Martin Kähler (1835-1912):
Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus.
(1. Der sogenannte historische Jesus ist für die Wissenschaft nach dem Maßstabe moderner Biographie ein unlösbares Problem; denn die vorhandenen Quellen reichen nicht aus und die ersetzende Kunst ist diesem Probleme nicht gewachsen.)
Ich beginne mit der Frage: was heißt „historischer Jesus“? Diese Bezeichnung hat eine Geschichte nicht minder als die philosophischen Termini; und die Jungen ahnen großenteils gar nicht mehr, was er in den früheren Schriften bedeutet. Zu allererst hat er den biblischen Christus dem dogmatischen entgegenstellen wollen, nämlich den lebensvollen, anschaulichen Menschensohn in seinem Thun, Reden und Erleben jener Zeichnung in Begriffen, welche in dünnen Umrissen die dem Denken so schwer vereinbaren Grundlagen dieses einzigen Lebens aufzeigen sollte. Später schob sich an die Stelle der orthodoxen Dogmatik die allwissende Spekulation Hegels und bot für den dogmatischen Christus den idealen dar. Noch lange nachher hat Dorner den geschichtlichen Christus gegen Herm. Schultz verteidigt, weil dieser es jeder Zeit anheimgeben wollte, sich ihr Christus-Ideal selbst zurechtzumachen, das heißt: sich selbst und ihren Inhalt in dem entworfenen Christusbilde zu idealisieren (Anm. 2). Der Anstoß trieb weiter; vielleicht ohne es recht zu wissen, geriet man zurück auf die Bahnen eines Semler (S. 5) und seiner Genossen. Geschichte und Dogmatik schien sich in die Bibel zurück verfolgen zu lassen. Die Apostel haben schon an Christum geglaubt, als sie von ihm schrieben; ihr Zeugnis ist mithin bereits Dogmatik. So muß man von ihrer Predigt auf die Berichte zurückgehen, um den geschichtlichen Jesus zu finden. Und da der vierte Evangelist ihn als das ewige Wort bekennt, so wird man eigentliche Berichte nur bei den sogenannten Synoptikern zu suchen haben. Allein, alsbald fand sich die Einsicht, daß auch hier schriftstellerische Absicht, fromm umgestaltende Sage, unwillkürliche Entstellung gewirkt habe, und nun blieb nichts andres übrig, man mußte auf die Suche nach dem historischen Jesus ausziehen, der hinter den urchristlichen Berichten, ja hinter dem Ur-Evangelium steht, undeutlich durchscheinend. Das ist nun eifrig gethan; manchem aber will es scheinen: obwohl man mit Spießen und Stangen ausgezogen ist, „er ging hinaus, mitten durch sie hinstreichend“. Wenn er aber unter sie tritt mit seinem „ich bin’s“, wer wird nicht erschüttert zusammenbrechen?! Meine Aufgabe ist nun die doppelte, an diesem Verfahren in seiner Ausartung ablehnende Kritik zu üben und den Ersatz nachzuweisen; das letzte ist das wichtigere. Ich sehe diese ganze „Leben-Jesu-Bewegung“ (Anm. 3) für einen Holzweg an. Ein Holzweg pflegt seine Reize zu haben, sonst verfolgt man ihn nicht; er ist auch gewöhnlich zunächst ein Stück des richtigen Weges, sonst gerät man gar nicht auf ihn. Mit andern Worten: wir können diese Bewegung nicht ablehnen, ohne sie in ihrer Berechtigung zu verstehen. Sie ist durchaus im Rechte, sofern sie Bibel wider abstrakten Dogmatismus setzt; sie verliert ihr gutes Recht, sobald sie beginnt, an der Bibel herum zu schneiden und zu reißen, ohne sich über die besondere Sachlage an diesem Punkte und über die eigentümliche Bedeutung der Schrift für diese Erkenntnis völlig