Martin Kähler (1835-1912):
Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus.
(2. Der geschichtliche Christus ist der geglaubte und gepredigte Christus, das Fleisch gewordene Wort.)
Fassen wir die Sache recht scharf ins Auge: wonach sucht diese Arbeit? Hinter dem Jesus Christus, wie ihn die kirchliche (S. 15) Überlieferung schildert, das heißt eben auch hinter dem Bilde, welches das N. Testament darbietet, will sie den wirklichen Jesus herausholen, wie er leibte und lebte, in allen Beziehungen, die allen oder jedem einzelnen wichtig oder unentbehrlich, oft auch nur erwünscht oder ergetzlich („interessant“!) erscheinen (Anm. 10). Die aufgedeckten Schwierigkeiten, auf welche die Befriedigung dieser Anliegen stößt, geben gewichtigen Anlaß, nach der Berechtigung derselben zu fragen. Die Antwort wird dann gefunden sein, wenn der eigentliche und letzte Beweggrund des Unternehmens erkannt ist, sich Jesu geschichtliche Gestalt in voller Lebendigkeit vor die innere Anschauung zu stellen. Und dabei sind wir bei dem springenden Punkte; weshalb suchen wir Bekanntschaft mit der Gestalt dieses Jesus? Ich denke doch: wir, weil wir ihm glauben, wenn er spricht: „wer mich siehet, der hat eben damit den Vater gesehen“ (Joh. 14,9); weil er uns die Offenbarung des unsichtbaren Gottes ist. Wenn nun das Wort in ihm Fleisch ward, – ist das Fleisch an ihm die Offenbarung oder das Wort? (Anm. 11). Ist das Wichtige an ihm für uns, worin er uns gleich war, oder das, worin er uns völlig ungleich war und ist? Das was er uns zubringt, nicht aus dem unsern, sondern aus dem Herzen des lebendigen Gottes? – Ich will nicht mißverstanden sein. Daß er uns gleich war, ist freilich unvergleichlich wichtig für uns, und es ist unser Schatz – das hebt auch die Schrift immer hervor; freilich, wo sie es thut, kaum je ohne zu bemerken: „sonder Sünde“, „aus Gnade“, „aus Demut und in vollkommenem Gehorsam“ u. s. w. (Hebr. 4,15; 7,26. 27; 2. Kor. 8,9; Phil. 2,6f.). Wie er uns gleich war, das (S. 16) versteht sich von selbst; es ergibt sich auch gelegentlich von selbst, weshalb sich die sachlichen Belege wohl auf jeder Seite der Evangelien finden lassen. Und doch, wie muß man suchen, um einen biblischen Beleg aus geflissentlich hervorhebenden Äußerungen zu führen. Wäre dem nicht so, man könnte es nicht als eine biblisch-theologische Besonderheit des Hebräerbriefes aufführen, daß er die sittliche Arbeit Jesu betone; wo aber thut er das? 2,17.18; 4,15; 5,7f., etwa noch 12,2.3. Wer sich vollends selbst fragt, was er sucht, wenn er die Evangelien liest, der wird sich gestehen: ich suche nicht meinesgleichen, sondern mein Gegenstück, meine Ergänzung, meinen Heiland. Wer sich überlegt, was er findet, wenn er die Evangelien liest, wird sagen: so hat noch nie kein Mensch geredet, so hat noch nie kein Mensch gehandelt, so ist keiner gewesen. Nicht: das hat noch nie einer geredet – er hat manches wiederholt aus Schrift und Mund der Frommen vor ihm; aber es wird ein andres in seinem Munde (Anm. 12). Nicht: alles, was er thut, ist unvergleichlich – er steht in einer Reihe mit der Wolke von Zeugen. Und doch, wie er es thut, ist etwas ganz Unvergleichliches, denn so ist keiner gewesen (Anm. 13). Ja, weshalb im letzten Grunde treiben wir mit dem Jesus unsrer Evangelien Verkehr? Was haben wir an unserm Jesus? „Die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden“ (Ephes. 1,7) (Anm. 14). Was brauche ich denn mehr von ihm zu wissen, als was Paulus den Korinthern „zuvörderst gegeben hat, welches er auch empfangen hat, daß Christus gestorben sei für unsre Sünden nach der Schrift und daß er begraben sei und daß er auferstanden (S. 17) sei am dritten Tage nach der Schrift und daß er gesehen worden ist“ (1. Kor. 15,3f.)