DAS SECHSUNDZWANZIGSTE KAPITEL. (1.B./26.K.)

 

WARUM DER NÄCHSTE ZU LIEBEN SEI?

 

Inhalt.

1) Der Prophet Micha zeiget Kap. 6,6.7.8. 2) Worinnen der wahre Gottesdienst bestehe? 3) Nämlich im Glauben, Liebe und Demut. 4) Die Liebe ist des Ge-setzes Erfüllung; 5) und quillet aus der Gerechtigkeit Christi. 6) Zur Liebe soll uns bewegen: 1. weil Gott die Liebe ist. 7) 2. Weil die Liebe ein Kennzeichen der Jünger Christi. 8) 3. Weil ohne dieselbe alle Gaben nichts sind. 9) 4. Weil ein Liebhaber auch ein Feind Gottes ist. 10) 5. Weil die Liebe das Gesetz der Natur. 11) 6. Weil sie ein Vorschmack des ewigen Lebens ist. 12) 7. Weil sie uns Gott ähnlich macht. 13) 8. Weil sie eines Christen einige Kunst und Adel. 14) 9. Weil man ohne dieselbe kein Glied des Leibes Christi ist. 15) 10. Weil ohne dieselbe alles Gebet untüchtig ist. 16) Liebe bringet Freude.

 

Seid niemand nichts schuldig, als dass ihr euch unter einander liebet; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllet. Röm. 13,8.

 

Im Propheten Micha Kap. 6,6-8. lesen wir diese Frage und Antwort: Womit soll ich den Herrn versöhnen? Mit Bücken vor dem hohen Gott? Soll ich ihn mit Brandopfern und jährigen Kälbern versöhnen? Meinest du, der Herr habe Wohl-gefallen an viel tausend Widdern, oder am Öl, wenn es gleich große Ströme

----------

wären? Oder soll ich meinen ersten Sohn für meine Übertretung geben? Oder meines Leibes Frucht für die Sünden meiner Seele? Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert: nämlich Gottes Wort halten, Liebe üben, und demütig sein vor deinem Gott.

----------

2. In dieser Frage und Antwort lehret uns der Prophet, worinnen der rechte, wahre Gottesdienst bestehet: nämlich nicht in äußerlichen Zeremonien oder Opfern, denn was kann ein Mensch Gott geben? Ist es doch zuvor alles sein, und er bedarf unser gar nicht; er wird auch nicht versöhnt, wenn man gleich Men-schen opfern wollte. Denn das hat er nicht befohlen, und ist ihm ein Gräuel, und gereicht zur Schmach dem einigen Versöhnopfer, so durch Christum allein ge-schehen ist, welchen Gott dazu verordnet hat, dass er der Welt Sünde tragen sollte, Joh. 1,29. sondern der rechte wahre Gottesdienst, der Gott gefällt, be-stehet inwendig im reinen Glauben, welches der Prophet hier nennet, Gottes Wort halten; in Übung des Glaubens, der Liebe und Barmherzigkeit, und nicht im Opfer, in wahrer Demut, wie David Ps. 51,19. spricht: Die Opfer, die Gott ge-fallen, sind ein geängstigter Geist, ein geängstetes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott! nicht verachten.

----------

3. Also muß der wahre Gottesdienst aus dem Grunde des Herzens gehen, aus dem Glauben, Liebe und Demut; dazu ermahnet uns der Apostel Paulus, Röm. 13,8.9.10. Welcher Spruch ist ein Lob der Liebe, und immerwährende Pflicht gegen den Nächsten. Damit können wir Gott recht dienen. Ursache, man kann Gott mit nichts dienen, als mit dem, was er selbst wirket in unserm Herzen; denn Gott dienen ist nichts anders, als dem Nächsten dienen mit Liebe und Wohltat.

