht von der aktuellen Gegenwart des Reiches, die nichts anderes ist als seine, als Jesu Gegenwart bei uns. Ja: Wo man Jesu Botschaft im Glauben annimmt, dort wird vom Reich Gottes nicht nur geredet, sondern dort wird es Wirklichkeit. Denn das Reich Gottes ist eine Saat, die Jesus in unsere Herzen gesät hat. Dass diese Saat aber bald aufgehe und viele Früchte trage, innerlich wie äußerlich, das dürfen wir uns von Herzen wünschen und zuversichtlich erwarten.
Bild am Seitenanfang:
Jesus Preaches in a Ship (Jésus prèche dans une barque)
James Tissot, Public domain, via Wikimedia Commons