klar geworden zu sein. Denn es handelt sich hier garnicht einfach um ein geschichtliches Problem, wie in andern Fällen. Ihr Recht läßt sich in Luthers Wort hineinfassen, daß man Gottes Sohn gar nicht (S. 6) tief genug in unser Fleisch, in die Menschheit hineinziehen könne (Anm. 4). Unter dem Gesichtspunkte steht seit Johannes 1 und 1. Johannes 1,1f. alle echt evangelische Bewegung in dem Sinnen über unsern Heiland. Aber dies Wort hat ja nur dann einen Sinn, wenn dieser Christus mehr ist als ein Mensch. Es hat gar keinen Sinn für alle diejenigen, welche behaupten und nachweisen wollen, uns liege an ihm nicht mehr, als an irgend einem andern wirksamen Menschen der Vergangenheit. Das war Luthers Meinung nicht, und kann unsre Meinung nicht sein, solange wir mit dem Apostel urteilen „wenn du mit dem Munde Jesum bekennst, daß er der Herr sei, wirst du errettet“ (Röm 10,10). Glaubt man nun mit der Dogmatik an den Christum, der mehr ist als bloßer Mensch, mehr seinem Wesen nach, mehr seiner gegenwärtigen Stellung nach, also an den übergeschichtlichen Heiland, – dann bekommt der geschichtliche Jesus jenen unvergleichlichen Wert, so daß wir vor seinem Bilde bekennen: „meine Seele soll sich daran nähren, meine Ohren nie was Liebers hören“. Jeder Zug, den man von ihm erfahren kann, wird uns teuer und bedeutsam. Die Überlieferung von ihm kann gar nicht emsig und treu genug ausgeschöpft werden. Nun, versenkt man sich in sein Thun und Lassen; man sucht es zu verstehen; man verfolgt es in seine Voraussetzungen; man versenkt sich in sein Bewußtsein; in sein Werden, ehe er hervortrat – man geleitet den jugendlichen Jesus durch die Klüfte und Felder, an der Mutter Schoß, in des Vaters Werkstatt und in die Synagoge – und man ist eben auf dem Holzwege. Denn die erste Tugend echter Geschichtsforschung ist die Bescheidenheit; Bescheidenheit kommt von Bescheid wissen; und wer Bescheid weiß mit geschichtlichen Thatsachen und Quellen, der lernt Bescheidenheit sowohl im Wissen als im Verstehen. Aber diese Bescheidenheit ist bei vielen nicht beliebt, weil die Phantasie, welcher das Feld der Spekulation verleidet ist, sich jetzt auf ein andres Feld geworfen hat, auf die grüne Weide angeblicher Wirklichkeit, auf das Geschäft der vermutenden Geschichtsschreibung oder der sogenannten positiven Kritik. Und auf diesem Felde wildert und (S. 7) bildert man mit derselben Neubegier und Selbstzuversicht umher, wie es ehedem irgend die philosophische oder theosophische Spekulation gethan hat, mit Rothe der guten Zuversicht, das fromme Denken könne Gott sezieren wie der Anatom einen Frosch. Und was dieses Treiben angeht, so vermag ich vielmals keinen Unterschied zu erkennen zwischen den Positiven und den Negativen, wie man sie zu nennen pflegt. Zur Begründung dieses ablehnenden Urteiles sind nun einige wissenschaftliche Eingeständnisse abzulegen, die auf den ersten Blick stutzig machen mögen. Wir besitzen keine Quellen für ein Leben Jesu, welche ein Geschichtsforscher als zuverlässige und ausreichende gelten lassen kann. Ich betone: für eine Biographie Jesu von Nazareth nach dem Maßstabe heutiger geschichtlicher Wissenschaft. Ein glaubwürdiges Bild des Heilandes für Gläubige ist ein sehr andres Ding, und davon ist nachher die Rede. Unsre Quellen, das heißt die sogenannten Evangelien