Martin Kähler (1835-1912):
Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus.
(5. Der biblische und also auch der geschichtliche Christus ist der offenbare Gott in seiner erlösenden Handlung.)
Wenn uns das biblische Bild Jesu Christi das ist und das leistet, warum sucht man mehr, sucht man ein andres? – Zur Begründung dieser ablehnenden Frage werde der Versuch gemacht, das Ergebnis unserer weitläufigen Erwägungen festzustellen. Niemand ist im stande, die Gestalt Jesu wie irgend eine andre Gestalt der Vergangenheit zum Gegenstande lediglich geschichtlicher Forschung zu machen; zu mächtig hat sie zu allen Zeiten unmittelbar auf weite Kreise gewirkt, zu bestimmt tritt noch einem jeden ihr Anspruch entgegen, als daß nicht selbst schon darin eine entschlossene Stellungnahme läge, wenn man sich zu der beanspruchten Bedeutung dieser „Erinnerung“ ablehnend verhält, neben der „das Menschengeschlecht keine hat, die dieser nur von ferne zu vergleichen wäre“ (Anm. 39). Niemand vermag sich mit dieser Vergangenheit zu beschäftigen, ohne irgend wie unter den Einfluß ihrer einzigartigen Bedeutung für die Gegenwart zu treten. Vollends (S. 43) ein Christ wird sich immer vorhalten, daß ihm als solchem das Geschichtliche sehr gleichgiltig sein müßte oder dürfte, wenn in diesem Geschichtlichen nicht etwas wäre, was ihn heute ebenso angeht wie die Zeitgenossen dieses Jesus. Und gerade so nun, wie den Menschen der Gegenwart diese Gestalt entgegentritt, in ihrer beanspruchten unvergleichlichen Bedeutung für eines jeden Religion und Sittlichkeit, gerade so ist sie bereits in den Berichten aufgefaßt und gemalt, durch die wir allein mit ihr in Berührung zu treten vermögen. Es gibt hier keine Mitteilung aufmerksam gewordener unbefangener Beobachter, sondern durchweg Zeugnisse und Bekenntnisse von Christusgläubigen. Und was ist es nun, das sie uns zu berichten für gut fanden oder vermochten? Nur das Handeln des reifen Mannes. Quellenmäßig kennen wir seine Persönlichkeit ausschließlich in den höchstens etwa dreißig Monaten seines öffentlichen Lebens (Anm. 40). Wir kennen den Propheten, dessen früheste wie späteste Verkündigungen es begreiflich machen, daß und wie tief sein Vorgänger sich vor ihm beugte. Wir kennen den überlegenen Meister, der lehrend und handelnd seine weitere und engere Umgebung vorsichtig fortschreitend erzieht und zur Entscheidung bringt. Wir kennen den entschlossenen Messias, der, die Zeichen seines Lebenshimmels deutend, seinen Gang fest in der Hand hält und dem klar erkannten Ziele entgegen lenkt. Wir kennen den königlichen Dulder, dessen unverborgene kurze Kämpfe einen Menschen zeigen, seiner selbst so allezeit und unbedingt Herr, wie schwerlich einen neben ihm. Wir kennen den vom Tode Erstandenen, seinen Tisch- und Wanderungsgenossen fremd und doch zugleich zweifellos bekannt. Was er sagt und handelt, was er mitteilt und was er zeigt, das hat er ebenso herauskehren wollen, den Eindruck empfängt man von diesem Manne voll Thatkraft. Wir wissen es wohl, daß vieles in ihm (S. 44) vorgegangen sein muß, von dem wir nichts vernehmen; einzelne Spuren bürgen uns dafür. Es liegt auf der Hand, daß eine liebevolle Anhänglichkeit manches Fesselnde und Gewinnende von ihm hätte aufbewahren können, so wie daß er ein breites menschliches Treiben und Ergehen durchgemacht mit allem Kleinwerk des Alltages wie wir. Allein von dem allen bietet die Erinnerung seiner Gemeinde nichts. Es gibt keinen aufbehaltenen Zug, an dem sich nicht nachweisen ließe, wie er um religiöser