Der Sinn des Lebens
Wozu sind wir da?
Manchmal kommt einem das Leben vor wie eine lange Fahrt auf dem Karussell. Die ersten Runden, die man als Kind gedreht hat, waren aufregend, und jeder Tag brachte neue Sensationen. Aber wenn man älter wird, kennt man’s langsam und fragt sich, ob noch Überraschungen zu erwarten sind. Wir sind noch ein Jahr dabei, und noch eins – und nicht alles sieht nach Fortschritt aus, denn das Jahreskarussell bringt einen ja nicht wirklich weiter, sondern immer nur im Kreis der Monate herum zum nächsten 1. Januar.
Was soll also die rasende Fahrt, wenn wir dabei nur älter werden – und nicht unbedingt besser? Bewältigen wir Tag für Tag bloß weil uns keine Alternative einfällt? Oder halten wir uns an unserem Platz für unentbehrlich? Machen wir weiter, weil’s immer wieder lustig ist – oder einfach, weil wir (wie die Tiere) darauf gepolt sind, unser Leben instinktiv zu erhalten? Geben wir uns Mühe alles am Laufen zu halten, weil auch ein sorgenvolles Leben immer noch reizvoller scheint als der Tod? Oder bleiben wir nur im Spiel, weil wir die Tür nicht finden?
Vielleicht klingt es hart: Aber manche Menschen machen nicht weiter, weil sie in ihrem Leben Sinn sehen, sondern einfach nur, weil sie nun mal da sind, weil das Weitermachen am einfachsten ist, weil es scheinbar keiner Begründung bedarf und weil die Anderen es ja auch tun.
Manche gehen ihren Weg nur aus Gewohnheit weiter – und weil beim Stehenbleiben allzu offenkundig würde, dass man gar kein Ziel hat. Vorsichtshalber fragen sie nicht nach dem Sinn des Ganzen und ob sich’s „lohnt“. Und doch spürt wohl jeder, dass der Mensch Ziele braucht und tief drinnen wissen will, wofür er da ist! Denn man erträgt so mancherlei, wenn man weiß wozu. Man ertrüge aber sein Leben nur schwer, wenn man nicht glauben dürfte, dass es zu etwas gut ist! Und darum versuchen viele, sich immer neu zu motivieren, indem sie den tieferen Sinn, den sie vermissen, ihrem Leben verleihen wollen, und versuchen wichtig zu werden, indem sie sich wichtig machen.
Je mehr sie daran zweifeln, umso lauter betonen sie, dass sie gebraucht werden – von der Firma, vom Verein oder von der Familie. Sie sprechen gern davon, dass es ohne sie nicht ginge, weil’s das ist, was sie glauben möchten. Und dann versuchen sie, sich dem Dienst einer möglichst bedeutenden Sache zu widmen, damit auch ihr Leben dadurch Bedeutung gewinne. Ihr Dasein soll dadurch gerechtfertigt sein, dass der Betrieb sie braucht, dass die Familie von ihnen abhängt, der Hund – oder wenigstens der Garten. Ein Teil der Welt soll auf ihren Schultern ruhen! Denn wenn ich zu etwas gut bin, wie könnte ich dann nicht „gut“ sein? Es sichert mir meinen Platz in der Welt, wenn ihn kein anderer auszufüllen vermag. Und darum ist es so beruhigend, gebraucht zu werden.
Doch ich meine, dass in alledem viel Selbstbetrug enthalten ist, und dass er sogar mangelnden Glauben verrät. Denn hinter dem Versuch, die eigene Existenz durch Fleiß zu begründen und zu rechtfertigen, steht ja die Überzeugung, dass es sonst keiner täte. Es steht dahinter die Meinung, mein Leben hätte keinen Sinn, wenn ich ihm keinen gäbe. Und das ist nichts anderes als Unglaube und Gottvergessenheit. Denn wenn ein Mensch wirklich glaubt, dass Gott ihn geschaffen und gewollt hat – warum sollte der noch nach anderen Gründen suchen, die ihn zur Existenz berechtigen?
