Leonhard Hutter (1563-1616):

Inbegriff der Glaubens-Artikel (Compendium locorum theologicorum)


Elfter Artikel. Von dem Evangelium.

 

1. Was ist das Evangelium?

 

Das Evangelium ist die von Gott geoffenbarte Lehre, welche voll ist von Trost wegen der Barmherzigkeit Gottes, und der Vergebung der Sünden aus Gnaden durch und wegen des Verdienstes Christi, sobald es der Glaube ergreift. (S. 71) Concord. Form. Summ. Begr. Art. 5. S. 830. „Das Evangelium aber sei eigentlich eine solche Lehre, die da lehret, was der Mensch glauben soll, der das Gesetz nicht gehalten, und durch dasselbige verdammt, nämlich, dass Christus alle Sünde gebüßt und bezahlet, und ihm ohne allen seinen Verdienst erlanget, und erworben habe Vergebung der Sünden, Gerechtigkeit, die für Gott gilt, und das ewige Leben.“ S. 831: „Wenn aber das Gesetz und Evangelium, wie auch Moses selbst ein Gesetz-Lehrer, Christus als ein Prediger des Evangeliums, gegen einander gehalten: glauben, lehren und bekennen wir, dass das Evangelium nicht eine Buß- oder Straf-Predigt, sondern eigentlich anders nichts, denn eine Trost-Predigt und fröhliche Botschaft sei, die nicht strafet noch schrecket, sondern wider das Schrecken des Gesetzes die Gewissen tröstet, allein auf den Verdienst Christi weiset, und mit der lieblichen Predigt, von der Gnade und Huld Gottes, durch Christus Verdienst erlanget, wieder aufrichtet.“ Erklär. Art. 5. S. 984. „Das Evangelium aber ist eine Lehre (nachdem der Mensch das Gesetz Gottes nicht gehalten, sondern dasselbe übertreten, darwider seine verderbte Natur, Gedanken, Worte und Werke streiten, und der Ursachen dem Zorn Gottes, dem Tod, allen zeitlichen Plagen, und der Strafe des höllischen Feuers unterworfen), die da lehret, was der Mensch glauben solle, dass er bei Gott die Vergebung der Sünden erlange, nämlich, dass der Sohn Gottes, unser Herr Christus, den Fluch des Gesetzes auf sich genommen, und getragen, alle unsere Sünde gebüßt und bezahlet, durch welchen allein wir bei Gott wieder zu Gnaden kommen, Vergebung der Sünden durch den Glauben erlangen, aus dem Tod und allen Strafen der Sünden erlediget, und ewig selig werden. Denn Alles, was tröstet, die Huld und Gnade Gottes den Übertretern des Gesetzes anbietet, ist und heißet eigentlich das Evangelium, eine gute und fröhliche Botschaft, dass Gott die Sünde nicht strafen, sondern um Christus willen vergeben wolle.“

 

+ 2. Da mehrere Unterscheidungspunkte zwischen dem Gesetz und dem Evangelium sind, bitte ich, dass du sie der Reihe nach nennst?

 

Erstens unterscheiden sie sich durch die Erkenntnis (die Art und Weise, wie sie bekannt werden). Denn das Gesetz ist von Natur bekannt, sofern nämlich einige Erkenntnis desselben von Gott dem menschlichen Verstande eingepflanzt und eingegraben ist, Röm. 2,14 und 15: „Denn so die Heiden, die das (S. 72) Gesetz nicht haben, und doch von Natur tun des Gesetzes Werk, dieselbigen, weil sie das Gesetz nicht haben, sind sie ihnen selbst ein Gesetz; damit, dass sie beweisen, des Gesetzes Werk sei beschrieben in ihren Herzen, sintemal ihr Gewissen sie bezeuget, dazu auch die Gedanken, die sich unter einander verklagen oder entschuldigen.“ Das Evangelium aber ist ein Geheimnis, das von der Welt her verborgen gewesen ist. Röm. 16,25.

 

+ 3. Welches ist der andere Unterschied zwischen dem Gesetz und dem Evangelium?

 

Zweitens unterscheiden sie sich durch den Inhalt: denn das Gesetz hat es mit Geboten zu tun, und lehret, wie wir sein, was wir tun, und was wir unterlassen sollen, 5 Mos. 6,5. Das Evangelium aber geht mit lauter Verheißungen der Gnade um. Joh. 3,16.

