Gottes Zorn, unsere Schuld und Christi Kreuz

Gottes Zorn, unsere Schuld und Christi Kreuz

Warum sagt man, Christus sei „stellvertretend“ gestorben?

In einem Land, nicht weit von hier, regierte einst ein weiser und gerechter König namens Theophan. Die Leute waren froh, dass sie diesen König hatten, denn er regierte das Land sehr gut. Andere Könige jener Zeit stürzten ihre Völker in sinnlose Kriege, weil sie machtgierig waren. Aber nicht so Theophan – er liebte den Frieden. Andere Könige waren bestechlich. Sie beugten das Recht und begünstigten ihre Freunde und Verwandten. Doch nicht so Theophan – er urteilte gerecht und ohne Ansehen der Person. Viele andere Herrscher dieser Zeit beuteten ihre Völker aus und verlangten hohe Steuern, damit sie ihre Paläste mit allem Luxus ausstatten konnten. Aber auch daran hatte König Theophan kein Interesse. Er arbeitete viel und widmete sich ganz den Staatsgeschäften. Nur für eines nahm er sich daneben noch Zeit: Wenn er es irgend einrichten konnte, ging er mit seiner Mutter im Garten des Schlosses spazieren. Er liebte seine Mutter nämlich sehr. Sie war alt und schon sehr gebrechlich. Er musste sie beim Gehen stützen. Doch tat er nichts lieber, als sie durch den Schlossgarten zu führen und mit ihr zu plaudern. Denn dabei vergaß seine Mutter alle Schmerzen und Beschwerden, die ihr das Alter bereitete.

Allerdings – in letzter Zeit wurden diese Spaziergänge seltener. Die Staatsgeschäfte hielten König Theophan zu sehr in Atem. Denn der König des Nachbarlandes – er hieß Beliar – war ein machthungriger Diktator. Und Theophan hatte schon lange geahnt, dass sein Volk in Gefahr war. Nun aber hatte Beliar tatsächlich einen Krieg angezettelt und mit seinen Truppen die Grenze überschritten. König Theophan liebte den Frieden. Aber er wusste, dass seinem Volk schlimme Unterdrückung bevorstand, wenn Beliar siegen würde. Darum schickte Theophan dem Feind alle seine Truppen entgegen. Und Theophans Feldherren waren lange erfolgreich.

Sie verfügten zwar über weniger Soldaten als der Gegner, aber sie taktierten geschickt und konnten Beliars Angriffe oft zurückschlagen. Theophan war schon voller Hoffnung, dass Beliar seine Eroberungspläne aufgeben würde. Doch eines Tages kam ein berittener Bote von der Front. Er stürzte in den Thronsaal und berichtete Theophan von einer vernichtenden Niederlage. Theophans Feldherren hatten eine große Schlacht verloren, weil Theophans Schlachtpläne an den Feind verraten worden waren. Der König war entsetzt: Unter seinen engsten Beratern musste es einen Spion geben! Theophan gab sich sofort große Mühe, die undichte Stelle in seinem militärischen Führungsstab zu finden. Doch es waren noch keine drei Tage vergangen, da kam der nächste Bote mit schlimmen Nachrichten. Wieder war eine Schlacht verloren, wieder waren hunderte von Soldaten gefallen, weil der Feind über die Aufstellung und die Strategie des königlichen Heeres genau Bescheid wusste. Theophan war entsetzt und zornig, denn nun stand alles auf dem Spiel. Er musste den Verräter im eigenen Lager schleunigst finden. Theophan dachte nach und sandte dann Boten in sein ganzes Königreich aus, die Folgendes öffentlich verkündeten:

„Im Namen König Theophans: Wer den Verräter unserer militärischen Geheimnisse enttarnt oder einen Hinweis gibt, der zur Enttarnung des Verräters führt, wird mit 100.000 Golddukaten belohnt. Der Verräter aber wird mit 100 Peitschenhieben auf den nackten Rücken bestraft.“

Wieder vergingen einige Tage. Beliars Truppen hatten schon einen Teil des Landes erobert. Doch dann tat der Erlass des Königs seine Wirkung. Im Schutze der Nacht kam ein Hauptmann der Schlosswache zu Theophan und sprach: „Herr, ich bin gekommen, um mir die Belohnung von 100.000 Golddukaten zu verdienen. Ich kenne den Verräter und kann dir Beweise vorlegen.“ Theophan sprang freudig auf. „Raus mit der Sprache, red’ schon Hauptmann, du sollst die Belohnung haben. Wer ist es?“

