Naturgesetz, Wunder und Freiheit Gottes
Mögen sie Wundergeschichten? Das Neue Testament ist voll davon. Wunder über Wunder. Wir kennen sie – aber bedeuten sie uns etwas? Goethe meint, das Wunder sei „des Glaubens liebstes Kind“. Aber mir scheint, er hat nicht Recht damit. Denn für viele Menschen (auch für viele Christen!) sind sie eher eine Last und eine Zumutung. Sie hören von biblischen Wundern und stöhnen: Muss man das alles glauben? Muss ich dutzende von völlig unwahrscheinlich klingenden, aller Erfahrung widersprechenden Erzählungen für wahr halten, um zur Kirche zu gehören? Muss ich mich dem Spott aussetzen: Was, du glaubst an Wunder? An den Weihnachtsmann und den Osterhasen glaubst du wohl auch? Sich verspotten zu lassen, ist ein hoher Preis. Und wofür? Was habe ich davon, wenn ich glaube, dass vor zweitausend Jahren in Israel Gelähmte, Blinde und Aussätzige geheilt wurden? Sicher war das für die Betroffenen eine erfreuliche Sache. Aber mit mir hat das Ganze nichts zu tun! Was soll ich also mit solchen Geschichten anfangen?
Es liegt nahe, so zu denken und die Wundergeschichten links liegen zu lassen. Unklar bleibt dann aber, warum sie überhaupt in der Bibel stehen. Man muss ja annehmen, dass die Wunder den Autoren des Neuen Testamentes etwas bedeutet haben. Sonst hätten sie sie nicht gesammelt und überliefert. Versuchen wir also, ihre Beweggründe zu verstehen – mit Hilfe eines Vergleiches: Stellen sie sich vor, es sei März oder April. Und nehmen wir an, es sei ein besonders scheußlicher, nasskalter Winter gewesen. Wochenlang nur trüber Himmel, Schneematsch auf den Straßen, Kälte und Feuchtigkeit überall. Und nun entdecken sie plötzlich im Garten, dass der erste Baum auszuschlagen beginnt und ein paar unscheinbare Knospen treibt. Werden sie sich nicht freuen und anderen von diesen ersten Frühlingsboten erzählen? „Seht her, dieser scheußliche Winter geht zuende – jetzt können wir uns auf den Frühling freuen!“ Ich denke, die Autoren des Neuen Testamentes tun etwas ganz ähnliches, wenn sie uns von Wundern erzählen. Nicht anders als wir lebten sie in einer Welt, die nicht von Schnee und Kälte, aber von Zwängen und Gesetzmäßigkeiten beherrscht wird. Starke Völker unterdrücken schwächere Völker, Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer, es geht eben nicht gerecht zu. Den einen trifft es so, den anderen so – und wer versucht, den Lauf der Welt zu ändern, macht sich meist zum Narren. Am Ende kommt es doch, wie es kommen muss. Vieles in der Geschichte wiederholt sich, und, wie der Prediger Salomo schon sagte, geschieht nichts wirklich Neues unter der Sonne. Krumm bleibt krumm, gerade bleibt gerade. Diese Ordnung hat Gott über die Welt verhängt, und wer klug ist, fügt sich. So zu denken, ist realistisch. Es ist aber zugleich deprimierend wie ein scheußlicher nasskalter Winter.