stehen erstens so vereinsamt da, daß man ohne sie garnichts von Jesu wissen würde, obwohl seine Zeit und der Schauplatz seines Lebens sonst durchaus geschichtlich deutlich sind; er könnte für ein Phantasiebild der Gemeinde um das Jahr 100 gelten. Diese Quellen sind ferner nicht mit Sicherheit auf Augenzeugen zurückzuführen. Sie berichten überdem nur von dem kürzesten letzten Abschnitt seines Lebens. Und endlich verlaufen diese Berichte in zwei Grundformen, deren Verschiedenheit bei der Nähe ihrer angeblichen oder vermutlichen Entstehungszeit ein großes Mißtrauen gegen die Treue der Erinnerung erwecken muß (Anm. 5). Demzufolge sieht sich der „vorurteilsfreie“ Kritiker (S. 8) vor einem großen Trümmerfelde von einzelnen Überlieferungen. Er ist berufen aus den einzelnen Stücken ein neues Gebilde hervorzuzaubern, wenn er die Aufgabe angreift, von dieser aus dem Nebel aufragenden Gestalt eine Biographie nach modernen Forderungen zu entwerfen. Schon allein die Feststellung des äußeren Verlaufes bietet nicht geringe Schwierigkeiten und führt vielfach nicht über Wahrscheinlichkeiten hinaus (Anm. 6). Aber der Biograph stellt sich andre Aufgaben. Nicht jeder versagt sich die Verhandlung (S. 9) solcher Fragen, welche die Neugier kitzeln, während ihre Beantwortung doch ohne Wert für die Hauptsache bleibt; als solche erscheinen die Erörterungen über Jesu Schönheit oder Häßlichkeit; über sein früheres Familien- und Arbeitsleben; mir fällt auch die Untersuchung über sein Temperament oder seine Individualität unter diesen Gesichtspunkt; es wäre noch andres zu nennen. Indes, der Schriftsteller mag auf solche mißliche Untersuchungen verzichten; die neuere Biographie sucht ihre Stärke in der psychologischen Analyse, in dem Aufweise der Fülle und Kette von Ursachen, aus welchen die Erscheinung und Leistung des geschilderten Menschen entsprungen ist; so fordert denn die echte Menschheit dieses Jesus jedenfalls, daß man sein Werden verstehe, die langsame Entwickelung seiner religiösen Genialität, das Durchbrechen seiner sittlichen Selbständigkeit, das Aufdämmern und Aufleuchten seines messianischen Bewußtseins. Die Quellen aber enthalten von dem allem nichts, auch garnichts. Als Bericht kann höchstens die kleine Erzählung von dem zwölfjährigen Jesus gelten; nur Willkür ist es nun, sie von der Kindheitsgeschichte des 3. Evangelium zu trennen; und welches Stück dieses Schrifttumes würde sonst wohl mit mehr Verdacht behandelt als eben sie?! (Anm. 7). Des weiteren ist man auf Rückschlüsse verwiesen. Um sie zwingend zu machen, dazu ist ein sehr vorsichtiger Ansatz, ein durchaus sicherer Unterbau und eine sorgliche Abmessung der (S. 10) Tragweite des Gewonnenen erforderlich; mit diesem zuverlässigen Verfahren kommt man denn auch kaum zu sehr ausgiebigen Erwerbungen. Weshalb das bei den evangelischen Stoffen in besonders hohem Grade der Fall ist, davon wird die Kritik der vorhandenen Mittel alsbald überführen. Die neutestamentlichen Darstellungen verlaufen nicht unter dem Gesichtspunkte, das Werden Jesu zu veranschaulichen; sie lassen ihn sich bekunden und bethätigen, aber nicht Bekenntnisse, vollends keine unwillkürlichen, machen, vielleicht einige wenige Stoßseufzer ausgenommen (etwa Mark. 9,19; Joh. 12,27; Mark. 14,36. 