DAS NEUNUNDZWANZIGSTE KAPITEL. (1.B./29.K.)
VON DER VERSÖHNUNG DES NÄCHSTEN,
OHNE WELCHE GOTT SEINE GNADE WIDERRUFT.
Inhalt.
1) Wer Menschen beleidigt, der beleidigt Gott. 2) Wer sich mit Gott versöhnen will, muß sich auch mit dem Nächsten versöhnen; 3) denn die Liebe Gottes und des Nächsten können nicht geschieden werden. 4) Die Liebe des Nächsten ist eine Probe der Liebe Gottes im Menschen. 5) Dies sind zwei Ziele unsers gan-zen Lebens. 6) Darum hat Gott in Christo seine Liebe sichtbar gemacht. 7) Wie in Christo Gott und Mensch, so sind Gottes und des Nächstenliebe verbunden; 8) wie alle Linien des Zirkels im Mittelpunkt zusammenlaufen. 9) Ein Bild und Exem-pel der Liebe des Nächsten in Hiob. 10) Darum hat Gott Anfangs nur einen Men-schen geschaffen. 11) Lieben ist viel leichter als Hassen. 12) Liebe und Ver-söhnung bringen Ruhe. 13) Eine jede Tugend ist ihr Selbstlohn. 14) Wie die Versöhnung geschehen soll. 15) Wiedererstattung gehört zur Buße, 16) sonst ist sie nicht rechtschaffen. 17) Denn man hat es hier mit Gott und dem Nächsten zu tun; wie man mit diesem handelt, so handelt man mit uns. 18) 19) Dies wird mit Schriftstellen bestätiget.
Wenn jemand eine Sünde wider einen Menschen tut, der versündiget sich am Herrn, 4 Mos. 5,6.
Dies sind denkwürdige Worte, denn sie binden zusammen Gott und den Men-schen, Gottes Liebe und des Menschen Liebe, Gottes Beleidigung und des Men-schen Beleidigung. Denn Moses spricht hier ausdrücklich: Wer eine Sünde wider einen Menschen tut, der habe sich an dem Herrn versündiget.
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2. Daraus folgt nun unwidersprechlich: Wer sich mit Gott versöhnen will, der muß sich auch mit seinem Nächsten versöhnen. Denn Gott wird beleidigt, wenn der Mensch beleidigt wird. Darum kann sich auch ein Mensch, der Gott und Men-schen beleidigt hat, mit Gott nicht wieder versöhnen, er habe sich denn mit sei-nem Nächsten versöhnt, wie solches auch Christus klar bezeuget, Matth. 5,23.
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3. Hier müssen wir nun notwendig abermal etwas sagen von der Liebe Gottes und des Nächsten, wie dieselbe an einander hangen, und nicht können geschie-den werden; daraus denn notwendig fließt die wahre brüderliche Liebe.
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4. 1 Joh. 4,20.21. Wer da sagt, er liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie sollte er Gott lieben, den er nicht siehet? Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebet, auch seinen Bruder liebe. Derowegen so kann nun Gottes Liebe ohne des Nächsten Liebe nicht sein. Ist Gottes Liebe recht und rein ohne Falsch bei einem Menschen, so ist auch des Nächsten Liebe rein und unverfälscht; und hinwieder, ist Gottes Liebe nicht rein bei einem Menschen, so hat derselbe Mensch auch nur eine falsche Liebe gegen seinen Nächsten. Also ist die Liebe des Nächsten eine Probe der Liebe Gottes, ob dieselbe bei einem rein sei oder nicht.
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5. Aus diesem Grunde kann man nun recht betrachten die Liebe des Nächsten, und desselben brüderliche Versöhnung. Zwei Ziele sind dem Menschen gesetzt, nach welchen er den Lauf seines ganzen Lebens richten soll: Gottes und des Nächsten Liebe, darinnen soll er sich befleißigen, dass er denselben immer näher und näher komme, und in Gottes und des Nächsten Liebe immer voll-kommener werde. Denn zu dem Ende sind alle Menschen geschaffen, erlöset und geheiliget. Ja Christus unser Herr ist das Ziel, darnach wir alle laufen sollen; je näher nun der Liebe, je näher dem Herrn Christo und seinem Leben.
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6. Darum ist Gott Mensch geworden, auf dass uns Gott vor Augen stellete ein liebliches sichtbares Conterfait und Bild seiner Liebe, wie Gott wesentlich die Liebe selbsten in seinem unerforschlichen, unbegreiflichen, unendlichen, gött-lichen Wesen sei, auf dass die Menschen diesem Ebenbilde Gottes, welches ist Christus, ähnlich und gleichförmig würden in der Liebe.