----------

4. Zu solcher Liebe will uns der Apostel ermahnen, und gebraucht ein feines, liebliches Argument, welches denen anmutig ist, so die christliche Tugend lieb haben, und spricht: Die Liebe sei eine so herrliche Tugend, in welcher alle Tu-genden begriffen sein, und sei des Gesetzes Erfüllung. Welches Argument der Apostel Paulus nicht darum gebraucht, dass wir mit unserer Liebe das Gesetz vollkommen erfüllen können, und dadurch die Seligkeit und das ewige Leben verdienen, welches zwar geschähe, wenn unsere Liebe vollkommen wäre; son-dern dass er uns die Vortrefflichkeit und Würdigkeit dieser Tugend einbilde, uns auch derselbigen zu befleißigen. Unsere Gerechtigkeit ist auf Jesum Christum gegründet, und auf sein Verdienst, welches wir uns zueignen, durch den Glau-ben.

----------

5. Aus derselben Gerechtigkeit quillet nun die Liebe gegen den Nächsten mit allen andern Tugenden, und heißen Früchte der Gerechtigkeit, zum Lobe und Preise Gottes, Phil. 1,11. Weil es nun die herrlichste und größte Tugend ist, so wollen wir noch weiter davon handeln, und noch etliche Gründe hören, uns in der Liebe zu erbauen.

----------

6. 1) Der beweglichste Grund ist: 1 Joh. 4,16. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm. Wer wollte nicht gerne in Gott sein und bleiben? Und wer wollte nicht gerne, dass Gott in ihm sei und bleibe? Im Gegenteil wer wollte gerne, dass der Satan in ihm wäre, und er im Satan? Das geschiehet aber, wenn die Liebe nicht da ist, sondern Feindseligkeit. Denn der Teufel ist ein Menschenfeind, Gott aber ein Liebhaber der Menschen. Hieher gehöret, was St. Johannes am ermeldten Ort ferner spricht: v. 7. Wer lieb hat, der ist aus Gott geboren und kennet Gott. 1 Joh. 3,10. Daran werden offenbar die Kinder Gottes und die Kinder des Satans. Ist das nun nicht tröstlich, ein Kind Gottes sein, und aus Gott geboren sein, und Gott recht erkennen? Denn wer die Liebe nicht im Herzen hat, und hat nie erfahren ihre Kraft, ihr Leben, ihre Wohltat, ihre Gütigkeit, ihre Freundschaft, Langmut und Geduld etc., den kennet freilich Gott nicht, welcher eitel Liebe ist. Denn die Erkenntnis Gottes und Christi muß aus der Erfahrung und Empfindung gehen. Wer kann Christum recht kennen, der von der Liebe nichts weiß? Denn Christus ist ja eitel Liebe und Sanftmut. Wer diese Tugend hat und übet, der kennet Christum recht. Wie St. Petrus 2 Epist. 1,8. spricht: Wenn ihr die Liebe üben werdet, die wird euch nicht unfruchtbar sein lassen in der Erkenntnis Christi.

----------

7. 2) Der Herr spricht: Joh. 14,35. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebet habe. Nun heißt Christi Jünger sein, nicht allein mit dem Namen ein Christ sein, und ihn mit dem Munde allein bekennen, sondern es heißt, an Christum glauben, ihn lieb haben, Christo folgen, und in ihm leben, Christo wahrhaftig angehören, von ihm herzlich geliebt werden, ewig Teil an ihm haben, und aller seiner Wohltaten genießen. Wer nun die Liebe Christi nicht hat, der gehöret Christo nicht an, und hat keinen Teil an ihm. Denn er hat keinen Glauben, darum wird ihn Christus für den Seinen nicht erkennen. Gleichwie man einen Apfel am Geschmack, und eine Blume an ihrem Geruch kennet, also einen Christen an der Liebe.