15,34); das leugnet schwerlich ein unvoreingenommener Leser oder Forscher. Deshalb veranlassen sie auch durchaus nicht zu einem Rückschluß auf die Art und Bestimmtheit des früheren Werdens. Es ist freilich unverkennbar, daß die alttestamentliche Schrift und die Denkweise seines Volkes den Anschauungsstoff Jesu bestimmt haben; mit solchen naheliegenden Beobachtungen ist jedoch kaum etwas gewonnen. Im übrigen muß man bei dem Schweigen der Quellen und in dem Gegensatze zu dem ganzen Zuge ihrer Schilderung die Analogie mit sonstigem menschlichem Geschehen als Forschungsmittel verwenden. Voran steht hier der Versuch, im Anschluß an die Seelenkunde zu zerlegen oder zu ergänzen; ist ein solcher Versuch auf diesem Gebiete berechtigt? Wir lassen die Seelenkunde nur gelten, soweit sie nachweislich auf Erfahrung beruht. Ihr mag eine gewisse Sicherheit eignen, wo sie die Formen unsrer inneren Bewegungen behandelt; und die sind bei Jesu sonder Zweifel dieselben gewesen, wie bei einem jeden von uns. Allein das ist hier völlig gleichgiltig. Bei den fraglichen Untersuchungen handelt es sich stets um den Inhalt welchen Jesus erwarb, besaß und mitteilte; um die Wurzeln, das Wachstum und die Verzweigungen seines sittlichen und seines religiösen Bewußtseins, wie man zu sagen pflegt. Mit solchem Inhalte der Seelen beschäftigt sich die heutige wissenschaftliche Seelenkunde nicht; vielmehr andre Wissenschaften, und neben ihnen pflegt das der Dichter zu beobachten und darzustellen. Woher nimmt er seine Kunde? Es ist bekannt, daß Goethe zumeist sich selbst und seine Erlebnisse abgeschrieben hat. Er ist so groß, weil er beobachtend „hineingriff ins volle Menschen- (S. 11) leben“. Und so sind auch sonst die feinsinnigen Beobachter eindruckvolle Maler. Jeremias Gotthelf ist im Bernerbiet gescheut gewesen wie die Wildermuth in Schwaben; man fürchtete sich, alsbald das Abbild des besuchten Hauses gedruckt zu lesen. Das Analogisieren wird also hier auch an der bunten Wirklichkeit seinen Stoff suchen müssen. Und darum noch einmal die Frage: ist dies Verfahren hier berechtigt? Wer den Eindruck hat, hier dem einzigen Sündlosen, dem einzigen Adamssohn mit vollkräftigem Gottesbewußtsein gegenüberzustehen, wird der bei eingehender Überlegung jenen Versuch noch wagen?! Man meine nicht, man komme hier mit dem Storchschnabel aus, man habe nur die Maße zu steigern. Der Unterschied liegt nicht auf der Linie des Grades, sondern auf der Linie der Art. Sündlosigkeit ist auch nicht nur etwas Verneinendes. Man kommt nicht damit aus, aus unsrer Art die Flecken zu tilgen, sonst behält man eine leere Tafel. Im Tiefsten andersartig, so andersartig, daß ihm gleichartig zu werden nur durch eine neue Geburt, durch eine neue Schöpfung möglich ist, – wie kann man seine Entwickelung, ihre Stufen und Wendungen nach dem gemeinen Menschengange vorstellen und auseinanderlegen wollen! Ja, gräbt man tiefer, dann begegnet man dem Anstande: wie hat er sündlos sein können inmitten einer Welt, inmitten einer Familie und eines Volkes, die voll der Ärgernisse waren? Wie hat das Kind sich rein und sicher entwickeln können, während es in seiner Unmündigkeit, Unselbständigkeit und Unreife rings von Verführung umgeben war und alle etwa redlich gemeinte Erziehung zum besten Teile nur Verziehung sein konnte? Das ist ein Wunder, und das erklärt sich nicht aus