Wollen wir wirklich durch Tüchtigkeit beweisen, dass wir „verdientermaßen“ leben, obwohl Gott uns das Leben doch einfach geschenkt hat? Machen wir uns „nützlich“, um den uns drohenden Tod durch Leistung ins Unrecht zu setzen? Will der Fleißige der Welt beweisen, dass er mehr als der Faule zu leben verdient? Laden wir Lasten auf unsere Schultern, um uns und anderen zu zeigen wie wichtig wir sind? Wäre es so, so gerieten wir jedenfalls auf eine ganz schiefe Bahn und würden uns mit solchen Versuchen der Sinnstiftung selbst überfordern. Denn wirklich sinnvoll ist nur das Tun, bei dem Aufwand und Ergebnis in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Wenn der Aufwand aber mein gesamtes Leben ist – welches Ergebnis könnte ich dann zuwege bringen, das diesen Aufwand rechtfertigt?
Welcher Ertrag meines Daseins wäre so dauerhaft und so großartig, dass es sich um seinetwillen gelohnt hätte? Ist es nicht so, dass aus dem Aufwand meines Lebens in erster Linie mein Tod resultiert? Und: Kann ich überhaupt sicher sein, dass ich der Welt aufs Ganze gesehen mehr genutzt als geschadet habe? Wer wagte denn zu behaupten, er sei auf der Welt, weil der Welt sonst etwas gefehlt hätte? Und wer wagte zu behaupten, die Fürsorge Gottes, die Liebe seiner Eltern und die Mühe seiner Lehrer habe sich gelohnt? Kein Mensch kann sicher sein, dass das, was ihm wichtig schien, auch wichtig war! Und schon darum sind menschliche Schultern prinzipiell zu schmal, als dass sie die Last der Sinnstiftung tragen könnten. Der Versuch, das eigene Dasein durch Leistungen zu rechtfertigen, scheitert bei allen, die ihn unternehmen. Denn in Wahrheit sind wir nicht nötig, sondern könnten durchaus fehlen – ohne dass dadurch in der Welt ein Widerspruch oder eine Lücke entstünde. Wo das einer aber nicht glauben mag, da erbringt sein Tod recht bald den Nachweis. Denn das Dasein des Einzelnen hinterlässt keine langfristigen Spuren. Und auch Gottes Pläne gelingen ohne unsere Mitwirkung.
Der Versuch, in aktiver Selbstbegründung das eigene Dasein durch seinen Nutzen zu rechtfertigen, scheitert darum – und soll auch scheitern. Denn in Wahrheit ist der Sinn unseres Lebens nie unsere Tat, sondern ist und bleibt eine Vorgabe des Schöpfers. Der will uns, bejaht uns und legitimiert unser Dasein nicht etwa, weil wir für ihn unersetzlich wären, sondern tut’s einfach so in göttlicher Freiheit und Freundlichkeit. Und schon allein, weil’s Gottes Wille ist, ist unser Dasein wertvoll und der damit verbundene Aufwand sinnvoll. All unser „wozu?“ und „wofür?“, „was bringt’s?“ und „was soll’s?“ findet darin seine Antwort! Denn unser Dasein geht auf einen göttlichen Wunsch und Befehl zurück, dessen Erfüllung dem Entstandenen seinen Sinn vorgibt.
Oder ist es bei den Dingen, die wir Menschen herstellen, nicht genauso? Man baut einen Stuhl, um darauf zu sitzen, und einen Kugelschreiber, um damit zu schreiben. Der Erfinder und Schöpfer einer Sache gibt ihr die Form, die sie haben muss, um eine durch seinen Willen vorgegebene Bestimmung zu erfüllen und den von ihm beabsichtigten Zweck zu erreichen. Da der Mensch nun aber nicht sein eigener Schöpfer, sondern ein Geschöpf Gottes ist, ist ihm (genau wie dem Stuhl oder dem Kugelschreiber) seine Bestimmung vorgegeben, die sich aus dem Willen Gottes ergibt. Denn der Daseinszweck des Menschen ist, als Gottes Ebenbild und geschöpfliche Entsprechung mit Gott in Gemeinschaft zu sein. Und diese Gemeinschaft mit dem Menschen will Gott nicht um eines Zweckes willen, der jenseits dieser Gemeinschaft läge, sondern will sie um ihrer selbst willen.
Diese Gemeinschaft „bringt’s“, dazu sind wir „gut“, das ist unser „wofür“, darum „lohnt“ unser Leben! Und eine schlagendere Antwort, eine bessere Rechtfertigung als dass Gott uns wollte, hätte keiner jemals beibringen können. Denn keiner von uns wäre wichtig, wenn er Gott nicht wichtig wäre. Unser Dasein entspringt keiner Forderung der Vernunft, keiner Kosten-Nutzen-Rechnung und keiner höheren Notwendigkeit, sondern wir sind bloß da, weil Gott es in seiner Freiheit so will und uns zur Gemeinschaft mit ihm geschaffen hat. Wir könnten unserem Dasein keinen Sinn verleihen, wenn es nicht von Anfang an diesen Sinn hätte.