----------

8. 3) St. Paulus spricht: 1 Kor. 23,2. Dass alle hohen Gaben ohne die Liebe nichts seien. Viele Sprachen kennen, Wunder tun, viele Geheimnisse wissen etc. beweiset keinen Christen, sondern der Glaube, so durch die Liebe tätig ist. Gott hat uns auch nicht große schwere Dinge befohlen, Wunderzeichen zu tun, und dergleichen, sondern die Liebe und Demut. Und Gott wird an jenem Tage nicht fragen, wie gelehrt du gewesen bist in Künsten, Sprachen und vielen Wissen-schaften, sondern wie du den Glauben, die Liebe geübt hast? Ich bin hungrig gewesen, ihr habt mich gespeiset etc., Matth. 25,35. Darum St. Paulus Gal. 5,6. spricht: Dass in Christo weder Beschneidung noch Vorhaut gilt, das ist, kein Vorzug, keine Gaben, kein Ansehen der Person, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

----------

9. 4) So spricht St. Johannes: 1 Joh. 4,20.21. So jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet? Denn dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, der auch seinen Bruder liebe, das ist, es kann Gottes Liebe ohne des Nächsten Liebe nicht sein. Wer seinen Nächsten nicht liebt, der ist ein Feind Gottes; denn ein Menschenfeind ist Gottes Feind, darum, weil Gott ein Liebhaber der Menschen ist.

----------

10. 5) So ist die Liebe das Gesetz der Natur, aus welchem dem menschlichen Geschlechte alles Gute entstehet, und ohne welche das menschliche Geschlecht vergehen müßte. Denn alles, was dem Menschen Gutes geschieht, das quillt und entspringt aus der Liebe; darum St. Paulus die Liebe nennet das Band der Voll-kommenheit, Kol. 3,14. Denn was für herrliche Früchte aus der Liebe wachsen, beschreibt er Röm. 12,9. Daher der Herr Matth. 12,7. spricht: Alles, was ihr wollet, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch, das ist das Gesetz und die Propheten. Und die Heiden haben aus der Natur gelernet: Was du nicht willst, was dir geschehe, das tue einem andern auch nicht. Diesen Spruch hat der Kaiser Severus, welcher auch sonst mit herrlichen Tugenden begabt gewesen, stets im Munde geführt, und in die geschriebenen Rechte setzen lassen.

----------

11. 6) So ist die Liebe ein schönes Bild und Vorgeschmack des ewigen Lebens. Denn was daselbst für ein seliger Zustand sein wird, wenn die Auserwählten sich unter einander lieben werden, eines des andern sich freuen, in ewiger Freund-lichkeit und Leutseligkeit bei einander wohnen, und sich eines an dem andern ergötzen werden, das ist nicht auszudrücken. Solches alles wird in der Liebe geschehen. Darum wer des ewigen Lebens Bild anschauen, ja davon einen Vor-geschmack haben will, der wird reichlich dadurch ergötzet und erfreuet werden, und viele Ruhe und Frieden im Herzen haben.

----------

12. 7) Je reiner, brünstiger und herzlicher nun die Liebe ist, je näher der gött-lichen Art und Natur; denn in Gott, in Christo und dem heiligen Geist ist die allerreineste, zarteste, brünstigste, edelste und herzlichste Liebe. Rein ist die Liebe, wenn man nicht um eigenen Nutzens und um eigenen Genusses willen liebet, sondern allein um der Liebe Gottes willen, weil uns Gott so rein und lauter liebt, umsonst, ohne allen Nutzen. Darum, wer um seines Nutzens willen den Nächsten liebet, der hat keine reine Liebe und keine göttliche Liebe. Und das ist der Unterschied unter der heidnischen Liebe und unter der christlichen Liebe; ein Christ liebt seinen Nächsten in Gott, in Christo, lauter, umsonst, und hat alle Menschen in Gott und in Christo lieb; davon haben die Heiden nichts gewußt, sondern haben alle ihre Tugenden mit eitler Ehre und Eigennutz beflecket. Herzlich lieben wir den Nächsten, wenn es ohne Heuchelei geschieht, ohne alle Falschheit, wenn die Liebe aus dem Herzen geht, und nicht aus dem Munde, dadurch mancher betrogen wird. Brünstig ist die Liebe, wenn eine herzliche Barmherzigkeit und Mitleiden da ist, da man sich des Nächsten Not annimmt, als seiner eigenen, ja, wenn es möglich wäre, dass man dem Nächsten sein Leben mitteile, ja sein Leben für die Brüder lasse, 1 Joh. 3,16. und Moses und Paulus, die da wollten verbannet sein für die Brüder, 2 Mos. 32,32. Röm. 9,3.