?! Das ist frohe Kunde im Auftrage Gottes (1. Kor. 15,12f.; Röm. 1,1f.; 2. Kor. 5,18f.; Gal. 1 6f.), das ist Zeugnis und Bekenntnis des Glaubens, der die Welt überwunden hat (1. Joh. 5,4). Dazu brauche ich keine genaue Kenntnis von den Lebensumständen des Gekreuzigten. Aber wozu dann die Evangelien? weshalb dann jene Predigt, deren Inhalt so oft sein Thun und sein Lehren bildet? Wir haben die Erlösung an ihm. „Wer will verdammen? Christus der gestorbene, vielmehr auch auferweckte, welcher auch ist zur Rechten Gottes, welcher uns auch vertritt?“ „Wir haben einen Beistand beim Vater, Jesum Christum, den Gerechten“. „Wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte Mitleid haben mit unsern Sünden, sondern der versucht ist allenthalben gleich wie wir, doch sonder Sünde“ (Röm 8,34; 1. Joh. 2,1; Hebr. 4,15). Wir brauchen und glauben und haben den lebendigen Christum; und wir glauben ihn, weil wir ihn kennen; wir haben ihn, wie wir ihn kennen; wir kennen ihn, weil er unter uns gewohnet hat, voll Gnade und Treue, und sich seine Zeugen erwählt hat, durch deren Wort wir an ihn glauben sollten (Joh. 1,13.14 vgl. 1. Joh. 1,1f.; Joh. 15,27; 17,20). Also deshalb treiben wir Verkehr mit dem Jesus unsrer Evangelien, weil wir da eben den Jesus kennen lernen, den unser Glaubensauge und unser Gebetswort zur Rechten Gottes antrifft; weil wir es mit Luther wissen, daß Gott sich nicht will finden lassen als in seinem lieben Sohne (Anm. 15), weil er uns die Offenbarung ist; richtiger und ausdrücklich: weil er uns das Fleisch gewordene Wort, das Bild des unsichtbaren Gottes, weil er uns der offenbare Gott ist. Das sucht der Glaubende. Das feiert die Gemeinde. Und also – wie wichtig jeder kleinste Zug! wie unerläßlich die Beseitigung jeder optischen Täuschung durch das Prisma der (S. 18) Überlieferung! jeder Trübung in der Auffassung seiner ersten Zeugen! – wie unaussprechlich wichtig die Wirklichkeit Jesu bis ins kleinste hinein! Es wäre schlimm, wenn es sich also verhielte. Gesetzt, die Kunst moderner Historik vermöchte Spektralanalyse an der Sonne unsers Heils zu üben; gesetzt, wir vermöchten heute jene Trübungen der Überlieferung zu beseitigen – wie stünde es doch um die Brüder jener ersten Zeit? Wenn sie den Jesus dieser Evangelien anschauten und anbeteten in eben jener Trübung, welche man meint in ihren Schriften zu finden und erst beseitigen zu müssen, so hätten sie ja wohl ihren Heiland nicht gekannt! Und so weiter alle Folgenden bis auf uns. Ja, meine Herren und Brüder, wir selbst? wie stünde es mit uns? Wo lernen wir diesen Jesus kennen? Die wenigsten können die Arbeit der Historik vollziehen, nur wenige kraft ihrer Bildung diese Arbeit in etwa beurteilen. Des Ansehens der Bibel wären wir dann freilich enthoben, aber dem Ansehen – nicht einer arbeitenden Wissenschaft, sondern – der angeblichen Ergebnisse dieser Wissenschaft wären wir unterworfen. Und niemand kann uns die Frage beantworten: bei welchem fünften Evangelisten (Anm. 16) sollen wir das Bild des erhöhten Christus, das Bild des offenbaren Gottes suchen? bei welchem Biographen? wir haben die Wahl in einer Reihe von Heß und Zündel über David Strauß hin bis zu Renan, Noack, der sozialdemokratischen Pamphlete zu geschweigen. Wollte man demgegenüber sagen: der Dogmatik gegenüber stehe man ebenso, denn man sei dort ebenso abhängig von den Theologen, so wäre das irrig. Dogmatik ist Sache des Urteils über Thatsachen, die jedem Christen zugänglich sind, soweit es sich nicht um theologische Ausführungen handelt, deren man zum christlichen Verständnis wohl entraten kann. Die Geschichts-forschung dagegen erfordert eine langgeübte Technik und eine breite Gelehrsamkeit – hier gibt es kein allgemeines Urteil außer etwa dem von aufgeblasenen Dilettanten. Entweder also müssen wir auf den offenbaren Gott verzichten – oder es muß eine andre Wirklichkeit Christi geben als die des (S. 19) biographischen Einzelwerkes; einen andern Weg zum geschichtlichen Christus zu gelangen als den der quellen-prüfenden und historisch-analogisch konstruierenden Kritik der historischen Theologie. Besinnen wir uns! Was ist denn eigentlich eine geschichtliche