Wertgebung willen aufbehalten sei; ob dieselbe auch uns berechtigt erscheine oder nicht, ist für diese Einsicht ja gleichgiltig. Man findet den zweiten Evangelisten zum Ausmalen geneigter; und doch, wie ist auch sein Bericht so kurz, zumal wenn er von Jesu Thun redet. Wie mancher, der die Evangelien zur Erbauung in die Hand genommen hat, machte die zunächst unerfreuliche Beobachtung, daß diese Erzähler gar so sparsam und so spröde bei der Thatsache und dem aufgefangenen Worte bleiben. Gewiß, sie sind das völlige Gegenteil der ausmalenden, motivierenden und psychologisierenden Beredsamkeit in den neueren Geschichten Jesu. – Durch den Rechen dieser pneumatischen Hypomnese (Joh.14,26), dieser Erinnerung unter der Leitung des in aller Wahrheit, die Jesus ist, zurechtweisenden andern Beistandes (Joh. 16,13; 14,6.16), ist alle Spreu des schlicht und schlecht Geschichtlichen gefallen und nur das volle Korn der Worte und der Werke des Vaters in ihm und durch ihn in die Scheuer gebracht. – Und wie das Nebensächliche, das für den Zweck glaubenbegründender Verkündigung Unbedeutende vergessen ist, so deckt die Schrift den Schleier über die Zeiten und Vorgänge der Unreife und der Vorbereitung. Sie zeigt nur den königlichen Charakter, der mit sich fertig ist und deshalb mit allem rasch und sicher fertig wird; der sich auslebt und von der Umgebung nicht mehr aufnimmt, sondern nur gibt; der nur noch seinen Beruf erfüllt und sein Geschick vollendet. Stellen wir einmal die Fülle seiner Lehre zurück; sie würde uns ja das nicht sein, was sie uns ist, wenn wir in ihr nicht seine „Macht“ (Mark. 1,22) spürten; wenn es nicht eben seine Worte wären, sein teures Geistesvermächtnis. Gliedern wir auch seine prophetische Arbeit in das Ganze seiner Erscheinung ein, so haben (S. 45) wir eigentlich eine einzige zusammenhängende Handlung vor uns, die Entfaltung und Bewährung seiner Messianität. Rasch und bestimmt hebt er die Seiten der Frage heraus; scharf und sicher zieht er im bunten Gewirr der Gelegenheiten die Folgen; mit unwandelbarer Hingabe vollzieht er den Abschluß des handelnden Leidens. Durch alles hindurch geht die Versicherung, die er gibt, und der Eindruck, den er macht, daß an ihm, an seiner Person die Entscheidung für die Menschen hängt, der Zugang zum Vater. So darf er sagen: „wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen“. Wer den Eindruck von der Persönlichkeit von dem Charakter des hier handelnden Mannes empfängt, der kennt fortan den Charakter Gottes (Hebr.1,3); den Eindruck hat auch Paulus empfangen, als er ihn schaute und der Eindruck dieser Person ihm den Sinn und Wert ihres Handelns und Erlebens erschloß (2. Kor. 4,4.6; Gal. 1,16 vgl. 1. 2,20). Man könnte sich jenes Wort aneignen: der Christus der Evangelien ist „das Transparent des Logos“, nur daß dieses durchlässige Mittel nicht eine nebelhafte Legende ist, sondern ein greifbares Mannesleben, reich und bestimmt, wenn auch kurz und knapp bemessen. Das ist freilich zu wenig für eine vollständige Biographie Jesu von Nazareth; aber es ist genug für Predigt und für Dogmatik, und zwar für eine Dogmatik gerade dann, wenn sie die dornigen Fragen der Christologie zurückstellt und dafür eine klare und lebensvolle Soterologie pflegt, eine Glaubenskunde von der Person des Heilandes (Anm. 41). Ist und bleibt doch das Entscheidende für alle biblischen Schilderungen der doppelseitige Ausgang dieses Lebens; dasjenige, was unsre Väter sonderlich und wohl in zu toter Absonderung das Werk unsers Herrn nannten. Wir können und