Dass diese Vorgabe aber von unseren Qualitäten und Verdiensten ganz unabhängig ist, muss uns nicht kränken, sondern ist in Wahrheit eine gute Nachricht, die uns sehr entlastet. Denn so muss unsere Existenz nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass wir toll, tüchtig oder einmalig wären, sondern ist (auch bei uns Durchschnittsmenschen!) vollauf gerechtfertigt, begründet und legitimiert durch den freien Willen und Beschluss des Schöpfers. Jeder von uns ist nur ein klitzekleiner Teil seines großen göttlichen Planes! Aber das reicht. Denn wer den kleinsten Teil dieses Planes in Frage stellen wollte, müsste mit dem Allmächtigen Streit anfangen, der ihn entworfen hat. Und weil das keiner wagen darf, sind wir in der glücklichen Lage, dass ich meine Existenz nicht vor Ihnen rechtfertigen muss, und Sie müssen es nicht vor mir. Keiner von uns lebt, weil er nützlich und brauchbar wäre als Mittel für die Zwecke der Anderen, sondern jeder von uns ist Selbst-Zweck! Ohne dass wir uns anstrengen müssten, ist der Aufwand unseres Lebens schon gerechtfertigt, denn dass ein Mensch da ist, beweist, dass er von Gott vorgesehen war!
Wenn das aber feststeht, wäre es da nicht sehr überheblich, wenn einer nachträglich beweisen wollte, dass Gott gut daran tat, ihn zu erschaffen? Macht einer sich wichtig, um nachträglich zu beweisen, dass sich seine Geburt gelohnt hat? Das wäre sehr lächerlich! Denn wir sind alle bloß da, weil es Gott so gefällt und er (seltsamer Weise) Freude an uns hat! Er hat uns alle „gratis“ geschaffen und keineswegs, weil er so „tüchtige“ Leute wie uns gebraucht hätte! Er liebt uns nicht, weil „wir’s bringen“, sondern obwohl wir’s „nicht bringen“. Eben das aber verleiht uns besondere Würde, dass wir auf allerhöchsten Wunsch und Befehl auf Erden sind. Denn eine höhere Legitimation kann es nicht geben.
Die Frage, ob einer fürs Getriebe dieser Welt nützlich oder überflüssig sei, hat sich damit erledigt. Und auch das ganze Gerede, der Mensch müsse seinem Leben Sinn „geben“ oder Sinn „verleihen“, erweist sich als irreführend und im Wortsinne „gott-los“, weil es den Gott ignoriert, der allein Sinn zu stiften vermag. Lebenssinn ist nicht unsere Tat, sondern ist eine Gegebenheit in dem wörtlichen Sinne, dass er uns vor-gegeben ist. Für Christen bedeutet Sinnstreben darum nur, den Sinn zu entdecken, den unser Leben von Gott her schon hat. Wollte Gott aber die Gemeinschaft mit dem Menschen – was wäre dann sinnvoller, als diese Gemeinschaft zu leben und das eigene Dasein genau dafür zu nutzen?
Vielleicht lebe ich diese Gemeinschaft als fleißiger Arbeiter oder als duldsamer Kranker, vielleicht trage ich vor Gott die Lasten des Alters oder freue mich vor Gott an den Freuden der Jugend. Wie sich das konkretisiert ist so bunt-verschieden, wie wir selbst bunt und verschieden sind. Aber an seinem Lebenssinn zweifeln oder verzweifeln muss keiner. Denn wer wollte Gott unterstellen, er hätte auch nur einen einzigen Menschen „für nichts“ geschaffen, hätte es planlos oder grundlos getan? Anzunehmen, Gott habe sich bei der Erschaffung irgendeines Wesens nichts gedacht, wäre gelinde gesagt eine Frechheit. Denn solange Gott einen Menschen leben lässt, hat sein Leben Sinn. Und hätte es in Gottes Augen wirklich keinen, so lebte der Mensch nicht. Wenn damit aber feststeht, dass unser aller Leben Sinn hat, und auch worin er liegt (dass wir nämlich in die Gemeinschaft mit Gott immer weiter hineinwachsen), warum kommt uns dann im Leben so vieles sinnlos vor?
