Gottes Ehre
Unter Christen ist die „Ehre Gottes“ ein geläufiger Begriff. Aber sind wir mit der Sache wirklich vertraut? Wir feiern zwar unsere Gottesdienste zur Ehre Gottes, wir singen nach dem Psalm „Ehr‘ sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist…“ und singen zum Lobpreis „Ehre sei Gott in der Höhe…“ – aber was damit gemeint ist, scheint mir durchaus nicht so klar. Denn was ist überhaupt „Ehre“ – und was bedeutet es, jemandem „die Ehre zu geben“ oder sie ihm „nicht zu geben“? Heißt das etwa, dass Gott an seiner Ehre etwas fehlte, wenn wir ihm nicht Ehre „geben“? Oder heißt „Gott ehren“ einfach nur anzuerkennen und zuzugeben, dass ihm allein die Ehre gebührt, weil er allein ehrens-wert ist?
Im ersten Falle käme Gottes Ehre erst dadurch zustande, dass die Geschöpfe ihn ehren. Und im zweiten Falle wäre sie eine Gegebenheit, die der Mensch bloß noch zur Kenntnis nimmt. Wer das aber verwirrend findet und zur Klärung in die Bibel schaut, kommt auch nicht gleich weiter, weil er dort für beides Belege findet.
Die Bibel sagt sowohl, dass Gott die Ehre hat, als auch, dass sie ihm zu geben ist. Und eine Alternative scheint das nicht zu sein. Die Bibel appelliert an uns: „gebt unserm Gott allein die Ehre!“, „bringet dar dem Herrn Ehre und Macht!“, „lobsinget zur Ehre seines Namens!“, „eifert für die Ehre Gottes“ und „was ihr auch tut, das tut alles zu Gottes Ehre“, denn „alle Lande sollen seiner Ehre voll werden!“ Selbst die Engel in der Weihnachtsgeschichte singen „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“
Das alles sind Aufforderungen, die den Eindruck erwecken, Gottes Ehre müsse dadurch verwirklicht werden, dass man ihn ehrt. Dem gegenüber stehen aber ebenso viele biblische Worte, die in Gottes Ehre ein Faktum und eine Gegebenheit sehen. Denn er wird nicht, sondern ist „der König der Ehre“ und der „Gott der Ehre“. „Sein ist die Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!“, „alle Lande sind seiner Ehre voll!“, denn „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.“ Wie denn nun, fragt man sich: Ist Gottes Ehre ein zu verwirklichendes Ziel oder eine bereits vollendete Tatsache? Für die Bibel gilt aber beides zugleich, weil Gott künftig überall und von allen die Ehre gegeben werden soll, die ihm schon heute und schon immer zukommt und gebührt. Gottes Ehre ist, auf Gott selbst gesehen, eine Gegebenheit, zu der niemand mehr etwas beitragen muss. Sie wird aber längst nicht von jedem Geschöpf anerkannt und ist insofern einer Steigerung fähig. Gottes Ehre muss nicht hergestellt, aber sie soll anerkannt werden. Und sie bedarf insofern einer Steigerung, als sie heute noch von vielen Menschen verleugnet, verkannt und verlästert wird. Einst aber wird „die Erde voll werden von Erkenntnis der Ehre des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.“ Und dann werden „alle Zungen bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“
Damit könnte man sich auf den ersten Blick zufrieden geben. Doch bleibt noch offen, was Ehre überhaupt ist. Was wird unter Menschen „erkannt“, wenn einer die Ehre des anderen „anerkennt“? Hat das mit Respekt zu tun, mit Würde, mit Ehrfurcht, mit Achtung, mit Leistungen oder Tugenden? Ehren wir jemanden, weil er sich ehr - würdig verhält? Respektieren wir ihn erst, wenn er sich unseren Respekt verdient? Oder achten wir schon seine angeborene Menschenwürde? Es ist so unklar, was Ehre ist und wem sie gebührt, weil die Begriffe Würde, Ehre und Respekt oft gleichgesetzt werden. Ich meine aber, dass man sie besser auseinanderhalten sollte.
