Leonhard Hutter (1563-1616):
Inbegriff der Glaubens-Artikel (Compendium locorum theologicorum)
Zehnter Artikel. Vom Gesetz Gottes.
1. Wie vielfach ist das Gesetz Gottes?
Dreifach: das Zeremonial-Gesetz, das gerichtliche Gesetz, und das Sittengesetz.
2. Was ist das Zeremoniell-Gesetz?
Es ist die äußerliche Ordnung von den Opfern, und des ganzen levitischen Gottesdienstes, durch welchen nicht allein das jüdische Volk von andern Völkern unterschieden, sondern auch (S. 65) Christus mit seinen Wohltaten vorgebildet, und durch den Glauben den Auserwählten und Gläubigen wahrhaft angeeignet wurde.
+ 3. Ist, und warum ist das Zeremonial-Gesetz jetzt abgetan?
Es ist jetzt abgetan, 1) weil Gott selbst wollte, dass es nur für eine gewisse Zeit und allein für das israelitische Volk heilig sein sollte, indem er öfter im zweiten und dritten Buch Mosis diese Worte wiederholt: dies sollt ihr halten in euern Geschlechtern. 2) Weil das Zeremonial-Gesetz nur das Vorbild und der Schatten war auf Christum, welcher mit der Zeit geboren werden sollte. Nachdem nun dieser in das Fleisch gekommen, mussten jene Schatten und Vorbilder aufhören. Hebr. 10,1. „Das Gesetz hat den Schatten von den zukünftigen Gütern, nicht das Wesen der Güter (des Leibes und Blutes Christi) selbst.“ 3) Weil Gott selbst einen neuen Bund verheißen hat, Jerem. 31,31: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen.“ „Indem er sagt: Ein neues; macht er das erste alt.“ Hebr. 8,13. Melanchth. in den Artik. und im Exam.
4. Was ist das gerichtliche Gesetz?
Es ist die bürgerliche Verfassung, welche die Art und Weise vorschreibt, nach welcher die öffentlichen Gerichte und die äußerliche Zucht unter dem israelitischen Volke gehalten werden sollte.
+ 5. Ist denn auch dieses Gesetz abgetan?
Ja; und zwar 1) weil es ebenfalls nur für eine gewisse Zeit, und einen bestimmten Staat, den jüdischen nämlich, angeordnet war. 2) Weil der jüdische Staat nur bis auf Christum währen sollte: so konnte deshalb auch dieses Gesetz nicht beständig sein. 1 Mos. 49,10: „Es wird das Zepter nicht von Juda entwendet werden, noch ein Meister von seinen Füßen, bis dass der Held, d. i. Christus, komme.“ 3) Weil das Evangelium alle bürgerliche Ordnungen, wenn sie nur dem göttlichen Willen und der Billigkeit gemäß sind, nicht aufhebt. Matth. 22,21: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gotte, was Gottes ist.“ Röm. 13,1: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott.“ (S. 66)
6. Was ist das Sittengesetz, oder die zehn Gebote?
Das Sittengesetz ist die von Gott gegebene Lehre, welche vorschreibt, wie wir beschaffen sein, was wir tun und unterlassen sollen: und einen vollkommenen Gehorsam gegen Gott verlangt, und verkündigt, dass Gott denen, welche den vollkommenen Gehorsam nicht leisten, zürne, und, sie mit dem ewigen Tode bestrafe. Melanchth. in den Artt.
+ 7. Ist denn das Gesetz nicht von Natur bekannt?
Warum also sagest du: es ist die von Gott geoffenbarte Lehre? Das göttliche Gesetz ist zwar in die Herzen der Menschen geschrieben, so dass die menschliche Vernunft auf natürliche Weise das Gesetz einiger Maaßen erkennt; allein es ist eine Decke über das menschliche Herz gelegt, wie Paulus spricht: Röm. 2,14. 2 Korinth. 3,13.14., das ist, es hat der falsche Wahn die Gemüter der Menschen eingenommen, als wenn äußerliche und bürgerlich-gesetzliche Werke dem Gesetze Gottes Genüge leisteten. Deshalb war eine neue Offenbarung nötig, welche durch die Bekanntmachung der zehn Gebote vermittelst des Dienstes Mosis in der Wüste geschehen ist. S. 2 Mos. 20,1 ff. S. Apolog. der Augsb. Conf. Art. 2. S. 126. Art. 3. S. 173. Conc. Form. Erkl. Art. 5. S. 981. Art. 6. S. 990.
+ 8. Was also verlangen die zehn Gebote?
„Nicht allein ein äußerlich ehrbar Leben oder gute Werke, welche die Vernunft einiger Maaßen zu tun vermag: sondern auch etwas Anderes, welches weit über alle Vernunft geht: nämlich, Gott wahrhaft zu fürchten, zu lieben, anzurufen.“ Apolog. Art. 2. S. 126. Conc. Form. Erkl. Art. 5. S. 981.
