Glaube als Blickrichtung

Glaube als Blickrichtung

Das krampflösende Mittel, von sich selbst abzusehen

Jochen Klepper hat ein Gedicht geschrieben, das sich aus der großen Masse der Weihnachtsgedichte wohltuend heraushebt. Denn es beschränkt sich nicht darauf, irgendwelche winterlichen Stimmungen zu schildern, wie die meisten Weihnachtsgedichte das tun. Sondern es will so etwas wie eine „Anleitung“ geben zur rechten Feier der Weihnacht. Man könnte es geradezu eine „Gebrauchsanweisung“ für das Weihnachtsfest nennen. Jedoch – in Kleppers Anleitung zum Weihnachtsfest steht nicht das, was wir hineinschreiben würden: 1. Man besorge sich einen Tannenbaum. 2. Man singe Lieder. 3. Man esse gut und reichlich. 4. Man lasse ein Gefühl von Frieden und Freude in sich aufsteigen. Nein! Kleppers Anleitung zum Weihnachtsfest schweigt von all diesen Dingen. Und stattdessen erklärt er ausführlich, wohin wir an Weihnachten unseren Blick richten sollen.

„Merkwürdig“, wird vielleicht jemand sagen, „ist denn Weihnachten eine Frage der Augenstellung, der Optik und des Blickwinkels?“ Doch wie Klepper es meint, werden sie verstehen, wenn sie sein Gedicht gelesen haben:

 

Sieh nicht an, was du selber bist in deiner Schuld und Schwäche.

Sieh den an, der gekommen ist, damit er für dich spreche.

Sieh an, was dir heut widerfährt, heut, da dein Heiland eingekehrt,

dich wieder heimzubringen auf adlerstarken Schwingen.

 

Sieh nicht, wie arm du Sünder bist, der du dich selbst beraubtest.

Sieh auf den Helfer Jesus Christ! Und wenn du ihm nur glaubtest,

dass nichts als sein Erbarmen frommt und dass er dich zu retten kommt,

darfst du der Schuld vergessen, sei sie auch unermessen.

 

Glaubst du auch nicht, bleibt er doch treu. Er hält, was er verkündet.

Er wird Geschöpf und schafft dich neu, den er in Unheil findet.

Weil er sich nicht verleugnen kann, sieh ihn, nicht deine Schuld mehr an.

Er hat sich selbst gebunden. Er sucht: du wirst gefunden!

 

Sieh nicht mehr an, was du auch seiest. Du bist dir schon entnommen.

Nichts fehlt dir jetzt, als dass du weißt: Gott selber ist gekommen!

Und er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, ein Fürst, der ewgen Frieden schafft.

Dem Anblick deiner Sünden will er dich selbst entwinden.

 

Wie schlecht auch seine Windeln sind, sei dennoch unverdrossen.

Der Gottessohn, das Menschenkind liegt doch darin umschlossen.

Hier harrt er, dass er dich befreit. Welch‘ Schuld ihm auch entgegenschreit –

er hat sie aufgehoben. Nicht klagen sollst du: loben!

 

