DAS NEUNZEHNTE KAPITEL. (1.B./19.K.)
DER IN SEINEM HERZEN DER ELENDESTE IST, DER IST BEI GOTT DER LIEBSTE; UND DURCH CHRISTLICHE ERKENNTNIS SEINES ELENDES SUCHET MAN GOTTES GNADE.
Inhalt.
1) Gott siehet nur den Elenden an. 2) Wer sich aber für etwas hält, den siehet er nicht an. 3) Ein Elender ist klein, ja nichts in seinem Herzen, wie David. 4) Wer nun etwas sein will, daraus macht Gott nichts. 5) Aus nichts aber macht er etwas. 6) Wie an David und Jakob zu sehen, 7) ingleichen an Jesu selbst. 8) Gottes Materie, daraus er etwas macht, ist nichts. 9) Ein Elender achtet sich nichts wert, weil, außer der Sünde, nichts sein, sondern alles Gottes ist. 10) Ein Mensch ist ein Schatten, 11) und ein dürrer Baum. 12) Solche Demütige siehet Gott gnädig an. 13) 14) Je elender man in sich selbst, je kräftiger das Anschauen Gottes ist. 15) Nicht um der Armut, sondern um der Sünde willen soll man sich elend achten. 16) Das Beste, was ein Mensch reden kann, sind zwei Worte: Ich habe gesündiget, erbarme dich mein. 17) So findet man Gottes Gnade.
Ich sehe an den Elenden, der zerbrochenen Geistes ist, und der sich fürchtet vor meinem Wort. Jes. 66,2.
Diesen Spruch hat der gnädige und barmherzige Gott selbsten durch den Pro-pheten Jesaja ausgesprochen, unser betrübtes Herz zu trösten durch sein gnädi-ges Ansehen. Soll dich nun Gott gnädig ansehen, so mußt du in deinem Herzen bei dir selbst elend sein, und dich nicht wert achten eines göttlichen oder menschlichen Trostes, sondern dich gar für nichts achten, und allein im Glauben Christum anschauen.
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2. Welcher Mensch sich noch für etwas hält, der ist nicht elend in seinem Herzen, und den siehet auch Gott nicht an. Daher sagt St. Paulus: Gal. 6,3. Wer sich dünken läßt, er sei etwas, da er doch nichts ist, der betrügt sich selbst; Ursache, Gott ist alles allein. Und wenn du Gott willst kennen lernen, so mußt du nicht allein wissen, dass er alles allein sei, sondern du mußt es in deinem Herzen da-für halten, und an dir selbst beweisen.
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3. Willst du nun dasselbige mit der Tat beweisen, dass Gott alles allein sei, so mußt du in deinem Herzen nichts werden, so klein, so gering, als wärest du nichts. Wie der liebe David, als ihn seine Michal verachtete, da er tanzte vor dem Gnadenstuhl, sprach er: Ich will noch geringer werden in meinen Augen vor dem Herrn, 2 Sam. 6,22.
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4. Der Mensch, der etwas sein will, ist die Materie, daraus Gott nichts macht, ja daraus er die Narren macht; ein Mensch aber, der nichts sein will, und sich für nichts hält, ist die Materie, daraus Gott etwas macht, und herrliche, weise Leute vor ihm. Ein Mensch, der sich vor Gott für den geringsten achtet, für den elen-desten, ist bei Gott der größte und herrlichste; der sich für den größten Sünder hält, ist bei Gott der größte Heilige.
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5. Siehe, dies ist die Niedrigkeit, die Gott erhöhet, das Elend, das Gott ansiehet, und die Nichtigkeit des Menschen, daraus Gott etwas macht. Denn gleichwie Gott Himmel und Erde aus nichts gemacht hat zu einem herrlichen und wunder-baren Gebäu, also will er den Menschen, der auch nichts ist in seinem Herzen, zu etwas Herrlichem machen.
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6. Sehet den David, wie sahe Gott sein Elend an, nahm seine Niedrigkeit, und machte so ein herrliches Werk daraus. Item, den Jakob, da er sprach: Herr, ich bin viel zu gering aller der Wohltaten, die du mir erzeiget hast, 1 Mos. 32,10.
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7. Sehet den Herrn Jesum an, wie Gott aus seiner Niedrigkeit und aus seinem Elende, ja aus seiner Nichtigkeit, da er für uns ein Fluch und Wurm ward, Ps. 22,7. der Geringste und Verachteste unter den Menschenkindern, Jes. 53,3. so große Herrlichkeit gemacht hat.