Die Würde eines Menschen ist mit seinem Dasein schon (vor-)gegeben und ist in dem Sinne „unantastbar“ und „unverlierbar“, dass Menschenwürde weder durch das unwürdige Verhalten der Person selbst noch durch die menschenunwürdige Behandlung eines Anderen gemindert oder zerstört werden kann. Die Würde des Menschen ist einfach deshalb eine unverlierbare Gegebenheit, weil unser Schöpfer uns wollte, uns zu seinen Ebenbildern bestimmte – und an dieser guten Bestimmung auch da festhält, wo wir sie verfehlen. Menschenwürde ist darum von unserem eigenen Verhalten, von Qualitäten und Leistungen ganz unabhängig.
Doch mit der Ehre verhält es sich da ganz anders. Die Ehre ist vom Verhalten durchaus abhängig, denn die Ehre eines Menschen liegt in der Übereinstimmung seines Verhaltens mit dem von ihm erhobenen Anspruch, mit seinen Werten, seinen Pflichten und den von ihm gegebenen Zusagen. Bei der Ehre geht es um die persönliche Integrität eines Menschen, der hält, was er verspricht, und tut, was er sagt. Denn Ehre ist eine Form der Selbstübereinstimmung, die der Einzelne durch standes- und pflichtgemäßes Verhalten wahren oder durch Fehlverhalten verlieren kann. Ehre ist also keine Gegebenheit wie Menschenwürde, sondern Ehre als persönliche Integrität kann verspielt und wiedergewonnen werden. Sie ist die Übereinstimmung mit den Werten, zu denen man sich bekennt, weshalb auch die Ehre eines ehrlichen Kaufmannes in etwas anderem liegt als die Ehre einer verheirateten Frau, und die soldatische Ehre verschieden ist von der Standesehre eines Arztes.
Ob ein Mensch aber – auf sich selbst gesehen – ehrenhaft lebt und handelt, das ist völlig unabhängig davon, ob der Rest der Welt das anerkennt. Und darum müssen wir nicht nur die Würde von der Ehre unterscheiden, sondern müssen mit dem Respekt noch eine dritte Größe einführen. Denn der äußerlich bezeugte Respekt ist selbst nicht Ehre, sondern ist bloß das positive Urteil über die Ehre des Anderen, dem wir Respekt bekunden. Dem Ehrenhaften gebührt Respekt. Aber seine Ehre wird nicht geringer, wenn andere ihm diesen Respekt versagen. Der Ehrenmann bleibt ein solcher – auch wenn seine Mitmenschen das nicht (an-)erkennen. Und der Ehrlose bleibt ehrlos – auch wenn ihm Schmeichler noch so viele Respekt erweisen. Ehre ist eine innere Verfassung des Einzelnen, der mit Lob nichts hinzugefügt und der mit Schimpf und Verleumdung nichts abgebrochen werden kann. Denn Ehre entsteht nicht aus dem erwiesenen Respekt, sondern umgekehrt: Der Respekt ist die Achtung vor dem ehrenhaften Verhalten eines Menschen, der so behandelt wird, wie es seiner treuen Pflichterfüllung entspricht und zukommt. Und das heißt auch, dass Respekt nicht von jedem eingefordert werden kann, sondern „verdient“ werden muss. Bezeugungen des Respekts sollen das ehrenhafte Verhalten eines Menschen honorieren. Sie können es aber weder ersetzen, wenn es fehlt, noch können sie der Ehre Abbruch tun, wenn sie gegeben ist. Denn die wahre „Ehre“ besteht im anspruchsgemäßen Sein – und nicht in der Anerkennung dieses Seins durch andere (weshalb man seinen Ehrgeiz auch nicht darauf richten sollte, Anerkennung und Lob zu empfangen, sondern nur darauf, der Anerkennung und des Lobes würdig zu sein).