bloßer unverdorbener Anlage; das ist nur faßbar, weil dieser Säugling mit einem andern, ihm vorausgegebenen Inhalte in dies irdische Dasein getreten ist als wir alle; weil in allen Formen und Stufen seines Seelenlebens ein unbedingt selbständiges Wollen sich auswirkte, – weil Gottes Gnade und Wahrhaftigkeit in ihm Fleisch geworden sind. Der Thatsache gegenüber wird man weise thun, auf analogisierende Seelenmalerei zu verzichten. So erübrigte denn die historische Analogie. Man geht auf die Verhältnisse, auf die Anschauungen seiner Umgebung zurück, (S. 12) auf die Zeitgeschichte und das uns erhaltene jüdische Schrifttum. Vielleicht gewinnen wir durch einen Rückblick die rechte Beleuchtung für diesen Versuch. Semler hat längst vor Baur das „Judenzen“ der altchristlichen Schriftsteller entdeckt; in seiner Schule jedoch nahm man Jesum von dieser Befangenheit in dem Judentume aus; war das nur Vorurteil? oder war es das Ergebnis einer Beobachtung, eines zutreffenden Eindruckes? D. Strauß findet in Jesu Erscheinung etwas Hellenisches (Anm. 8), jedenfalls also nichts mit dem späteren Judentume Verwandtes. Wenn man nun den Jesus unsrer Evangelien mit Saul von Tarsus vergleicht, so springt in der That ein weiter Abstand zwischen dem Schüler der Pharisäer und zwischen dem Meister ins Auge; dort der leibhaftige Jude, auf den die Bildungsmächte seines Volkes und seiner Zeit so unverkennbar tief und nachhaltig gewirkt haben; hier der Menschensohn, dessen Gestalt und Thun einen anmutet, als bewegte man sich in der geschichtlosen Zeit der Patriarchen. Das verspricht keinen reichen Ertrag von einem Rückgang auf die Zeitgeschichte. Selbstverständlich soll nicht geleugnet werden, daß diese Hilfsmittel dazu dienen können, einzelne Züge in dem Ergehen und auch im Verhalten Jesu sowie manche Wendungen seines Unterrichtes zu erklären und deutlicher zu machen. Ebenso fern liegt mir die Übertreibung, daran zu zweifeln, daß man die geschichtlichen Bildungen und Mächte im großen bezeichnen könne, unter deren Einfluß sich die menschliche Entwickelung unsers Herrn vollzogen hat. Aber das reicht bekanntlich für eine biographische Arbeit im modernen Sinne weitaus nicht zu. Eine solche begnügt sich nie und nirgend mit einer bescheidenen zurückschreitenden Analyse, sondern sie will durch aufbauende Wiederherstellung des in das Dunkel gesunkenen Geschehens von der Richtigkeit ihrer Rückschlüsse überführen. Sie bearbeitet mit Vorliebe die Lebenszeit Jesu, für die es keine Quellen gibt, und weiterhin setzt sie es vor allem darauf ab, die innere Ökonomie seines Fortschreitens auch innerhalb seines öffentlichen Lebens herauszustellen. Und dazu bedarf es denn noch eines andern als der vorsichtigen Zerlegung. Es muß eine ge- (S. 13) staltende Macht über die Trümmer der Überlieferung kommen. Diese Macht kann allein die Einbildungskraft des Theologen sein, die an der Analogie des eignen und des sonstigen Menschenlebens gebildete und genährte Einbildungskraft. Malt diese Muse des darstellenden Historikers schon auf andern Gebieten oft Bilder, denen jeder Hauch der Vergangenheit und ihrer Eigentümlichkeit mangelt, wie wird es diesem einzigartigen Stoffe ergehen? Er kommt einem jeden mit dem schon angedeuteten Entweder-Oder entgegen; das ist die Frage, ob der Darsteller sich unter den