Ich meine, es liegt nur daran, dass wir bei der Bewertung der Dinge allein auf unsere menschlichen Pläne starren – und nicht auf Gottes Plan. Wir messen alles an unseren eigenen Zielen, und wenn die nicht erreichbar sind, scheint uns alles vergeblich. Wenn der Gefangene nicht fliehen kann und der Kranke nicht gesundet, wenn der Schwache nicht siegen kann und der Verliebte abgewiesen wird, dann erreichen sie ihre selbstgesetzten Ziele nicht, und mit ihren Plänen scheitert gewiss auch der Sinn, den sie ihrem Dasein zu geben gedachten!
Aber wer sagt denn, dass es auf die menschlichen Pläne und Ziele ankäme? Wirklich sinnlos wäre unser Dasein nur, wenn Gott nichts mehr mit uns vorhätte. Doch der Weg zu ihm steht immer offen. Und der Lebenssinn, der sich aus Gottes Plan ergibt, kann darum in jeder Lage ergriffen werden, weil Gott in jeder Lage erreichbar bleibt. Es gibt keine Umstände, die die Gemeinschaft mit Gott unmöglich machten. Wenn jemand also meint, er könne nicht sinnerfüllt leben, weil er zu krank sei, zu schwach, zu gelähmt, zu deprimiert, zu arm, zu schlecht oder zu dumm – dann irrt er. Denn wenn er seine Schwäche nur herzlich vor Gott beklagt und sein Unvermögen Gott vor die Füße legt, dann hat er in dieser Sekunde mehr Sinnvolles getan als andere in zehn Jahren – und hat sein Leben aufs Beste genutzt!
Unter allen Umständen und in jeder Lage kann man sinnerfüllt leben, weil es nicht die Umstände sind, die uns dazu Gelegenheit geben müssten, sondern weil es Gott ist, der uns diese Gelegenheit jederzeit gibt. Der Arbeiter kann Gott seine Arbeit widmen, der Rentner seine Ruhe, der Sieger seinen Sieg, und der Narr sogar seine Narrheiten. Jeder kann sein Tun und Lassen auf Gott hin orientieren – und es wird eben darum sinnvoll sein. Denn auch wenn ein Mensch krank auf dem Rücken liegt und für jeden Handgriff Hilfe braucht – und er duldet das vor Gott –, so verwirklicht er darin seine menschliche Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott. Und vielleicht gibt es weit und breit kein sinnvolleres und wichtigeres Werk, als die Geduld dieses Kranken!
Lässt Gott mich auf der Stelle treten, so ist es der Sinn meines Lebens, geduldig vor Gott auf der Stelle zu treten. Und gibt Gott mir Gelegenheit Neues zu wagen, so ist es der Sinn meines Lebens, vor Gottes Angesicht Neues zu wagen. Dass aber keine Gelegenheit wäre, etwas Sinnvolles zu tun, das ist ausgeschlossen, weil man, was auch immer, mit Bewusstsein vor Gott tun kann, es zur Ehre Gottes tun kann – und es dann garantiert sinnvoll ist, weil sich darin die Gemeinschaft mit Gott verwirklicht, zu der wir geschaffen sind.
Mag unser Alltag banal sein oder großartig, fröhlich oder schmerzvoll, langweilig oder spannend: Was immer wir tun, kann sinnerfüllt und befriedigend sein, wenn wir‘s nur von Gott annehmen und ihm widmen. Denn von ihm her und auf ihn hin zu leben, ist der Zweck unseres Daseins, der nicht nur unter glücklichen Umständen erreicht werden kann, sondern unter allen Umständen.
Wenn wir das nächste Jahr noch erleben, hat das keinen anderen Grund, als dass Gott die Gemeinschaft mit uns immer noch will. Und einen anderen Sinn könnten wir unseren Jahren auch gar nicht geben. Den Sinn aber, den sie von Gott her schon haben, den können wir bewusst leben – und werden am Schluss sagen: „Das hat’s gebracht!“ Denn wenn unsere Jahre einmal enden, geht unsere zeitliche Gemeinschaft mit Gott ja nur in die ewige Gemeinschaft über, und der Aufwand unseres Lebens wird sich dann tausendfach gelohnt haben, weil Gott selbst unser Lohn ist.
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