Der Hauptmann zögerte. Er schluckte und sprach: „Verzeih mir, Herr. Es wird dir wehtun, das zu hören. Aber der Verräter, der Verräter… – es ist deine Mutter.“ Theophans Gesicht versteinerte. Er sank auf seinem Thron zusammen. Und er schwieg lange. Dann verlangte er die Beweise zu sehen. Denn er wollte nicht glauben, dass seine alte Mutter ihm das angetan hatte. Aber der Hauptmann konnte einen Brief an Beliar vorweisen, der abgefangen worden war. Es war eindeutig die Handschrift von Theophans Mutter. Wortlos händigte der König dem Hauptmann seine Belohnung aus und schickte ihn weg.

Theophan schloss sich in seinen Gemächern ein, um nachzudenken. Es zerriss ihm das Herz. War jetzt die Gerechtigkeit wichtiger oder die Liebe? Der Gerechtigkeit nach musste er seine Mutter öffentlich auspeitschen lassen. So hatte er es dem Verräter schließlich öffentlich angedroht. Und es wäre nicht gerecht, für die eigene Familie eine Ausnahme zu machen. Das einmal gegebene Wort des Königs muss gelten. Aber würde seine Mutter 100 Peitschenhiebe überleben? Könnte er der Gerechtigkeit zuliebe zuschauen, wie seine Mutter öffentlich zu Tode gepeitscht würde? Verrat hin oder her – sie war schließlich seine Mutter. Er liebte sie wie nichts auf der Welt. Konnte man von ihm verlangen, im Namen der Gerechtigkeit die Liebe zu vergessen? Drei Tage lang dachte der König darüber nach, was zu tun sei, schlief nicht und aß nicht. Gerechtigkeit und Liebe stritten in seinem Herzen. Unmöglich konnte er seine öffentliche Drohung zurücknehmen. Unmöglich konnte er seine Mutter peitschen lassen. Endlich aber kam Theophan zu einem Entschluss...

Am nächsten Morgen zogen wieder königliche Boten durch das Land. Sie verkündeten, der Verräter sei gefasst worden, und jedermann sei eingeladen, der öffentlichen Auspeitschung auf dem Schlossplatz beizuwohnen. Natürlich war der Andrang groß. Die Schaulustigen und Neugierigen drängten in Massen auf den Platz. Auf einer Tribüne hatte König Theophan mit dem Hofstaat Platz genommen, während sich in der Mitte des Platzes neben einem Holzpfahl ein Knecht mit der Peitsche bereithielt. Schließlich kam der Moment, auf den die Menge so gespannt gewartet hatte. Eine Eskorte von Soldaten trat aus dem Schlosshof und führte den Delinquenten in die Mitte des Platzes. Welch ein Raunen ging durch die Menge, als man erkannte, dass es die Mutter des Königs war! Die Soldaten lösten der alten Frau die Fesseln, banden sie an den Holzpfahl und entblößten ihren Rücken. Der Knecht mit der Peitsche schaute noch einmal fragend zur Tribüne des Königs hinüber, hob dann aber den Arm und...

„Halt“ schallte es herüber. Der Knecht ließ die Peitsche sinken. König Theophan hatte „Halt“ gerufen. Die Menge hielt die Luft an. Der König aber sprang von der Tribüne und sagte laut, so dass alle ihn hören konnten: „Halt. Meine Mutter hat ein Verbrechen begangen, das gesühnt werden muss. Aber ich trete an ihre Stelle. Schlagt mich. Ich trage ihre Strafe.“ Theophan band seine Mutter los, legte Mantel und Hemd ab und stellte sich selbst an den Pfahl. Der Knecht war entsetzt. Doch Theophan befahl ihm, seine Arbeit zu tun. Und dann empfing der König 100 Peitschenhiebe. Der Schmerz war schrecklich. Und doch war König Theophan glücklich. Denn es war ihm gelungen, Gerechtigkeit und Liebe zu vereinbaren.