einzigen Sündlosen beugt; es ist die unausbleibliche Stellung zu dem Maßstabe aller Sittlichkeit. Wie verschieden muß die Auffassung ausfallen, ob man die Sündlosigkeit bekennt oder ob man dem geschilderten Erlöser seine Sünden aufzählt? ob man mit diesem Jesus jeden Sünder als einen Verlorenen ansieht oder die Grenze so fließend achtet, daß man in sittlichen Fehlern nur übertriebene Tugenden erkennt? (Anm. 9). Es tritt der Prüfung unabweislich entgegen, daß die ordnende und gestaltende Einbildung noch von einer andern Macht gelenkt wird, nämlich von einer vorgefaßten Meinung über die religiösen und sittlichen Dinge. Mit andern Worten: Der ausmalende Biograph Jesu ist immer irgendwie Dogmatiker im verdächtigen Sinne des Wortes. Im besten Falle teilt er die Dogmatik der Bibel; in den meisten Fällen ist das bei den modernen Biographen nur sehr bedingt so; ja, nicht wenige stellen sich mit Bewußtsein in Gegensatz zu der „antiken Weltanschauung des Neuen Testamentes“. Mit dieser Beobachtung sind wir aber bei einer sehr wichtigen Entdeckung. Kein wirksameres Mittel für ein langsames Sichdurchsetzen einer politischen Partei als eine Geschichte des Vaterlandes gleich der eines Macaulay. Die nackte Theorie würde (S. 14) manchen stutzig machen. Indem die Theorie in eine Schilderung der Vergangenheit verkleidet wird, geht sie unmerklich in das Denken über als ein Stück der Wirklichkeit, als ein aus ihr erhobenes Gesetz. So hat Rottecks Weltgeschichte als weitläufiges Parteipamphlet umfassende Kreise des deutschen Mittelstandes in eine bestimmte politische Denkweise gebannt. Ebenso ist es mit der Dogmatik. Vor einem Dogma, wenn es ehrlich als solches geboten wird, ist heute jedermann auf seiner Hut. Erscheint aber die Christologie als Leben Jesu, dann sind nicht sehr viele, welche den dogmatisierenden Regisseur hinter dem fesselnden Schauspiel des farbenreich gemalten Lebensbildes spüren. Den verborgenen Dogmatiker aber spürt gewiß niemand so sicher heraus, als wer selbst ein Dogmatiker ist; wer sich gewöhnt hat, die Fortwirkungen von Grundgedanken in allen einzelnen Urteilen mit Bewußtsein und Absicht zu verfolgen. Und darum wird der Dogmatiker ein Recht haben, hier eine Warnungstafel vor der angeblich voraussetzungslosen Geschichtsforschung aufzurichten, wenn sie eben aufhört Forschung zu sein und zum künstlerischen Gestalten fortschreitet. – Gern sieht man die Hand eines begabten Dichters in Drama oder Roman über einer bedeutenden Gestalt oder Begebenheit aus der Vergangenheit; vielleicht erschließt seine Schilderung den innersten Zug derselben unserm Sinne besser, wenn sie sich von der geschichtlichen Genauigkeit entbindet und dazu erfindet. Messiaden und Christusdramen hat man jedoch in biblisch-gerichteten Kreisen immer nur mit Unbehagen angesehen; und wir teilen gewiß zumeist diese Zurückhaltung, diese Bedenken. Wie mancher Arbeiter an der Leben-Jesu-Litteratur episiert und dramatisiert nun fröhlich darauf los, ohne sich dessen klar bewußt zu sein. Und weil es in Prosa, etwa auch auf der Kanzel geschieht, meint man, das sei eben nur Darlegung des geschichtlichen, biblischen Christusbildes. Weit gefehlt. Es ist zumeist der Herren eigner Geist, in dem Jesus sich spiegelt. Und das hat doch hier in der That mehr zu besagen als auf andern Gebieten.