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8. Sehet einen Künstler an, soll er ein Kunststück machen, so muß er ganz eine neue Materie haben, daraus er es macht, es darf kein anderer daran gesudelt haben. Also tut Gott auch, soll er aus dem Menschen etwas machen, so muß er nichts sein. Der aber sich selbst zu etwas machet, und meinet, er sei etwas, der ist nicht Gottes Materie, daraus er etwas macht, ist nichts, ja Gott siehet ihn nicht an. Daher spricht die Jungfrau Maria: Der Herr hat seine elende Magd ange-sehen, siehe von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder, Luk. 1,48.
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9. Der ist nun in seinem Herzen elend, der sich so gering hält, dass er sich keiner Wohltaten Gottes, sie seien geistlich oder leiblich, wert achtet. Denn wer sich etwas wert achtet, und meint, er sei etwas, da er doch nichts ist, findet Gottes Gnade nicht, sondern verliert dieselbige; denn Gottes Gnade bleibt bei keinem Menschen, der sich für etwas hält. Denn wer sich eines Dinges würdig achtet, der empfängt nicht alles von Gott aus Gnaden. Gnade ist es, und nicht Würdigkeit, was du um und um bist. Ein Mensch hat nichts, das sein ist, als seine Sünde, sein Elend, Nichtigkeit und Schwachheit, das andere ist alles Gottes.
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10. Ein Mensch ist nichts anders, als ein Schatten. Siehe an den Schatten eines Baums, was ist er? Nichts. Reget sich der Baum, so beweget sich der Schatten auch, weß ist nun die Bewegung? Nicht des Schattens, sondern des Baums. Also, weß ist dein Leben? Nicht dein, sondern Gottes, wie geschrieben steht Ap. Gesch. 17,28. In ihm leben, weben und sind wir. Die Äpfel des Baums erschei-nen auch wohl im Schatten, aber sie sind nicht des Schattens, sondern des Baums. Also trägst du gute Früchte, sie sind nicht dein, sie erscheinen wohl in dir, aber als ein Schatten, sie kommen aber aus dem ewigen Ursprung, welcher ist Gott; wie ein Apfel nicht aus dem Holze wächset, wie die Unverständigen meinen, ob er wohl daran hänget, wie ein Kind an der Mutter Brüsten, sondern aus der grünenden Kraft, aus dem innersten Samen, sonst trügen auch dürre Hölzer Äpfel.
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11. Der Mensch aber ist von Natur ein dürrer Baum, Gott ist seine grünende Kraft, wie der 27. Psalm v. 1. spricht: Der Herr ist meines Lebens Kraft. Und wie der Herr spricht: Luk. 23,31. Geschiehet das am grünen Holz, was will am dürren werden? Darum sind alle Menschen dürre Hölzer, Gott ist ihre grünende Kraft, Hos. 14,9. Ich will sein wie eine grünende Tanne, an mir soll man deine Frucht finden. Joh. 15,5. Werdet ihr in mir bleiben, so werdet ihr viel Früchte bringen.
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12. Wenn nun ein Mensch in seinem Herzen elend, gering und nichts ist, tröstet sich aber der lautern Gnade Gottes in Christo, so siehet ihn Gott an. Nun aber ist Gottes Ansehen nicht also zu verstehen, wie ein Mensch einen ansiehet, davon man keine Kraft empfindet, sondern Gottes Ansehen ist Kraft, Leben und Trost; und eines solchen Ansehens ist ein elendes, gläubiges Herz fähig, und je mehr dasselbe Gottes Trost empfindet, je geringer und unwerter es sich dessen achtet. Welches uns in Jakob vorgebildet ist, der sich viel zu gering achtete aller Wohl-taten Gottes, und des leiblichen Segens, 1 Mos. 32,10. Also achtet sich ein recht elendes Herz nicht wert eines himmlischen ewigen Segens und Trostes, und spricht auch zu Gott: Ich bin zu gering der großen Liebe und Barmherzigkeit, so du mir in Christo erzeiget hast; ich bin nun noch zwei Heere worden, indem du mir deinen Sohn geschenkt hast und alles mit ihm, die Güter der Gnaden und Herrlichkeit. Und wenn ein Mensch so viel Tränen vergösse, so viel Wasser im Meer ist, so wäre er doch nicht wert eines himmlischen Trostes. Denn es ist lauter unverdiente Gnade, darum ist der Mensch nichts würdig, als der Strafe und ewigen Verdammnis.
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13. Siehe, wer das recht erkennet im Glauben, der erkennet sein Elend, und den wird Gott ansehen, und ohne dies Elend siehet Gott den Menschen nicht an, und ohne Erkenntnis solchen Elendes findet ein Mensch nicht Gottes Gnade. Darum spricht St. Paulus: 2 Kor. 12,9. Will ich mich meiner Schwachheit rühmen, auf das die Kraft Christi in mir wohne. Denn so gütig und barmherzig ist Gott, dass er sein Reich nicht will verderben lassen, sondern je schwächer es in ihm selbst ist, je stärker Gottes Kraft in ihm ist, wie der Herr zu Paulo spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig, 2 Kor. 12,9.