9. Welches ist der Nutzen des Sittengesetzes, und wie vielfach ist er?
Der Nutzen des göttlichen Gesetzes ist im Allgemeinen ein dreifacher. Erstens, sofern es angewendet wird auf die bürgerliche Ordnung, damit die äußerliche Zucht und Ehrbarkeit gegen wilde und ungezogene Menschen einiger Maaßen erhalten werde. Zweitens, sofern es zur Erziehung gebraucht wird, damit die Sünder zur Erkenntnis der Sünden gebracht werden. Drittens wird es zur Unterweisung gebraucht, damit die, welche durch den Geist Gottes wiedergeboren, und zu dem Herrn bekehrt sind, und denen schon die Decke Mosis genommen ist, daraus belehrt werden, wie (S. 67) sie in wahrer Gottesfurcht wandeln, und damit eine gewisse, sichere Regel haben, nach welcher sie ihr ganzes Leben einrichten können und sollen. S. Conc. Form. Erkl. Art. 6. S. 988.
* 10. Was bedürfen die Wiedergeborenen des Gesetzes, da sie frei sind, und so, wie die Sonne, ohne fremden Antrieb, freiwillig, durch den Trieb des heiligen Geistes tun, was Gott von ihnen fordert?
Obwohl die, welche gläubig und wahrhaft zu Gott bekehrt und gerechtfertigt, frei sind von dem Fluch des Gesetzes, und in dieser Rücksicht wahrhaft Freie sind, und genannt werden; so müssen sie sich dennoch täglich im Gesetze des Herrn üben, Ps. 1,2. Denn das Gesetz Gottes ist wie der klarste Spiegel, in welchem der Wille Gottes, und das, was ihm wohlgefällt, deutlich vor unsere Augen gelegt wird.
* 11. Aber „den Gerechten ist kein Gesetz gegeben.“ 1 Timoth. 1,9.
Zwar ist nicht für den Gerechten, sondern für den Ungerechten das Gesetz gegeben, wie der Apostel bezeugt; doch darf man dies nicht schlechthin so verstehen, als wenn den Gerechten ohne Gesetz zu leben erlaubt sei. Vielmehr ist dies der wahre und rechte Verstand der Worte Pauli: dass das Gesetz die, welche durch Christum mit Gott versöhnt sind, durch seinen Fluch nicht verderben; und dass es den Wiedergeborenen durch seinen Zwang nicht beschwerlich sein kann, sofern sie nach dem inwendigen Menschen am Gesetz Gottes Wohlgefallen haben, und freiwillig tun, was es verlangt. S. Conc. Form. Art. 6. S. 990.
* 12. Aber warum haben die Wiedergeborenen den Dienst des Gesetzes nötig?
Weil die Erneuerung und Heiligung ihres Gemütes in diesem Leben nur angefangen, nicht vollendet wird: so dass der alte Adam ihrer Natur und allen ihren inneren und äußeren Kräften beständig anhängt. S. Conc. Form. Erkl. Art. 6. S. 991.
* 13. Beweis' dies aus der heiligen Schrift?
Also spricht der göttliche Apostel von sich selbst, als Wiedergeborenen: „ich weiß, dass in mir, das ist, in meinem Fleisch, wohnet nichts Gutes. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstrei- (S. 68) tet dem Gesetz in meinem Gemüte, und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz.“ Röm. 7,18.19 und 23. Und Galat. 5,17: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, und den Geist wider das Fleisch. Dieselbige sind wider einander, dass ihr nicht tut, was ihr wollt.“ S. Conc. Form. ebend. S. 991. Deshalb bedürfen die Wiedergeborenen nicht nur der beständigen Erinnerung, Lehre und Drohung des Gesetzes, sondern auch seiner Züchtigungen, damit jener Alte aus ihnen herausgetrieben werde, und sie dem heil. Geiste gehorchen, wie geschrieben stehet: „Es ist mir gut, Herr, dass du mich gedemütigt hast, dass ich deine Rechte lerne.“ Ps. 119,71. Und „ich betäube meinen Leib und zähme ihn, dass ich nicht den Anderen predige, und selbst verwerflich werde.“ 1 Kor. 9,27. Und „seid ihr ohne Züchtigung, welcher sie alle sind teilhaftig geworden, so seid ihr Bastarde und nicht Kinder.“ Hebr. 12,8.
* 14. Ist auch noch eine andere Ursache, um welcher willen das Gesetz in der Kirche und bei den Wiedergeborenen muss getrieben werden?
Ja freilich; denn es kann leicht geschehen, dass auch die Wiedergeborenen, wegen des alten Adams, welcher annoch in allen ihren Kräften drinnen ist, unter dem Vorgeben einer besonderen Demut, einige religiöse Werke erdichten und Gottesverehrung erwählen, die im Worte Gottes nicht geboten sind: oder dass sie sich einbilden und überreden, dass ihr Leben und ihre Werke ganz rein und vollkommen seien. Deshalb hält das Gesetz nicht nur durch Erinnerungen und Drohungen, sondern auch durch Strafen und Plagen den alten Adam in Schranken, dass er dem Geist gehorche und sich ihm gefangen gebe. Ja, gleich wie in einem Spiegel, zeigt es, dass bei den Wiedergeborenen in diesem Leben Alles noch unvollkommen und unrein sei; so dass sie mit dem Apostel bekennen müssen: „ob ich mir wohl nichts bewusst bin, so bin ich darinnen doch nicht gerechtfertigt.“ 1 Korinth. 4,4. S. Conc. Form. Erkl. Art. 6. S. 995. Summ. Begr. Art. 6. S. 834.