sollen vom neuen Testamente lernen, Person und Werk zusammenzufassen. Sein Werk ist seine Person in ihrer geschichtlich-übergeschichtlichen Wirkung; in betreff seiner bedarf man keiner Überführung durch die Mittel der geschichtforschenden Kunst. Es liegt einem jeden vor in (S. 46) der durch die Jahrhunderte hindurchschreitenden Kirche, in dem bekennenden Wort und Leben der Brüder, in dem eignen wirkungskräftigen Glauben, den eben Er ihm abgewonnen hat. Das lebensvoll erfaßte Dogma vom Heiland gewährleistet dergestalt die Zuverlässigkeit des Bildes, das uns die biblische Predigt von Jesu dem Christ entgegenträgt. Und brauchen wir mehr? Und ist die Erkenntnis je einen andern Weg gegangen? Wir fassen die Summe unsers Glaubens, die Summe der neutestamentlichen Offenbarung gern in das Wort zusammen: „Gott ist Liebe“. Wann hat man das bekennen gelernt? Nicht durch die Predigt, welche vom Berge am See erscholl und von den Boten durch die Städte Israels getragen wurde, durch die Predigt vom Reiche Gottes, so viel in ihr auch davon enthalten ist; jenes dunkle Bildwort sollte erst durch Christi Thun und Erleben seine volle Deutung erhalten. „Darum preiset Gott seine Liebe gegen uns, daß Christus für uns gestorben ist“ (Röm. 5,8 vgl. 8, 32-39), erinnert Paulus. Und woher Johannes jene Erkenntnis gewonnen, sagt er sehr deutlich: „Darinnen stehet die Liebe: nicht daß wir Gott geliebet haben, sondern daß er uns geliebet hat und gesandt seinen Sohn zur Sühne für unsre Sünden. Daran haben wir erkannt die Liebe, daß er sein Leben für uns gelassen hat“ (1. Joh. 4,10; 3,16)(Anm. 42). In dem geschichtlichen Gehalt des Paulinischen Symbolum 1. Kor. 15,3.4, in dem Lebensausgange Jesu hat Gott in einer Thatensprache geredet, die unverwischlich geblieben ist. Diese Thatsachen bedürfen keiner Urkunden, um unvergessen zu bleiben, denn das dankbare Bekenntnis trägt sie durch die Jahrtausende. Ja, für diese Thatsachen, nämlich für ihren eigentlichen Gehalt, für ihren bleibenden Wert kann es gar keine geschichtlichen Urkunden geben, sondern nur Zeugnis und Glauben. (S. 47) Und darum: unsern Glauben an den Heiland weckt und trägt die kurze und bündige apostolische Verkündigung von dem erhöhten Gekreuzigten. Zum gläubigen Verkehr aber mit unserm Heilande hilft uns die Erinnerung seiner Jünger, die sich im Glauben ihnen einprägte, die sein Geist in ihnen erneute und klärte, die sie als den höchsten Schatz ihres Lebens vererbten. Und im Verkehre mit ihm durch sein biblisches Bild werden wir zur Freiheit der Kinder Gottes erzogen, deren Herzblatt das beschämte, zaghafte und doch aufrichtige Bekenntnis bleibt: „Herr, du weißt alle Dinge; du weißt, daß ich dich lieb habe“.
Inhalt.
1. Der sogenannte historische Jesus ist für die Wissenschaft nach dem Maßstabe moderner Biographie ein unlösbares Problem; denn die vorhandenen Quellen reichen nicht aus und die ersetzende Kunst ist diesem Probleme nicht gewachsen. Seite 4
2. Der geschichtliche Christus ist der geglaubte und gepredigte Christus, das Fleisch gewordene Wort. Seite 14
3. Der Glaube an den Christus der Bibel ist nicht Autoritätsglaube; während er sich irgendwie durch die Bibel vermittelt, wird er zum entscheidenden Grunde für das Vertrauen zu ihr. Seite 22
4. Das biblische Bild ist der von ihm selbst erzeugte Abdruck des geschichtlichen Christus, wie er durch das Wirken des heiligen Geistes sich vermittelte. Seite 38
5. Der biblische und also auch der geschichtliche Christus ist der offenbare Gott in seiner erlösenden Handlung. Seite 42