Und wenn nun etwas Überraschendes passiert, das man als Zeichen des kommenden Frühlings verstehen muss? Nehmen wir an, ein Mensch, der viele Jahre seines Lebens krumm und lahm war, wird durch Jesu Wort plötzlich gerade und kräftig. Die Leute wundern sich und stellen fest, dass das nur eines bedeuten kann: Gott nimmt sich offenbar die Freiheit, alte Ordnungen außer Kraft zu setzen. Gott lässt sich durch die Naturgesetze nicht die Hände binden. Er erweist sich als frei. Und es sieht aus, als mache er sich daran, dem Lauf der Welt eine neue Richtung zu geben. Der alte Salomo hat sich also geirrt! Wo der Name Jesu Christi ins Spiel kommt, geschieht doch mal etwas Neues unter der Sonne. Der Krumme muss nicht krumm bleiben. Denn mit diesem Jesus kommt Gott. Und er kommt uns ganz anders als bisher! Die Wunder Jesu lassen sich also mit den ersten Knospen nach dem Winter vergleichen. Sie sind Indizien dafür, dass die Dinge in Bewegung geraten sind, dass sich Großes anbahnt. Und die Zeugen solcher Wunder haben darum fröhlich weitererzählt, was sie sahen. Andere haben ihre Berichte bis in unsere Zeit überliefert. Das geschah aber nicht, weil die Schicksale jener Kranken an sich wichtig wären, sondern weil sie Indizien für Gottes Aufbruch sind. Darum geht es in dieser Sache nicht um Einzelschicksale von Menschen, die längst tot sind und nie etwas mit uns zu tun hatten. Sondern es geht um Gottes Frühling, der in Christus anbricht. Entscheidend sind dabei nicht zwei oder drei Knospen, sondern entscheidend ist der kommende Frühling. Will sagen: Es kommt nicht auf dieses oder jenes Wunder an, sondern auf Gottes Neubeginn mit den Menschen. Und wer das weiß, kann auch jene Frage beantworten: „Muss man das alles glauben?“
Nein, man muss nicht „das alles“, aber man darf Gott seine Freiheit glauben. Christen glauben nicht an bestimmte Wunder. Sie glauben an den Gott, der Wunder tun kann. Deshalb sollte niemand mit dem Wunderglauben das Gewissen derer belasten, die zweifeln. Man kann durchaus überlegen, ob Gott die Naturgesetze in seinen Wundern aufgehoben oder sie nur auf eine für uns undurchschaubare Weise benutzt hat. Das ist legitim. Denn man kann über die Knospen streiten und sich dennoch gemeinsam auf den Frühling freuen. Aber freilich: wer gar keine Knospen sieht – wird der wohl wirklich mit dem Frühling rechnen? Ohne Bild gesagt: Wer Gott gar keine Wunder zutraut – hat der wohl Hoffnung für sich und diese Welt? Das ist eine ernste Anfrage. Denn wenn ich die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt für so stark und Gott für so schwach halte, dass ich an die überlieferten Wunder der Vergangenheit nicht glauben kann, werde ich auch in Gegenwart und Zukunft nicht mit Wundern rechnen. Ich stelle mir Gottes Hände dann gebunden vor – nicht frei, mein persönliches Geschick oder den Lauf der Welt zum Guten zu wenden. Und das ist schlimm. Nicht nur, weil ich dabei Gott verkenne. Sondern vor allem um meinetwillen.
Denn wer an die Knospen nicht glauben kann, der glaubt ja wohl an die Ewigkeit des Winters. Dass der Lauf der Welt aber ewig der uns bekannte bleiben müsste – das ist ein tieftrauriger Gedanke. Denn dann wäre auch die Ungerechtigkeit, das Leiden der Kreaturen, die Schuld, der Irrtum, die Lüge und der Tod, eben das ganze über uns Sünder verhängte Elend gleichermaßen ewig. Glücklich, wer nicht an diesen ewigen Winter, sondern mit dem Neuen Testament an Gottes Freiheit glaubt! Ich gebe zu, dass das nicht einfach ist. Unsere Gegenwart ist arm an Zeichen und Wundern. Viel Winter ist um uns her. Und Frühlingsboten sind rar. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber gerade für den, der friert, ist es wichtig, zu entscheiden, ob er an die Ewigkeit des Winters glauben oder auf den Frühling hoffen will. Denn letztlich geht es nicht darum, was Gott damals an diesem oder jenem Gelähmten bewerkstelligen konnte, sondern darum, was er an uns heute und morgen bewerkstelligen kann. Krumm und lahm ist ja jeder von uns auf die eine oder andere Weise – sei es körperlich oder seelisch. An jedem Herzen nagt ein Wurm – mag er Eifersucht oder Melancholie heißen, Gier oder Selbstverachtung. Und stelle ich die Wunderfrage so, im Blick auf meinen eigenen Defekt, hat sie nichts skurriles oder abstraktes mehr, sondern wird zur konkreten und wichtigen Frage an mich selbst: Traue ich Gott das Wunder zu, mich aufzurichten und zu heilen, traue ich ihm zu, dass er mich gerecht spricht und einmal durch den Tod hindurch vollendet – oder traue ich ihm das alles nicht zu?
Damit ist die Frage nach dem Wunder nicht beantwortet (das muss jeder für sich tun), aber sie ist richtig gestellt. Denn es geht dabei nicht um Mirakel der Vergangenheit, sondern um unsere eigene Zukunft. Gott gebe uns das Zutrauen, dass wir ihm seine Freiheit glauben dürfen, denn sie ist der Grund der Hoffnung, ohne die Christen nicht sein können…
Bild am Seitenanfang: The Raising of Lazarus
Duccio di Buoninsegna, Public domain, via Wikimedia Commons