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14. Je elender nun ein Christenmensch in seinem Herzen ist, je mehr ihn Gott ansiehet, auf dass er den Reichtum seiner Güte erzeige an den Gefäßen seiner Barmherzigkeit; und darum begnadiget er den Menschen ohn all sein Verdienst mit dem himmlischen Trost über alle menschliche Weise. Denn Gottes Trost ist mit der Menschen Trost nicht zu vergleichen. Und also siehet Gott den Elenden an mit seinem Trost.
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15. Ein Mensch ist nicht darum elend, soll sich auch nicht darum elend achten, dass er arm ist, und in der Welt keinen Trost hat, sondern darum, dass er ein Sünder ist. Denn wäre keine Sünde, so wäre auch kein Elend. Einem Menschen kann nicht so großes Elend widerfahren, er hat es noch größer verdient. Darum soll er nicht deshalb trauern, dass ihm nicht große Wohltaten widerfahren, er ist der allergeringsten nicht wert, auch seines eigenen Leibes nicht. Und wiewohl das Fleisch und Blut nicht gerne höret, dennoch soll um der Wahrheit willen ein jeder seine Sünden selbst strafen, auf dass die Gnade Gottes bei ihm wohne.
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16. Was soll sich nun ein Mensch rühmen, oder warum soll er seinen Mund auf-tun? Das Beste, das ein Mensch mit seinem Munde reden kann, sind diese zwei Worte: Ich habe gesündiget, erbarme dich mein! Gott fordert nicht mehr von dem Menschen, denn diese zwei Worte, dass der Mensch seine Sünden bereue und beweine, und um Gnade bitte. Wer das versäumt, der hat das Beste in seinem Leben versäumt. Beweine nur nicht deinen Leib, dass er nackend und bloß, hungrig und durstig, verfolgt und gefangen, arm und krank ist, sondern beweine deine Seele, dass sie in dem sündlichen und sterblichen Leibe wohnen muß. Ich elender Mensch, sagt Paulus: wer will mich erlösen aus dem Leibe dieses To-des? Röm. 7,24. Siehe, dies christliche Erkenntnis deines innerlichen Elends, diese gnadenhungrige Reue, und der Glaube, so allein Christo anhanget, tut die Tür der Gnaden in Christo auf, dadurch Gott zu dir eingehet, Offenb. 3,20. So tue nun Buße, siehe, ich stehe vor der Tür, und klopfe an, so jemand meine Stimme hören wird, und die Tür auftun, zu dem will ich eingehen, und mit ihm das Abendmahl halten, und er mit mir. Dies Abendmahl ist Vergebung der Sünden, Trost, Leben und Seligkeit. In dieser Türe des Glaubens begegnet zu rechter Zeit der gnädigste Gott der elendesten Seele, Ap. Gesch. 14,27. Hier wächset Treue auf Erden, und Gerechtigkeit schauet vom Himmel. Hier begegnen einander Güte und Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede küssen einander, Ps. 85,11.12. Hier kommt die arme Sünderin Maria Magdalena, die weinende Seele des Menschen, und salbet dem Herrn seine Füße, waschet sie mit Tränen, und trocknet sie mit den Haaren der herzlichen Demut und Niedrigkeit, Luk. 7,37. Hier kommt der geistliche Priester, Offenb. 1,6. in seinem heiligen Schmuck des Glaubens, und bringt das rechte Opfer, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz, Psalm 51,19. und den besten Weihrauch, der herzlichen Reue; dies ist das rechte geheiligte Weihwasser, die Tränen über die Sünden, auf dass im Glauben und in der Kraft des Blutes Christi die geistlichen Israeliten gewaschen und gereiniget werden.
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17. Siehe also, lieber Christ, findest du durch christliche Erkenntnis deines Elends, und durch den Glauben Gottes Gnade; je elender du in deinem Herzen bist, je lieber du Gott bist, je mehr und gnädiger dich Gott ansiehet.
Gebet um Erkenntnis seines Elends und der Gnade Gottes.
Du, Vater des Lichts! öffne mir die Augen, dass ich sehe, wie elend, jämmerlich, arm, blind, bloß und gar nichts ich sei, und nichts habe, als Sünden, Not und Tod; siehe mich aber in Gnaden an, und schenke mir, der ich nichts wert bin, aus erbarmender Liebe, mit Jesu alles; mache mich durch ihn in allen Stücken reich, und gib alsdann, dass ich mich doch ja nicht überhebe, sondern in der Niedrigkeit und Herzensdemut bleibe, und warte, bis du mich erhöhest zur rechten Zeit, hier oder dort in Ewigkeit, Amen.