Einer kann in sich viel Ehre haben, auch wenn’s weit und breit niemand bemerkt. Und es kann einer in sich drin ehrlos sein, auch wenn die ganze Welt ihn hofiert und vor ihm buckelt. Wahrhaftiger und gerechter ist es aber natürlich, wenn der, dem Ehre gebührt, auch Ehre empfängt. Gerecht geht es nur dort zu, wo man anerkennt, was Anerkennung verdient, und dementsprechend das Hohe hoch und das Geringe gering schätzen. Und eben darauf zielen die biblischen Appelle, die wir eingangs genannt haben. Erinnern Sie sich? Wir hatten uns gewundert, dass die Ehre Gottes einerseits als Gegebenheit erschien und andererseits als ein zu verwirklichendes Ziel. Doch dürfte nun klar sein, dass im ersten Fall Gottes innere Ehre gemeint ist, und im zweiten der ihm äußerlich gebührende Respekt. Die Ehre als Selbstübereinstimmung und Integrität der Person, steht bei Gott völlig außer Frage, weil Gott sagt, was er denkt, tut, was er sagt, und hält, was er verspricht. Gott handelt stets in vollendeter Treue zu seinem Bund und seinen Verheißungen und bleibt niemandem etwas schuldig. Gott kennt weder Heuchelei noch Versagen – und also auch kein Abweichen von Sein und Schein, Pflicht und Wirklichkeit. Gott ist der Inbegriff der Ehre!
Nur: Wo bleibt der Respekt, der einem solchen Maß von Ehre entspräche? Dieser Respekt, diese Anerkennung ist genau das, was diese Welt ihrem Schöpfer schuldig bleibt, weil Kleinglaube, Irrglaube und Unglaube Gott nicht die Ehre geben, die ihm gebührt, sondern die Güter dieser Welt höher schätzen als den Geber. Groß ist die Zahl derer, die Gott in ihrem Leben nicht wirklich Gott sein lassen, die gegen ihn murren und Argwohn hegen. Groß ist die Zahl derer, die Gott samt seiner Gebote und Verheißungen ignorieren, seiner spotten und lästern. Groß ist die Zahl derer, die sich selbst zuschreiben und zugutehalten, was Gott ihnen großzügig geschenkt hat. Und insofern geht es Gott wie einem Menschen, der zwar völlig integer ist, gerecht und treu, dem aber die dafür gebührende Achtung versagt bleibt.
Das bedeutet natürlich nicht, dass an Gottes innerer Ehre etwas fehlte! Er ist nicht weniger des Lobes und der Ehrfurcht wert, weil blinde Menschen das nicht sehen. Aber uns Menschen fehlt etwas an Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Klarsicht, wenn wir – an der falschen Stelle jubelnd und an der falschen Stelle verachtend – Hohes und Niedriges durcheinanderbringen. Wer die Güter dieser Erde höher achtet als den Schöpfer, der sie gegeben hat, wer mehr auf sich selbst vertraut als auf den Allmächtigen und das Gerede der Mitmenschen mehr fürchtet als das Urteil Gottes, der irrt nicht bloß, sondern er lebt auch verkehrt. Und wenn er dann, statt Gott zu ehren und seinen Namen zu heiligen, lästerlich redet, dann sind die Konsequenzen keineswegs harmlos. Denn Gott lässt seiner nicht spotten. Der Heilige ist nicht für jeden Spaß zu haben. Und wer meint, er müsste auf Gottes Kosten Witze machen, wird einmal von Gott selbst eine passende Antwort bekommen! Doch wenn jemand meint der Ehre Gottes zu dienen, indem er die unter Druck setzt, die sie nicht respektieren, ist das genauso falsch. Denn aus dem Gesagten ergibt sich ja, dass Gewalt in diesen Dingen nichts erzwingen kann.