 

+ 4. Gib doch den dritten Unterschied zwischen dem Gesetz und dem Evangelium an?

 

Drittens unterscheiden sie sich durch die Form der Verheißungen. Denn die Verheißungen des Gesetzes vergelten nach Verdienst, wo zwischen Arbeit und Lohn ein gerechtes Verhältnis ist. Aber die Verheißungen des Evangeliums sind eitel Gnade, so dass auf unsere Werke nicht im geringsten Rücksicht genommen wird. Röm. 4,4.5. Melanchth. in den Artt.

 

+ 5. Nenne den vierten Unterschied?

 

Viertens unterscheiden sie sich durch den Gegenstand. Denn das Gesetz bezieht sich auf sichere, freche, epikurische, heuchlerische Menschen, wie auch auf den alten Adam, sofern er noch in den Wiedergeborenen die Herrschaft erstrebt, 1 Timoth. 1,9. Gal. 5,17. Das Evangelium aber bezieht sich auf solche, die zerknirscht und durch das Gefühl und die Furcht des göttlichen Zorns niedergedrückt sind, oder auf die Armen am Geist. Jes. 61,1. Luc. 4,18.

 

+ 6. Nenne den fünften Unterschied?

 

Fünftens unterscheiden sie sich durch die Wirkungen: denn das Gesetz klagt an, schrecket, wirket Zorn und Verdammnis, Röm. 4,15. „Das Evangelium aber ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben.“ Röm. 1,16.

 

+ 7. Über welchen Unterschied vorzüglich wird heut' zu Tage gestritten?

 

Über diesen letzten Unterschied, oder, was dasselbe ist, über die Erklärung des eigentlich so genannten Evangeliums, erhoben in (S. 73) früheren Jahren die Antinomer Streit, indem sie behaupteten, dass das Evangelium eigentlich sei nicht nur die Lehre von der Gnade Gottes, sondern, dass es auch zugleich sei die Predigt von der Buße, welche die Sünde des Unglaubens strafe. S. Conc. Form. Summ. Begr. Art. 5. S. 829.830. Erkl. Art. 5. S. 978.

 

+ 8. Auf diese Weise scheinest du die Apologie der Augsb. Confession eines Irrtums zu beschuldigen, welche im 12. Art. deutlich behauptet, dass die Summe der Predigt des Evangeliums sei, Sünde zu strafen und Vergebung der Sünde anzubieten?

 

Nicht allein die Apologie der Augsb. Confess., sondern auch selbst der sel. Luther und andere rechtgläubige Theologen haben also geschrieben und gelehrt, aber in einem ganz andern und verschiedenen Sinn, als nachher die Antinomer diese Redensarten gebrauchten. Denn die Apologie und andere brauchen das Wort „Evangelium“ im Allgemeinen für die ganze christliche Lehre; nicht aber im besonderen Sinne, wie es die Antinomer fassten. Conc. Form. Erkl. S. 977.

 

* 9. Ich sehe, dass die Entscheidung dieses Streites aus der Doppelsinnigkeit der Worte zu nehmen ist: bitte, du wollest sie deshalb erklären?

 

Es begegnet uns eine zwiefache Doppelsinnigkeit: die eine ist die des Wortes „Evangelium;“ die andere die des Wortes „Buße.“ Das Wort Evangelium nämlich wird sowohl in der heil. Schrift, als auch in den Schriften der Alten und Neuern auf zweierlei Weise gebraucht und gefasst: denn erstens bezeichnet es die ganze Lehre Christi, welche er während seines Amtes auf dieser Erde vorgelegt, und im Neuen Bunde vorzutragen befohlen hat, und welche des Gesetzes Erklärung und die Verkündigung der Gnade Gottes umfasst. S. Conc. Form. Summ. Begr. Art. 5. S. 830. Erkl. Art. 5. S. 978. So wird es Marc. 1,1 genommen: „Dies ist der Anfang des Evangelii von Jesu Christo, dem Sohne Gottes.“ V.4 „Johannes war in der Wüste, taufte und predigte von der Taufe der Buße, zur Vergebung der Sünden.“ Marc. 16,15: „Prediget das Evangelium aller Kreatur.“ Zweitens aber wird das Wort Evangelium in einer andern, und zwar seiner eigentlichsten Bedeutung gebraucht, sofern es dem Gesetze gerade entgegengesetzt wird: und bezeichnet die frohe Botschaft von der gnädigen Vergebung der Sünden um Christi willen. Und in dieser Rücksicht unterscheidet Christus selbst diese (S. 74) zwei Lehrgattungen von einander, wenn er Marci 1,15 spricht: „Tut Buße und glaubet an das Evangelium.“

 

* 10. Gib nun die Beziehung dieses Unterschiedes auf den vorliegenden Streit an?