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7. Wie aber nun in Christo zusammen gefasset ist Gott und Mensch, durch ein unauflösliches Band; also fasset die Liebe Gottes in sich die Liebe des Nächsten. Und wie die göttliche und menschliche Natur in Christo nicht können getrennt werden, also auch Gottes und des Nächsten Liebe. Wie man die Menschheit Christi nicht kann beleidigen; man muß auch Gott beleidigen, also kann man ohne Gott keinen Menschen beleidigen; darum kann sich kein Mensch trennen mit seiner Liebe von seinem Nächsten, er muß sich auch von Gott trennen. Es kann niemand zürnen mit seinem Nächsten, er muß auch mit Gott zürnen; es kann niemand einen Menschen beleidigen, er muß auch Gott beleidigen.
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8. Nehmet ein natürliches Gleichnis: wenn einer einen Zirkel macht, und in der Mitte einen Punkt, und zieht den Zirkel voller Linien, so kommen sie alle in dem einigen Punkt zusammen, und rühren einander an, und das einige Pünktlein fasset alle Linien zusammen, und kann keine Linie geschieden werden von der andern, sie werden auch zugleich vom Mittelpunkt mit abgeschieden, in welchem alle Linien zusammen kommen; also ist Gott der Punkt, scheidet jemand die Linien seiner Liebe von seinem Nächsten, so scheidet er sich auch zugleich von Gott. Und weil alle Linien des Zirkels im Mittelpunkt einander anrühren, so rühret das Leiden und Trübsal des Menschen einander auch an, dass er Mitleiden mit ihm hat, ist er anders in Gott, als dem einigen Punkt, mit begriffen und zu-sammengefasset.
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9. Deß haben wir auch eine feine geistliche Bedeutung in der Geschichte Hiobs; da Hiob hörete, dass ihm sein Hab und Gut genommen war, sprach er: Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gebenedeiet, Hiob 1,21. und betrübte sich nicht so gar hart. Da er aber hörete, dass seine Kinder waren umgekommen, zerrisse er seine Kleider und fühlte sich viel un-glücklicher v. 20. Die Kinder bedeuten eines jeden Menschen seinen Nächsten; wenn er höret, dass es seinen Nächsten übel geht, soll es ihm mehr zu Herzen gehen, als wenn er sein eigenes Gut verlöre. Denn das ist der Liebe Art, dass sie sich um ihr eigenes Unglück nicht so sehr bekümmert, als über des Nächsten Schaden. Ach! wie ein seliges Leben wäre auf Erden, wenn wir Alle in der Liebe wandelten; da würde niemand den andern betrügen, vervorteilen und beleidigen.
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10. Darum hat Gott in der Schöpfung nicht mehr als einen Menschen geschaffen, und die Eva hernach aus demselben gebauet, von welcher einigen Wurzel her-nach so viele Menschen entsprossen sind, auf dass, weil alle Menschen von einer Wurzel entsprossen, sie sich auch desto mehr unter einander liebeten. Das ist die Ursache, warum Gott anfänglich nicht viele Menschen geschaffen, son-dern nur einen, da er doch viele Tiere, viele Kräuter, viele Bäume geschaffen; aber nur einen Menschen, auf dass sie, als Zweige eines Baums, sich desto mehr hernach lieben sollten.
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11. Die Liebe, so Gott befohlen hat, ist lieblich zu üben, und beschweret des Menschen Leib und Seele nicht, sondern macht dem Menschen ein fein ruhiges Leben, und ist unserer Natur bequem, und nicht zuwider. Wenn aber Gott be-fohlen hätte, dass du deinen Nächsten hassen solltest, so hätte er dir viel etwas Schwereres geboten, als dass du deinen Nächsten lieben sollst. Denn Haß und Feindschaft ist dem Herzen und der Seele eine große Last und Pein, verzehret Leib und Seele; aber die Liebe stärket, erfreuet, erhält Leib und Seele, zerstöret und zerbricht ihn nicht, wie Haß und Neid tut. Denen, die Gott lieben, ist es auch eine Lust, den Nächsten zu lieben; denen, die Gott nicht lieben, ist auch zuwider, dass sie den Nächsten lieben sollen.
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12. Kommt es dich nun schwer an, deiner verderbten Natur halber, den Nächsten zu lieben, so bedenke, dass es noch viel schwerer sein wird, in der Hölle zu brennen. Das ist ein unglückseliger Mensch, der lieber ewig will in der Hölle brennen, als seinen Nächsten allhie lieben, und sich mit ihm versöhnen. Ja, es fühlts ein Mensch auch an seiner Seele, dass, wie der Glaube Friede mit Gott bringt wie Paulus Röm. 5,1. spricht, also Liebe und Versöhnung, Friede mit den Menschen, ist eine große Linderung und Ruhe dem Herzen. Im Gegenteil Feind-schaft und Unversöhnlichkeit bringt der Seele Pein.
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13. Summa, eine jede Tugend belohnet den, der sie hat, und ein jedes Laster peiniget den, der es ausübt; eine jegliche Tugend ehret den, der sie hat; ein jeg-liches Laster schändet den, der es begeht.
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14. So zeiget auch die Schrift, auf was Weise die Versöhnung geschehen soll: 1) Soll der Schuldige seine Sünde bekennen, verstehe seinem Nächsten, den er beleidiget hat, und soll es ihm abbitten. 2) Soll er wiedergeben, das, um was er ihn betrogen hat, die ganze Hauptsumme und noch den fünften Teil darüber. 3) Ist niemand mehr da, dem er es bezahlen kann, so soll er es dem Herrn geben, 4 Mos. 5,7.8.