----------

13. 8) Daraus folget, dass wir unsere Feinde lieben sollen und müssen, Matth. 5,44. Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch beleidigen, segnet, die euch verfolgen, so werdet ihr Kinder eures Vaters sein. Denn, wenn ihr Gutes tut denen, die euch Gutes tun, und liebet die, die euch lieben, was tut ihr mehr, als die Heiden? Denn das tun sie auch. Darinnen besteht der Vorzug und die Herrlichkeit der Christen: die Natur unter sich zwingen, herrschen über Fleisch und Blut, die Welt und alles Böse in der Welt mit Gutem und mit Tugend über-winden. Röm. 12,21. Das ist der Christen Adel. 2 Mos. 23,5. befiehlt Gott: Wenn du deines Feindes Ochsen oder Esel siehest irren, ober unter der Last liegen, hilf ihm auf, bringe ihn zurechte; welches St. Paulus 1 Kor. 9,9. anzieht und spricht: Sorget Gott für das Vieh? Tut er es nicht vielmehr uns? Darum er Röm. 12,20. spricht: Hungert deinen Feind, so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn etc. Ist demnach nicht genug, dass du dem Menschen nichts Leides tust, ja auch deinem Feinde nicht; du mußt ihm Gutes tun, oder du bist nicht ein Kind Gottes, denn du liebst deinen Nächsten nicht.

----------

14. 9) Wer sich nicht der christlichen Liebe befleißiget, der trennt sich von dem geistlichen Leibe Christi, der Kirche, und wird verlustig aller Wohltaten Christi, Ephes. 4,5. Ein Glaube, eine Taufe, ein Gott, ein Herr etc. Denn gleichwie die Glieder, so vom Haupt getrennt sein, nicht können des Hauptes Kraft und Leben empfinden, sondern sind tot; also alle, die nicht in der Liebe leben, trennen sich von dem einigen Haupte Christo, und können seines Lebens Bewegung und Fülle nicht teilhaftig werden. Darum spricht St. Johannes: Wer den Bruder nicht liebet, der bleibet im Tode; er ist lebendig tot, 1 Joh. 3,14.

----------

15. 10) Weil auch durch das Gebet alle guten Gaben und Gedeihen müssen von Gott erbeten werden, und ohne Gebet keine Hilfe, kein Trost und Errettung ge-schieht, auch kein Segen und Wohlfahrt zu uns kommen kann; und aber kein Gebet erhöret werden, und zu Gott kommen kann, wenn es nicht aus dem Glau-ben und aus der Liebe geschieht. Darum der Herr sagt: Wo ihrer zwei oder drei eins werden in meinem Namen, was sie bitten werden, will ich ihnen geben, und soll ihnen widerfahren von meinem Vater, Matth. 18,19.

----------

16. So sollen wir nun in der Liebe leben, denn da ist Friede und Einigkeit; wo aber Friede ist, da ist der Gott des Friedens, Röm. 15,33. und wo der Gott des Friedens ist, daselbst hat der Herr verheißen Segen und Leben immer und ewig-lich Ps. 133,3.

 

Gebet um christliche Freundlichkeit gegen den Nächsten.

(Siehe im Paradiesgärtlein.)

 

- Zum nächsten Kapitel -