Gefühle zum Glauben?
Warum es auch ohne geht…
(in enger Anlehnung an einen Text von C.H. Spurgeon)
Das Thema dieses Abschnittes wird manchen überraschen. Denn ich habe mir vorgenommen, über Gefühle zu sprechen. Und das ist bei Männern eher selten. Mit Gefühlen kennen sich Frauen scheinbar besser aus, während Männer sich an handfeste Dinge halten und an die Logik, die sie verstehen. Ich als Pfarrer komme aber am Thema nicht vorbei, weil ja Gefühle im Sinne von „religiösen Gefühlen“ sehr wichtig genommen werden: „Der Glaube kommt nicht aus dem Verstand!“ sagen viele Leute, „das ist mehr so ein Gefühl.“ „Gott kann man nicht beweisen“ sagen sie, „Gott muss man spüren.“ Und weil viele Pfarrer, und vor allem Pfarrerinnen (!), das genauso sehen, gibt es einen starken Trend, Emotionen, Erfahrungen und innere Erlebnisse in den Vordergrund zu stellen. Das hat natürlich viel für sich und lässt sich solide begründen, weil Glaube ein ganzheitliches Geschehen ist, das am Gemüt nicht spurlos vorübergeht.
Schon Luther betonte immer wieder, dass Glaube mehr ist als ein bloßes „Für-wahr-halten“ dogmatischer Sätze. Glaube ist eine ehrfürchtige und vertrauensvolle Hingabe der ganzen Person, die ihr Schicksal mit Herz und Verstand in Gottes Hände legt! Das geht natürlich nicht ohne Gefühle ab, weil Gottesfurcht und Gottvertrauen, Buße und innere Umkehr, Glaube, Liebe und Hoffnung unser ganzes Wesen einbeziehen. Und dennoch entstehen aus der Betonung des religiösen Gefühls immer wieder Probleme bei Menschen, die nach Gott suchen und eigentlich glauben wollen und die Erfahrung machen, dass sie leider nichts Besonderes „fühlen“. Denn die gehen dann in beschwingte Gottesdienste und erleben die Enttäuschung, dass es sie nicht mitreißt. Die erleben missionarische Veranstaltungen mit Gläubigen, die ganz außer sich geraten vor Freude, Liebe und heiliger Begeisterung, und stehen doch selber stumpf und kalt daneben, weil der emotionale Funke nicht überspringt.
Tut mir Leid, sagen die dann, ich kann wohl irgendwie nicht glauben, denn ich fühle da nichts. Diese Leute haben dann den Eindruck, dass Gott ihnen die kalte Schulter zeigt, weil er ihr Herz nicht berührt und sie nicht erleben lässt, was die anderen doch offenbar erleben. Sie stehen daneben wie blind und dumm – und entwickeln so etwas wie Neid auf die tollen religiösen Gefühle der anderen. Die sagen: Du musst die öffnen! Du musst es an dich ranlassen! Du musst dich drauf einlassen! Bitte Gott darum – dann fühlst du ihn auch!
Wenn der Neuling es aber versucht und trotzdem nichts spürt oder erlebt, sieht er sich ausgeschlossen. Und er folgert natürlich, dass der Grund des Glaubens in jenen religiösen Gefühlen liegen muss, zu denen er keinen Zugang hat. Die anderen scheinen Gott unmittelbar zu spüren – und sie reden auch dauernd davon. Ihm aber fehlt das Gespür und damit, so meint er, auch die Grundlage zum Glauben. Doch stimmt das so? Geht es beim Christ-Sein darum, dass ein Mensch seinen religiösen Gefühlen glaubt? Oder geht es darum, dass er dem Evangelium glaubt? Baut der Glaube auf die eigene Stimmung, Rührung und Begeisterung? Oder baut er auf Gottes Wort? Vielleicht scheint es ihnen spitzfindig, so zu fragen. Denn wo Gottes Wort Glauben findet, bleiben Emotionen selten ganz aus. Und doch kommt es sehr darauf an, Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln. Denn als Christen glauben wir nicht an unsere eigene fromme Stimmung, sondern glauben an den dreieinigen Gott. Und wir dürfen beides auch nicht verwechseln oder vermengen, weil sonst die frommen Stimmungen und die religiösen Gefühle zu einer Art Zugangsbedingung werden, die Menschen von Christus fernhalten kann. Christus hat nämlich nicht die zu sich gerufen, die irgendwas Tolles fühlten, sondern die, die mühselig und beladen sind. Und genauso wenig wie Jesus „gute Werke“ zur Voraussetzung der Nachfolge macht, macht er „religiöse Gefühle“ zur Voraussetzung. Nein! Christus ruft die, die ihm gerade nichts zu bieten haben. Nicht die Gerechten, sondern die Sünder, nicht die fromm Gestimmten, sondern die religiösen Versager, nicht die, die Gott immerzu spüren und fühlen, sondern auch die, die das Gefühl seiner Nähe schmerzlich entbehren! Und darum wäre es zutiefst unevangelisch, irgendeine Form von Sensibilität oder Emotion, irgendwelche Gebetserfahrungen oder Geistesgaben zur Vorbedingung des Glaubens zu erheben.