* 15. Aber leistet denn das Evangelium dieses nicht bei den Wiedergeborenen?
Zwar tut das Evangelium in diesem Stück sehr viel, aber in ganz anderer Weise, als das Gesetz. Denn das Gesetz schärft zwar ein, es sei Gottes Wille und Befehl, dass wir in einem neuen Leben wandeln; allein Kräfte und Vermögen gibt es nicht, mit welchen wir den neuen Gehorsam anfangen und leisten könnten. Aber der heilige Geist, welcher nicht durch die Predigt des Gesetzes, (S. 69) sondern durch die des Evangeliums gegeben und empfangen wird, der erneuert das Herz des Menschen. S. Conc. Form. Erkl. Art. 6. S. 992.
* 16. Tut dies der heilige Geist mittelbar oder unmittelbar?
Mittelbar; „denn er brauchet das Gesetz darzu, dass er aus demselben die Wiedergeborenen lehret, und in den zehn Geboten ihnen zeiget und weiset, welches da sei der wohlgefällige Wille Gottes (Röm. 12,2); in welchen guten Werken sie wandeln sollen, die Gott zuvor bereitet hat (Eph. 2,10).“ Ebend.
+ 17. Also sind die Werke des Gesetzes und die Werke des Geistes verschieden?
Gar sehr! dieser Unterschied aber rührt her aus der Verschiedenheit der Menschen, welche nach dem Gesetz und dem, Willen Gottes zu leben sich bemühen; von denen einige unwiedergeboren, andere wiedergeboren sind.
* 18. Wie verhalten sich zu dem Gesetze Gottes die Werke der Unwiedergeborenen?
Der unwiedergeborene Mensch, welcher einiger Maaßen nach dem Gesetz Gottes lebt, und des Gesetzes Werke deshalb tut, weil sie auf diese Weise befohlen sind, und welcher solchen Gehorsam entweder aus Furcht vor der Strafe, oder Hoffnung einiger Belohnung leistet; dieser ist noch unter dem Gesetz, als ein Sklave, und seine Werke sind es eigentlich, welche der heil. Paulus Gesetzes-Werke nennt.
* 19. Wie verhalten sich der Wiedergeborenen Werke zu dem Gesetz Gottes?
Wenn der Mensch durch den heiligen Geist wiedergeboren, und von dem Gesetz, das ist von dem Zwang des Gesetzes, befreit ist, und schon im Geiste Gottes handelt: dann lebt er nach dem unwandelbaren Willen Gottes, der im Gesetz geoffenbart ist, und tut, sofern er wiedergeboren ist, Alles mit freiem und willigem Geist. Und solche Werke dürfen eigentlich nicht Gesetzes-Werke genannt werden, sondern Werke und Früchte des Geistes. Denn diese Menschen sind ferner nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Röm. 6,14. S. Conc. Form. Erklär. Art. 6. S. 994. (S. 70)
+ 20. Kann denn das Sittengesetz von den Wiedergeborenen beobachtet oder erfüllet, und also der Mensch gerechtfertigt werden?
Er kann es nicht; was ja aus dem schon Gesagten aufs klarste hervorgeht. Denn auch die guten Werke der Wiedergeborenen sind in diesem Leben, wegen der im Fleische klebenden Sünde, unvollkommen und unrein. Und ob sie gleich nach dem inwendigen Menschen tun, was Gott wohlgefällt, so müssen sie doch beständig und unablässig mit dem alten Adam kämpfen, welcher, wie ein wilder und hartnäckiger Esel, immerzu gegen den Geist gelüstet: und deshalb nicht nur durch die Lehre, Ermahnungen und Drohungen des Gesetzes, sondern auch durch seine Plagen und Strafen muss gezähmt werden, so dass viel daran fehlet, dass er könne das Gesetz halten oder erfüllen. S. Conc. Form. a.a.O. S. 996. 21. Auf wie viel Weise hat Christus das Sittengesetz erfüllt? Auf viererlei Weise vorzüglich: 1) indem er den rechten Verstand des Gesetzes dargelegt, Matth. 5. 2) indem er ihm vollkommenen Gehorsam geleistet, Röm. 5,19: „Gleichwie durch Eines Menschen Ungehorsam viele Sünder geworden sind; also auch durch Eines Gehorsam werden viele Gerechte.“ 3) Indem er den Fluch des Gesetzes auf sich genommen; Gal. 3,13: „Christus hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns.“ 4) Indem er uns seine Gerechtigkeit und seinen dem Gesetze geleisteten Gehorsam schenkt. 2 Kor. 5,21: „Gott hat Christum, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit.“