Größe? ein seine Nachwelt mitbestimmender Mensch, nach seinem Wert für die Geschichte gewogen? Eben der Urheber und Träger seiner bleibenden Fortwirkung. Als wirkungsfähiger greift der Mensch in den Gang der Dinge ein; was er dann ist, das wirkt, dadurch wirkt er. Bei Tausenden, deren Spuren in der Entwickelung der Zeitgenossen und der Nachwelt sich erst spät oder nie verwischen, bleibt ihre frühere Entwickelung für die Forschung das unter dem Boden versteckte Wurzelwerk, bleibt auch das Einzelne ihres Wirkens für immer vergessen. In ihrem Werke lebt die reife, die geschichtsreif gewordene Persönlichkeit; und an dieses Werk knüpft sich dann in unvergeßlichen Zügen und Worten auch wohl ein unmittelbarer Abdruck ihres wirkungskräftigen Wesens; und als Wirkung ist derselbe notwendig mitbestimmt, durch den Stoff, in dem er sich abprägt, durch die Umgebung, auf welche er zu wirken hatte und zu wirken vermocht hat (Anm. 17). Schon rein geschichtlich gegriffen ist das wahrhaft Geschichtliche an einer bedeutenden Gestalt die persönliche Wirkung, die der Nachwelt auch spürbar von ihr zurückbleibt. Was aber ist die Wirkung, die durchschlagende, welche dieser Jesus hinterlassen hat? Laut Bibel und Kirchengeschichte keine andre als der Glaube seiner Jünger, die Überzeugung, daß man an ihm den Überwinder von Schuld, Sünde, Versucher und Tod habe. Aus dieser einen Wirkung fließen alle andern; an dieser haben sie ihren Gradmesser, mit derselben steigen und fallen, stehen und fallen sie. Und diese Überzeugung hat sich in das eine Erkenntniswort gefaßt: ,,Christus, der Herr“. Zu diesem Bekenntnis hat die Zeitgeschichte nichts gethan, und noch weniger die jüdische Theologie. Die erzählende Zeitgeschichte (S. 20) in Josephus kennt Johannes des Sacharja Sohn. Über Jesus von Nazareth ist sie stumm. Die wirkliche Zeitgeschichte hat ihn zu den Toten geworfen; nachdem er glücklich dem Volkswohl zum Opfer gefallen war (Joh. 11,49f.), gährt und tobt das Judenvolk seinem staatlichen Untergange zu, ohne sich um ihn zu kümmern. Der kleine Haufen der Nazarener kommt dafür nicht in Betracht. Die übrige Welt hätte sich nie um ihn gekümmert, wenn nicht Saul von Tarsus ihm eine Gemeine gesammelt hätte, den aus dem Senfkorn erwachsenden Riesenbaum, unter dessen Laubdach die Vögel des Himmels Nester bauen. Vollends die jüdische Theologie und ihre Eschatologie! Wir wissen doch, wie schwer der unscheinbare Rabbi zu ringen hatte mit den irdischen Hoffnungen auf einen weltlich-strahlenden Davidssohn, der die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit seinem Volke zu Füßen legen sollte. Was dann von Zügen jener Bilderwelt jüdischer Erwartung in die bilderreiche Darstellung christlicher Hoffnung übergegangen ist, das macht noch heute die Anstöße aus, an denen der hoffende Glaube so leicht mit sich selbst in Widerspruch gerät. „Christus der Herr“ diese Gewißheit kann Fleisch und Blut nicht erlangen, festhalten und mitteilen; das hat Jesus selbst dem bekennenden Petrus gesagt (Matth.16,17), wie er es den ungläubigen Juden (Joh. 6,43f.) vorhielt; das hat des Petrus Schicksal im Vorhof des Hohepriesters bestätigt; das sagt Paulus seinen Gemeinden ihrer Zustimmung gewiß (1. Kor. 12,3). Wo aber diese Gewißheit entstanden ist und gewirkt hat, da ist sie urkundlich gebunden gewesen an die andre, daß er der Lebendige sei, der Gekreuzigte und Auferstandene. Und wo man in den Verhandlungen der Historiker nach dieser Gewißheit fragt, da setzt man nicht ein bei den viel umstrittenen abgerissenen letzten Erzählungen der Evangelisten; vielmehr verhandelt man über das Erlebnis des Paulus; man stellt den ununterbrochenen Glauben der Gemeine fest, so hoch und so weit man ihre Zeugnisse und Spuren verfolgen kann. Der auferstandene Herr ist nicht der historische Jesus hinter den Evangelien, sondern der Christus der apostolischen Predigt, des ganzen Neuen Testamentes. – Und wenn dieser Herr Christus (Messias) heißt, so