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15. Hie ist nun wohl zu merken, das Gott der Herr gebietet, man soll dasjenige, um was man den Nächsten betrogen hat, wieder erstatten; dies gehöret zur wahren Buße, und ist der wahren Buße Eigenschaft. Daher St. Augustinus spricht: Die Sünde wird nicht vergeben, wo nicht das gestohlene und ungerechte Gut wiedergegeben wird. Welches er bald darauf erkläret und spricht: Wenn man das fremde und gestohlene Gut, welches kann wieder gegeben werden, nicht wieder gibt, so wird die Buße nicht recht getan, sondern nur erdichtet.
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16. Die rechte wahre Buße, die einen Menschen zu Gott bekehret, setzet alles Zeitliche hintan, und achtet es wie Kot gegen die überschwengliche Gnade Gottes, dessen wir ein herrliches Exempel an Zachäo haben. Solche Leute findet man jetzt selten, die also Buße tun. Denn die wahre Bekehrung zu Gott reiniget das Herz und Gewissen durch den Glauben, mit Erstattung des unrechten Guts, auf dass das Herz vor Gott und Menschen rein sei. Denn es bleibt doch einer ein Dieb in seinem Herzen und Gewissen vor Gott, so lange er das Gestohlene behält, und nicht wieder gibt, ob er gleich nicht mehr stiehlt. Darum, soll die Buße recht und das Gewissen rein sein, so muß die Erstattung geschehen, wenn sie möglich ist; ist sie nicht möglich, so bitte Gott in herzlicher Reue und Leid um Erstattung, so erstattet es Gott an deiner Statt.
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17. Die Ursache aber, warum die Erstattung geschehen muß in der Buße, diesen Handel betreffend, ist, dass man hier mit zwei Personen zu tun hat, mit Gott und mit Menschen. Soll nun die Buße recht sein, so mußt du dich auch mit beiden versöhnen; denn Gott nimmt die Buße nicht an, wofern du dich nicht auch mit deinem Nächsten gründlich versöhnest. Es gilt derowegen nicht, wenn du gleich zu Gott sprächest: Lieber Gott, an diesem oder jenem habe ich unrecht getan, ihn betrogen, ihn vervorteilet, mit unbilligem Wucher beschweret, ich habe nicht also mit ihm gehandelt, wie ich wollte, dass er mit mir handeln sollte, darum habe ich Unrecht getan, vergib mirs um deines lieben Sohnes willen etc. So spricht Gott: Gib ihm wieder, um was du ihn betrogen hast, und komm dann, so will ich dir vergeben. Nicht, dass ein Mensch Gott dem Herrn die Vergebung damit abverdiente; nein, mit nichten: er ist dieses alles seinem Nächsten allbereits zuvor schuldig, und noch vielmehr dazu, wie sollte er denn etwas damit verdie-nen? Aber so hat es Gott beschlossen, wie du mit deinem Nächsten handelst, so wird Gott auch mit dir handeln, und dir mit dem Maße wieder messen, wo du nicht Buße tust, Luk. 6,38.
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18. Daher gehören die Sprüche: Matth, 5,24. Versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm, und opfere deine Gabe. Jes. 1,16. seq. Waschet, reiniget euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen; lasset ab vom Bösen, lernet Gutes tun, trachtet nach Recht. Helfet den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, und helfet der Witwen Sachen. So kommt denn, und lasset uns mit einander rechten, spricht der Herr. Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, soll sie doch wie Wolle werden, Jes. 58,7. Das ist ein Fasten, das ich erwähle: Laß los, welche du mit Unrecht gebunden hast, laß ledig, welche du beschwerest, gib frei, welche du drängest, reiß weg allerlei Last. Brich dem Hungrigen dein Brot, und die, so im Elend sein, führe ins Haus. So du einen Nackenden siehest, so kleide ihn, und entzeuch dich nicht von deinem Fleisch. Alsdann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Besserung wird schnell wachsen, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird dich zu sich nehmen.
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19. Da steht es ausdrücklich, dass Gott keine Buße und Gebet annehmen wolle, wenn man sich nicht zuvor mit seinem Nächsten versöhnet habe etc.
Gebet um die Versöhnung mit dem Nächsten.
Ich danke dir, du unsichtbarer Gott! dass du in deinem Sohn, den du hast lassen Mensch werden, mir ein lieblich sicheres Bild deiner Liebe vor Augen gestellt, und gezeigt, wie ich dich und den Nächsten in Liebe zusammenfassen müsse. Laß mich doch nimmer-mehr dies Band der Vollkommenheit zerreißen! Und wenn es etwa geschehen möchte, so erwecke in mir alsbald ein versöhnliches Herz, dass ich dem Frieden nachjage, und als ein Kind der Liebe und des Frie-dens, hie zeitlich und dort ewig von dir erfunden werde, Amen.