 

Muss man lang erklären, was diese Geschichte mit dem Leiden und Sterben Christi zu tun hat? Ich glaube kaum. Wer die Geschichte verstanden hat, hat zugleich verstanden, warum Gott Mensch wurde und sich ans Kreuz schlagen ließ. Denn auch Gott hatte das Problem, das König Theophan hatte. Auch Gott hatte sich durch das Wort seines Gesetzes festgelegt. Um seine Schöpfung vor dem Einbruch des Bösen zu schützen, hat er den Menschen klare Regeln gegeben: Er ließ durch Mose die Zehn Gebote verkünden. Und er sagte dazu: Wenn ihr euch daran haltet, will ich euch segnen und will euch lange und glücklich leben lassen auf Erden. Wer aber meine Gebote übertritt, der soll verflucht sein und soll ausgerottet werden von der Erde. Das ist bis heute unmissverständlich. Gott hat von Anfang an für klare Verhältnisse gesorgt und kein Geheimnis daraus gemacht, dass böses Tun seinen Zorn erregt und dass es Strafe nach sich ziehen wird. Aber was muss er erleben?

So weit das Auge reicht wird gelogen, gestohlen und betrogen, Ehebruch gilt als Kavaliersdelikt und um die Sonntagsheiligung kümmert sich fast keiner mehr. Der Name Gottes wird nicht in Ehren gehalten, vielmehr wird rund um den Globus Blut vergossen. Jeder ist nur auf seinen Vorteil aus – kein einziger steht mit reinen Händen da. Und was soll Gott in dieser Situation tun? Folgte er dem Grundsatz der Gerechtigkeit, so müsste er seinem Wort Geltung verschaffen und uns die Konsequenzen unseres Tuns spüren lassen. Von Rechts wegen müsste Gott uns Menschen ausrotten und mit uns zugleich das Böse, von dem wir nicht die Finger lassen wollen. Das wäre nur gerecht. Er hat ja vorher gesagt, dass es ihm ernst ist mit den Geboten.

Aber es geht Gott mit uns wie Theophan mit seiner Mutter. Ließe er uns die schrecklichen Folgen unseres Fehlverhaltens tragen, so bräche es ihm das Herz. Es wäre das Ende der Menschheit, die Gott doch mit viel Liebe geschaffen und erhalten hat. Dass wir so enden, will Gott nicht. Er liebt auch seine missratenen Kinder. Was aber kann er tun? Kann er etwa die Drohung seines Gesetzes zurücknehmen? Nein. Kann er die Liebe und Barmherzigkeit vergessen? Nein. Kann er einen faulen Kompromiss eingehen? Nein. All das ist unmöglich, denn Gott ist nicht wie wir: Sein Wort gilt auf ewig, seine Liebe ist unüberwindlich, und Halbheiten macht er schon gar nicht. Darum konnte Gott den Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Liebe nicht überspielen und nicht unter den Teppich kehren, wie wir das wahrscheinlich getan hätten. Gott musste den Konflikt austragen. Und er tat es so, wie König Theophan in unserer Geschichte: Wie Theophan für seine Mutter, so sprang Gott für uns in die Bresche. Er wurde Mensch in Jesus Christus. Und er nahm die Strafe auf sich, die wir verdient haben. Er löffelte die Suppe aus, die wir uns eingebrockt haben. Er ließ das Gewitter des Zorns über sich selbst niedergehen. Er lud auf sich den Hass der Menschen, litt unsere Schmerzen, starb unseren Tod. Der Fluch unserer bösen Taten traf ihn, damit er uns nicht treffe; ja Gott ließ sich verwerfen, damit wir nicht verworfen würden. Er mutete sich selbst die Gottverlassenheit des Kreuzes zu, damit sie uns erspart bliebe. Denn so, und nur so – um diesen hohen Preis! – konnte es ihm gelingen, Gerechtigkeit und Liebe zu vereinen. Die Gerechtigkeit verlangte, dass die Sünde der Menschheit nicht ungesühnt bleiben durfte. Das Gewitter des Gerichtes musste sich entladen, sonst hätte das, was zwischen uns und Gott stand, nie bereinigt werden können. Die Liebe Gottes aber sorgte dafür, dass der Blitz nicht uns traf, sondern den, der uns liebt. Gott hielt den Kopf hin für seine missratenen Kinder. Und das ist die ganze Botschaft der Passion Jesu. Denn wer verstanden hat, warum Christus für uns sterben musste, der hat das Kreuz verstanden. Und wer das Kreuz Christi verstanden hat, hat damit einen tiefen Blick in Gottes Herz getan und wird künftig wissen, was er gesehen hat: In Gottes Herz wohnt nicht ein bisschen Gerechtigkeit unklar vermischt mit ein bisschen Liebe. Sondern in Gottes Herz ist seine absolute Gerechtigkeit versöhnt mit seiner unendlichen Liebe...

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Pilatus zeigt Christus dem Volk

Quentin Massys, Public domain, via Wikimedia Commons