liegt (S. 21) darin das Bekenntnis zu seiner geschichtlichen Aufgabe oder, wie man heut sagt: zu seinem Berufe, und wie unsre Alten mit demselben sachlichen Werte des Ausdruckes sagten: zu seinem dreifachen Amte; das heißt: das Bekenntnis zu seiner einzigartigen, übergeschichtlichen Bedeutung für die ganze Menschheit. Dieser seiner Messianität oder Christuswürde sind sie aber gewiß geworden im Widerspruche mit der öffentlichen Meinung, sowohl über die ,,Idee“ des Messias d. h. darüber, wie man sich einen Messias dachte und was man von ihm forderte, als auch über die Person dieses Jesus von Nazareth – damals gerade so wie heute. Und wenn man hinterher, in Briefen und Evangelien und zu allererst in Predigten daran ging, diese Messianität glaubhaft zu machen, so waren es immer zwei Beweistümer, deren man sich bediente: persönliche Bezeugung seiner Auferstehung aus Erfahrung und – Schrift. Er als der lebendige ist ihnen der Messias des alten Bundes. Und darum sprechen auch wir von dem geschichtlichen Christus der Bibel. So gewiß nicht der historische Jesus, wie er leibte und lebte, seinen Jüngern den zeugniskräftigen Glauben an ihn selbst, sondern nur eine sehr schwankende, flucht- und verleugnungsfähige Anhänglichkeit abgewonnen hat; so gewiß sie alle mit Petrus zu einer lebendigen Hoffnung wiedergeboren wurden erst durch die Auferstehung Jesu von den Toten (1. Petri. 1,3); so gewiß sie der Erinnerung des Geistes bedurft haben, um zu verstehen, was er ihnen bereits gegeben hatte, und zu fassen, was sie damals nicht tragen konnten (Joh. 14,26. 16,12.13); so gewiß sie nachher nicht herausgetreten sind, um ihn durch Verbreitung seiner Lehre zum Schulhaupte zu machen, sondern um seine Person und ihre unvergängliche Bedeutung für einen jeden Menschen zu bezeugen; ebenso gewiß waren sie auch erst dann im stande, sein Sein und Behaben, sein Thun und sein Wort als die Darbietung der Gnade und Treue Gottes zu erfassen, da er vollendet vor sie trat, er selbst die Frucht und der ewige Träger seines Werkes von allumfassender unvergänglicher Bedeutung; und zwar jenes Werkes, dessen schwerstes und entscheidendes Stück des historischen Jesus Ende war. Ob wir auch den Messias nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn nun doch nicht mehr (2. Kor. 5,16). (S. 22) Das ist der erste Zug seiner Wirksamkeit, daß er seinen Jüngern den Glauben abgewann. Und der zweite Zug ist und bleibt, daß dieser Glaube bekannt wird. Daran hängt seine Verheißung (Röm. 10,9.10); daran hängt für uns die Entscheidung; daran hängt die Geschichte der Christenheit. Der wirkliche, d.h. der wirksame Christus, der durch die Geschichte der Völker schreitet, mit dem die Millionen Verkehr gehalten haben in kindlichem Glauben, mit dem die großen Glaubenszeugen ringend, nehmend, siegend und weitergebend Verkehr gehalten haben – der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus. Der gepredigte Christus, das ist aber eben der geglaubte; der Jesus, den wir mit Glaubensaugen ansehen in jedem Schritt, den er thut, in jeder Silbe, die er redet; der Jesus, dessen Bild wir uns einprägen, weil wir darauf hin mit ihm umgehen wollen und umgehen, als mit dem erhöhten Lebendigen. Aus den Zügen jenes Bildes, das sich den Seinigen in großen Umrissen hier, in einzelnen Strichen dort tief eingeprägt und dann in der Verklärung durch seinen Geist erschlossen und vollendet hat, – aus diesen Zügen schaut uns die Person unsers lebendigen Heilandes an, die Person des fleischgewordenen Wortes, des offenbaren Gottes. Das ist nicht versichernde Predigt – das ist das Ergebnis haarscharfer Erwägung der vorliegenden Thatsachen; das ist Ergebnis der sichtenden und prüfenden Dogmatik, nur darum in Schriftwort gekleidet, weil es eben mit diesem Schriftwort übereinstimmt – Soll eine solche Schriftmäßigkeit etwa einen Verdachtgrund gegen eine solche Dogmatik hergeben? und zwar auf dem Boden einer reformatorischen Theologie?! – (Anm. 18).