Wahre Ehrfurcht kann nur aus der inneren Einsicht folgen, dass Gott alle Ehre gebührt. Und zu solcher Einsicht hilft kein Zwang, sondern nur Gottes Geist. Wollen wir aber den biblischen Appell aufgreifen und für die Ehre Gottes eintreten, so tun wir das am besten durch ein Zeugnis des Geistes und der Kraft, indem wir uns selbst von aller Lästerung frei halten und darauf achten, an der richtigen Stelle zu lachen. Ja, wir können Gottes Ehre bezeugen in Wort und Tat! Oder war es nicht früher ein großes Lob, wenn man sagte, der und der sei ein „gottesfürchtiger“ Mann und er führe mit seiner Frau ein „gottgefälliges“ Leben? Mögen diese Begriffe auch veraltet sein, so ist es die Sache doch nicht. Denn unser vorrangiges Interesse sollte nicht sein, dass unser Name gerühmt und geheiligt werde, sondern dass Gottes Name geheiligt werde. Gottes Ansehen sollte uns viel mehr beschäftigen als unser eigenes. Und abschätziges Reden von Gott sollte uns härter treffen als Beleidigungen gegen unsere eigene Person. Es sollte uns eine Herzensangelegenheit sein, dass Menschen so gut von Gott denken, wie es seiner tatsächlichen Güte entspricht!
Und doch trifft man das selten. Denn wenn man sich mit Menschen unterhält, hört man sie öfter ihr eigenes Lob singen als das Lob Gottes. Oder irre ich mich? Ist einer gesund, so dankt er nicht Gott, sondern sagt, er habe ja auch fleißig Sport getrieben und auf seine Ernährung geachtet. Hat’s einer zu Wohlstand gebracht, so lobt er nicht Gott, sondern brüstet sich, dass er ja auch tüchtiger war als andere. Und geraten ihm seine Kinder, so preist er nicht Gott, sondern meint, es läge an seiner hervorragenden Erziehung…
Wahrlich, viele von uns sind gut gestellt und gut versorgt, haben ihr Haus und ihr Auskommen – und es sei jedem einzelnen von Herzen gegönnt! Aber dass so viele meinen, sie verdankten sich das selbst, statt Gott die Ehre zu geben – das ist nicht in Ordnung. Denn was haben wir denn, das wir nicht von ihm empfangen hätten? Gott allein ist die Quelle des Guten! Keiner ist gut als er allein! Er beschenkt uns reichlich mit unverdientem Segen. Und es wäre darum nur recht und billig, alles Lob an ihn weiterzuleiten und jeden auf ihn zu verweisen.
Sagt einer „Sie haben aber tolle Kinder!“, kann man antworten „Ja, die hat mir Gott geschenkt!“ Sagt einer „Sie leisten aber viel!“, sollte man antworten „Ja, Gott ist so freundlich, mir die nötige Kraft zu geben!“ Sagt einer „Sie sind aber rüstig für ihr Alter!“, kann man antworten „Ja, Gott hat mich gut behütet und bewahrt!“ Das wäre nur recht und billig! Denn wenn ich ein schönes Bild bewundere, verdient ja auch nicht die Leinwand das Lob, sondern der Maler. Und wenn mir ein Brot schmeckt, habe ich nicht Hochachtung vor dem Mehl, sondern vor dem Bäcker. Gefällt mir Musik, so danke ich nicht dem Instrument, sondern dem Musiker. Und für ein schönes Möbelstück preise ich nicht die Säge, sondern den Schreiner. Wär’s da nicht gerecht, mit Gott genauso zu verfahren und – derselben Logik folgend – nicht die Kreaturen zu loben und diese wundervolle Welt, sondern den Schöpfer, der sie so meisterhaft und schön gemacht hat? Es wäre ganz einfach, es wäre nur gerecht und wahrhaftig, Gott die Ehre zu geben! Darum lassen sie uns nicht länger zögern, sondern lieber in unserem Reden, Denken und Tun das realisieren, was wir so oft singen: „Ehr‘ sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist!“
Bild am Seitenanfang: Rex (1909)
Mikalojus Konstantinas Čiurlionis, Public domain, via Wikimedia Commons