In der Esoterik redet man viel von spirituellen Begabungen und von göttlichen Kräften, die man spüren kann. Es wird da viel von inneren Erfahrungen erzählt, von Berührungen Gottes, von Erleuchtung und Beseligung, von innerer Wärme und innerem Licht. Es ist aber gewiss viel Einbildung und Prahlerei dabei, und es ist vor allem Unrecht denen gegenüber, die von den sensationellen Gefühlen anderer hören und folgern, sie selbst seien religiös unmusikalisch. Die spüren nichts, die fühlen nichts, die sehen ihre eigene Leere, ihre Kälte und ihre geistliche Armut. Aber ist Christus für die etwa nicht gestorben? Sollen die etwa ausgeschlossen sein, nur weil sie nüchtern bleiben und nicht von ihrer eigenen Begeisterung besoffen sind? Ich kann dem Jesu eigene Worte entgegenhalten, weil er sagte: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.“
„Geistlich arm“ sind auch die, die nicht von ihren religiösen Gefühlen erzählen und schwärmen können, weil sie vielleicht emotional stumpf sind. Und doch gilt ihnen die Verheißung des Himmelreiches! Denn unser Glaube verlässt sich nicht darauf, dass wir so fest und so gefühlvoll glauben, nicht darauf, dass wir gute Menschen wären, nicht darauf, dass wir reinen Herzens wären, nicht auf Innerlichkeit oder Tiefsinn – sondern der Glaube verlässt sich auf den Herrn, der jenseits von uns und über uns ist.
Der Grund und Inhalt unseres Glaubens ist nicht in uns zu suchen, sondern außerhalb von uns, weil der Glaube keinen anderen Grund hat als Christus selbst. Und die Anweisung an einen Suchenden und Zweifelnden kann darum gerade nicht lauten, er solle tief in sich schauen auf irgendeine Befindlichkeit seines Gemüts, sondern er soll gerade von sich weg schauen auf Christus. In Christus liegt das Heil, nicht in unseren Gefühlen, und Christus verdient auch das Vertrauen, das unsere Gefühle definitiv nicht verdienen. Denn Christus ist verlässlich, und unsere religiösen Gefühle sind es nicht. Christus macht uns gerecht, und unsere Gefühle können das nicht. Wenn also jemand verzweifelt, weil ihm religiöse Erfahrungen abgehen, dann sollten wir ihm sagen, dass er sie nicht braucht.
„Ich würde ja gern glauben“ sagen diese Leute, „aber ich spüre doch nichts!“ Unsere Antwort muss aber sein „das brauchst du auch nicht!“. Denn wenn einer Gott spürte und daraufhin glaubte, würde er ja auf sein Gespür vertrauen und nicht eigentlich auf Gott. Glauben heißt nicht, dass ich etwas Gutes in mir entdecke und daraus schließe, dass ich gerettet bin, sondern Glaube bedeutet gerade, dass ich in mir nichts Gutes entdecke und darum meine Rettung bei Christus suche. Denn wer das tut, findet in Christus sein Heil, und wer es nicht tut, kann auch mit noch so viel religiösem Gefühl zur Hölle fahren. Man glaubt nicht an Christus, weil man fühlt, dass man ihn braucht, sondern weil man ihn tatsächlich braucht. Und man kommt dann auch nicht als besonders empfindsamer Sünder zu ihm, sondern nur als Sünder. Mit den Worten C. H. Spurgeons gesagt: „Die Erkenntnis der eigenen Not ist ein wertvolles Gefühl, aber wenn ich am Fuß des Kreuzes stehe, glaube ich nicht an Christus, weil ich so ein wertvolles Gefühl habe, sondern ich glaube an ihn, ob ich wertvolle Gefühle habe oder nicht.“
Christus ist nämlich gekommen, um die Sünder zu retten. Und er meint dabei nicht die „erweckten“ Sünder oder die „spirituell begabten“ Sünder, nicht die „reumütigen“ Sünder oder die „gefühlvollen“, sondern schlicht „die Sünder“, die mit leeren Händen zu ihm kommen, die keine guten Taten, keine Verdienste, und auch keine seelischen Befindlichkeiten vorweisen können. Kein Gefühl ist für uns gestorben und kein Gefühl macht uns gerecht, nicht durch Gefühle werden wir geheiligt, nicht durch gute Gedanken oder Werke, sondern allein durch Christus, den wir nicht in uns finden, sondern über uns.