Nun, ich habe gesagt, Kleppers „Anleitung“ zur Feier der Weihnacht beschriebe vor allem die dazu notwendige Blickrichtung. Und sie verstehen jetzt sicher, wie das gemeint war. Denn Klepper spricht in seinem Gedicht ja zu Menschen, deren besorgter Blick beständig auf sie selbst gerichtet ist. Und er kennzeichnet damit eine innere Haltung, zu der wir alle neigen: Je mehr wir in alltäglicher Betriebsamkeit Gott aus dem Blick verlieren, desto mehr sind wir fixiert auf uns selbst, auf unseren Erfolg und unser Scheitern. Und hat uns das erst einmal gepackt, so können wir gar nicht mehr anders, als gewissermaßen beständig in den Spiegel zu schauen. Wir starren gebannt auf die eigene Befindlichkeit, weil wir meinen, von uns selbst hinge all unser Wohl und Wehe ab. Wir erwarten von niemandem viel, außer von uns selbst, und können darum den Blick nicht von uns lassen. Wir versuchen krampfhaft, unser Schicksal in den Griff zu bekommen. Und je öfter wir dabei scheitern, umso verbissener versuchen wir es. Wir starren auf uns selbst, als müsste aus uns selbst Befreiung kommen. Wir starren auf uns selbst, als lägen auf dem Grund unserer Seelen die Antworten auf alle Fragen. Weil wir dort aber nichts finden als Angst und Schuld, steigert sich unsere Sorge nur noch mehr. Wir scheitern bei dem Versuch, unser Dasein dauerhaft zu sichern, und wir versuchen es doch immer aufs Neue. Denn wir haben den vergessen, dem wir diese Sorge überlassen könnten. Wir meinen, wir müssten alles selber tun. Wir vermögen es aber nicht. Und wenn uns unsere Selbstbeobachtung dieses schreckliche Dilemma dann offenbart, starren wir darauf, wie das Kaninchen auf die Schlange. Wir sehen dann nicht die Hände, in die wir unser Schicksal legen könnten. Denn um sie zu sehen, müssten wir ja einen Moment von uns selbst wegblicken. Wir müssten dazu den Blick wegwenden von all dem „Ich“ und „Mir“ und „Mein“ und „Mich“ – hin zu Christus. Und eben das, dieser Wechsel der Blickrichtung, ist Kleppers Rezept. Das ist es, wozu er uns anleiten will. Denn dem in sich verkrümmten Menschen, dem Sünder in uns allen, gilt sein befreiender Ruf: „Sieh nicht an, was du selber bist in deiner Schuld und Schwäche. Sieh den an, der gekommen ist, damit er für dich spreche.“

Man könnte sagen: Klepper empfiehlt uns den Glauben als ein krampflösendes Mittel. Denn er will uns befreien von dem Wahn, Dinge selbst tun zu müssen, die Christus längst für uns getan hat. Was mühst du dich, ruft er uns zu: Was mühst du dich, deine Schuld zu tilgen? Hier ist Christus, der das längst für dich getan hat! Was mühst du dich, deinem Tod zu entrinnen? Hier ist Christus, der den Tod längst für dich überwunden hat! Was mühst du dich, Anerkennung und Liebe zu erringen? Hier ist Christus, der dich längst über alle Maßen liebt! Was mühst du dich, durch Leistung zu beeindrucken? Hier ist Christus, den auch dein Scheitern nicht abschrecken kann! Darum sieh nun endlich weg von dir selbst. Denn alle Nabelschau ist vergeblich. Du kannst dich nicht in dir selbst gründen, kannst nicht von dir selbst leben, kannst dich nicht selbst freisprechen. Und du musst es auch nicht. Denn Christus kann und will das alles für dich tun. Überlässt du dich ihm, so entnimmt er dich dir selbst und gründet dich jenseits deiner selbst auf ein Fundament, das besser ist, als du es jemals legen könntest.

Du darfst dich also loslassen, weil seine Hand dich hält. Du darfst dich selbst vergessen, weil er dich kennt. Du darfst frei werden von dir selbst. Denn er war so frei, sich an dich zu binden im Wort seiner Treue. Darum: „Sieh nicht an, was du selber bist in deiner Schuld und Schwäche. Sieh den an, der gekommen ist, damit er für dich spreche.“ Ich denke, es ist längst deutlich geworden, dass es in Kleppers Gedicht um mehr geht, als bloß um die rechte Feier der Weihnacht. Es geht um den christlichen Glauben überhaupt. Denn christlicher Glaube, das ist nichts anderes als die große Gnade, die einem Menschen zuteil wird, wenn er lernt, von sich selbst abzusehen, und alle seine Aufmerksamkeit auf Christus zu richten. Der Glaube befreit uns von der nutzlosen Fixierung auf uns selbst. Er ist fröhliche Selbstvergessenheit und zugleich Konzentration auf Christus. Eben darum aber ist der Glaube das größte Geschenk, das man sich wünschen kann. Denn wer Christus im Auge behält, der wird nie mehr ohne Trost sein.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: 

Church of Panagia tou Arakos, nave, center bay, drum, wall paintings,

Lagoudera, Cyprus - Prophet Ezekiel, detail of eyes

Winfield, David, CC0, via Wikimedia Commons