 

Wenn das Wort „Evangelium“ im weiteren Sinne, und ohne den Unterschied des Gesetzes und Evangeliums, von der ganzen Lehre Christi genommen und gebraucht wird, so ist die Erklärung des Evangeliums, dass es sei die Predigt von der Buße und Vergebung der Sünden, wahr; wenn aber Gesetz und Evangelium, so wie Moses selbst, als Lehrer des Gesetzes, und Christus, als Lehrer des Evangeliums, unter sich verglichen werden, und so das Evangelium in seiner besonderen Bedeutung gebraucht wird: dann ist das Evangelium nicht die Predigt von der Buße, welche die Sünden straft, sondern ist eigentlich nichts Anderes, als die fröhlichste Botschaft und Predigt voll Trostes, welche nicht strafet oder schrecket, sondern die Gewissen gegen die Schrecken des Gesetzes tröstet, sie zu dem alleinigen Verdienst Christi aufblicken lässt, und mit der süßesten Verkündigung der Gnade und Huld Gottes, welche durch das Verdienst Christi erlangt ist, sie wiederum aufrichtet. Melanchth. in den Artt.

 

* 11. Auf wie vielerlei Weise wird das Wort „Buße“ in der heiligen Schrift gebraucht?

 

Das Wort „Buße“ hat in der heil. Schrift nicht immer eine und dieselbe Bedeutung. Denn an einigen Stellen der Schrift wird es für die ganze Bekehrung des Menschen zu Gott genommen, als, wenn Christus sagt Luc. 13,3: „So ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch also umkommen.“ Luc. 15,7. „Es wird Freude im Himmel sein über Einen Sünder, der Buße tut.“ Matth. 3,2. „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe.“ Luc. 3,8. „Tut rechtschaffene Früchte der Buße.“ 2 Petr. 3,9. „Gott will nicht, dass Jemand verloren werde, sondern dass sich jedermann zur Buße kehre.“ Dann aber wird es in andern Stellen der Schrift nur teilweise genommen, und bezeichnet nur einen Teil der Bekehrung, nämlich wahre Reue und Leid, oder die ernstliche Erkenntnis der Sünden. Conc. Form. Erkl. Art. 5. S. 980.

 

*12. Wie kann ich wissen, wo das Wort „Buße“ allgemein, oder teilweise genommen wird?

 

Teilweise wird es dann genommen, wenn Buße und Glaube, oder Buße und Vergebung der Sünden verbunden stehen, wo (S. 75) „Buße tun“ nichts Anderes bezeichnet, als die Sünden wahrhaft erkennen, ernstlich Leid tragen, und künftighin von den Sünden abstehen, Marc. 1,15: „Tut Buße und glaubet an das Evangelium.“ Luc. 24,47: „Er muss predigen lassen – Buße und Vergebung der Sünden.“ Apost. Gesch. 20,21: „Ich habe bezeuget die Buße zu Gott und den Glauben an unsern Herrn Jesum Christum.“

 

* 13. Gib die Beziehung auch dieser Unterscheidung auf den gegenwärtigen Streit an?

 

Wenn das Wort „Buße“ im ersteren Sinne genommen wird, so bezieht es sich auf die Lehre des Gesetzes und Evangeliums zugleich: aber in verschiedener Rücksicht. Im letzteren Sinne aber bezieht es sich allein auf das Gesetz: durch welches allein Erkenntnis der Sünden kommt. Röm. 3,20. Conc. Form. a. a. O.

 

* 14. Kann denn auch das Gesetz den Unglauben strafen, von welchem es doch nichts weiß?

 

Ja freilich; denn das Gesetz straft den Unglauben, sofern es jeden Zweifel oder Misstrauen an irgend einem Worte Gottes, also auch am Wort des Evangeliums straft, anklagt und verdammt. Conc. Form. Erkl. Art. 5. S. 984.

 

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