Jesus Christus spricht: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“ (Joh 6,37) Und er nennt dazu weiter keine Bedingungen, denn alles, dessen es sonst noch bedarf, werden wir bei Christus finden. Was macht es also für einen Sinn, dem Glauben fern zu bleiben, weil man meint, es fehle einem das Talent? Stellen sie sich ein Badezimmer vor und einen Menschen, der vor der Tür steht, und sagt: „Ich kann da nicht rein gehen, um mich zu waschen, denn ich bin so schmutzig!“ Würde uns das einleuchten? Nein. Der Schmutz eines Menschen spricht nicht dagegen, dass er gewaschen wird, sondern ist ein klarer Grund dafür. Stellen sie sich ein Sozialamt vor und einen Menschen, der vor der Tür steht und sagt: „Ich bin so arm, ich bin gar nicht darauf vorbereitet, Unterstützung zu bekommen.“ Würden wir nicht antworten: „Deine Armut ist deine Vorbereitung! Genau deine Bedürftigkeit qualifiziert dich, dort einzutreten!“?
Nicht anders ist es, wenn einer an der Schwelle Jesu Christi steht und glaubt, er müsse religiöse Gefühle haben, um dort Aufnahme zu finden. Denn gerade sein Mangel ist die allerbeste Vorbereitung und sein Defizit ist die beste Qualifikation. Gerade die mit den leeren Händen sind berufen, sich von Christus beschenken zu lassen. Und wenn sie erst mal bei ihm angekommen sind, und Christus ist der Meinung, dass sie religiöse Gefühle haben sollten, dann wird er sie ihnen verschaffen. Wenn aber nicht, dann geht’s gewiss auch ohne. Wer also darf zu Christus kommen? Wer darf es wagen? Schon diese Frage ist verkehrt, weil Jesus Christus uns selbst zu ihm befohlen hat, und es darum keine Frage des Dürfens ist, sondern eine Frage der Pflicht:
Das Evangelium sagt „Glaube an den Herrn Jesus und du wirst errettet werden“ (Apg 16, 31) und „Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet“ (Joh 3,18) Der Glaube an Christus ist also gleichzeitig Auftrag und Vorrecht. Und es ist wirklich eine Gnade, dass der Glaube Pflicht ist, denn so kann die Frage nie aufkommen, ob ein Mensch das Recht hat, seine Pflicht zu tun. Auf dieser Basis, dass Gott mir befiehlt zu glauben, habe ich das Recht zu glauben, egal wer ich bin, und habe überhaupt kein Recht, es zu unterlassen. Denn das Evangelium gilt allen – und zu allen gehöre nun einmal auch ich. Was also könnte einer falsch machen, wenn er dem Befehl Gottes gehorcht? Es ist ein Gebot Gottes für alle Menschen, an Jesus Christus zu glauben, den Gott gesandt hat. Und dass es geboten ist, ist eine Garantie für alle Sünder, dass sie es auch dürfen. Eine gesegnete Garantie ist das! Denn die Hölle kann sie nicht anfechten, und der Himmel wird sie nicht zurücknehmen! Es braucht darum keiner auf Erfahrungen zu starren, die er hat oder die ihm fehlen, nicht auf Gefühle und nicht auf Werke, sondern auf Christus allein sollen wir schauen. Denn an uns selbst ist eh nichts Gutes, worauf wir vertrauen dürften, sondern in ihm ist alles Gut, dessen wir bedürfen.
„Oh“ schreibt Spurgeon, „ich wünschte, ich könnte dir diesen Gedanken begreiflich machen. Wenn Gott dich rettet, dann liegt das überhaupt nicht an dir, sondern einzig an ihm selbst. Gottes Grund, warum er einen Sünder begnadigt, liegt in seinem eigenen Herzen begründet und nicht in dem des Sünders. Für deine Rettung sprechen genauso viele Gründe, wie für irgend jemanden sonst, nämlich keine. Du lieferst keinen Grund, warum Gott dir gnädig sein müsste, aber er erwartet keinen Grund, denn der Grund dafür liegt in Gott allein.“
Wahrlich: Das ist eine gute Nachricht. Denn wer von uns ehrlich in den Spiegel schaut, wird finden, dass Gott wenig Anlass hat, ihn zu erlösen. Aber Gott braucht dazu auch keinen anderen Anlass, als nur den, der in Gott selbst liegt, weil der barmherzige Gott sich grundlos erbarmt. Wir sind’s durchaus nicht wert – aber das stört ihn nicht! Und für diese Großmut können wir ihm gar nicht oft genug danken…
Bild am Seitenanfang: Young Spanish Woman with a Guitar
Pierre-Auguste Renoir, Public domain, via Wikimedia Commons