Entschuldigung
Ich möchte sie bitten, sich innerlich in einen Kindergarten zu versetzen und dort eine Szene zu betrachten, wie sie täglich tausendmal vorkommt, wenn Kinder in Streit geraten: Nehmen wir an, der kleine Max hat seinen Freund Tom beim Spielen im Sandkasten angerempelt, Tom aber fasst das als gemeinen Angriff auf, nimmt sein Schippchen und haut es Max auf den Kopf. Was passiert? Natürlich spürt Max einen plötzlichen Schmerz und heult lauthals drauflos, so dass die Erzieherin am anderen Ende des Gartens ihre Kaffeetasse wegstellen muss, um der Sache nachzugehen. Sie verarztet den Max und klebt ihm zum Trost ein Pflaster auf seine Beule. Nebenbei aber schimpft sie mit Tom und erklärt ihm, dass Gewalt in diesem Kindergarten nicht geduldet wird.
Tom sieht das nicht wirklich ein, denn Max hat ihn ja zuerst gerempelt. Aber das will die Erzieherin gar nicht wissen, sondern will vor allem, dass die beiden sich wieder vertragen. Um den Fall abzuschließen und Versöhnung herzustellen, fordert sie Tom auf, dem Max die Hand zu geben und sich bei ihm zu entschuldigen. Die Erzieherin hat das so gelernt und hält es für pädagogisch wertvoll. Sie besteht darauf, dass der Missetäter sich entschuldigt. Tom sträubt sich zwar dagegen, weil er sich doch nur gewehrt hat (seiner Meinung nach war Max selber schuld), aber natürlich weiß Tom, dass die Erzieherin keine Ruhe geben wird bevor er „Entschuldigung“ gesagt hat – und so presst er das Wort wiederwillig durch die Zähne.
Ein Blinder kann sehen, dass er es nicht so meint, und das tränenverschmierte Gesicht von Max hellt sich darum auch gar nicht auf. Er will das nämlich gar nicht „entschuldigen“, wofür sich Tom entschuldigt, sondern will viel lieber zurückschlagen: Max will Rache! Aber auch er kennt das Schauspiel, das die Erzieherin von den beiden verlangt. Darum nimmt er widerwillig die Hand, die Tom ihm ebenso widerwillig reicht, und hört wie die Erzieherin verkündet, nun sei also wieder alles in Ordnung. Das findet Max nun gar nicht, sondern erklärt, der Tom sei nie wieder sein Freund. Er merkt aber sofort, dass diese Äußerung ein Fehler war, denn nun wird Max zurechtgewiesen und bekommt zu hören, dass der Tom sich schließlich entschuldigt habe, und dass Max nach dieser Entschuldigung kein Recht mehr habe, dem Tom böse zu sein, sondern ihm gefälligst vergeben solle. Denn Sich-Entschuldigen sei artig, es habe dem Tom Leid getan, und Vergebung sei außerdem christlich…
Für die Erzieherin ist die Sache damit erledigt. Aber meinen sie, dass Max und Tom aus dieser Affäre irgendetwas Vernünftiges gelernt haben? Hat da etwa Vergebung stattgefunden, oder wurde nicht viel eher der Weg zu echter Vergebung verbaut? Wurde ein Konflikt bewältigt, oder wurden nicht viel eher zwei Kinder zur Heuchelei erzogen? Hat sich hier jemand entschuldigt, oder wurde er durch den Zwang, sich entschuldigen zu müssen, gedemütigt, gestraft und verbogen? Ich selbst erinnere mich an wenig, aber das weiß ich noch sehr lebendig, dass ich es als Kind gehasst habe, wenn ich zu einer Entschuldigung genötigt wurde, wo ich mich nicht schuldig fühlte, oder mich vertragen sollte, wo ich es gar nicht wollte. Erzwungene Versöhnung war mir immer ein Graus. Und inzwischen weiß ich, dass das nicht bloß Trotz war, sondern auch ein gesunder Instinkt. Denn, um es mit einem Wort zu sagen: Der Mensch kann sich gar nicht „ent-schuldigen“. Ich weiß, dass ich damit der gängigen Praxis widerspreche und auch dem Sprachgebrauch: Denn man platz irgendwo hinein und ruft „Tschuldigung!“ Man drängelt sich durch und sagt „Tschuldigung!“, „Sie müssen schon entschuldigen – ich bin spät dran!“ Und wenn dann einer grummelt, heißt es „was wollen Sie denn, ich hab‘ mich doch entschuldigt!“
Das alles ist üblich. Und doch ist es grober Unfug. Denn der Mensch kann sich gar nicht „ent-schuldigen“, sondern nur der, dem er etwas getan hat, kann ihn ent-schuldigen, wenn er das will. Sich ent-schuldigen hat nicht denselben Sinn, wie sich ent-kleiden. Denn ent-kleiden, kann sich jeder selbst. Er legt seine Kleider ab und ist sie damit los. Aber sich ent-schuldigen kann nicht in demselben Sinne bedeuten, dass einer seine Schuld ablegt wie eine Jacke und sie dann los ist. Sondern ent-schuldigen (= mir die Schuld abnehmen) kann nur der Andere, demgegenüber ich Schuld auf mich geladen habe. Der korrekte deutsche Ausdruck heißt darum auch nicht (aktiv) „ich entschuldige mich“, sondern (passiv) „ich bitte um Entschuldigung“. Und wie das bei Bitten immer ist, kann der Geschädigte mir diese Bitte gewähren, wenn er meinen Wunsch für aufrichtig hält, er kann es aber auch lassen. Und dann bin ich, trotz meiner Entschuldigung, nicht ent-schuldigt. Nur der andere kann mich von der Schuld befreien, von der ich selbst mich nicht loszusprechen vermag. Dass ich ihn aber aufrichtig darum bitte, setzt unbedingt voraus, dass ich meine Schuld auch wirklich als Schuld erkenne, sie eingestehe und bereue. Denn wenn mir mein Verhalten gar nicht Leid tut, weil ich es für angemessen halte, werde ich mein Tun nicht bereuen und müsste wohl herzlich über den lachen, der mir als Schuld vergeben wollte, was gar nicht Schuld ist, sondern bloß mein gutes Recht! Wirkliche Versöhnung, wirkliche Entschuldigung und Vergebung setzt darum einerseits die Einsicht und Reue des Täters voraus und andererseits die freie Einwilligung dessen, der geschädigt wurde. Wenn aber eins von beidem nicht gegeben ist, wie könnte man es dann erzwingen?
Die eingangs geschilderte Szene im Kindergarten erweist sich als doppelt absurd: Denn Tom, der Täter mit dem Schippchen, kann sich selbst gar nicht entschuldigen. Er könnte von Max nur Entschuldigung erbitten, wenn ihm der Schlag Leid täte. Wenn Tom sich aber gar nicht im Unrecht sieht, sondern meint im Recht zu sein, warum soll er dann Reue simulieren, die er nicht fühlt? Die Erzieherin zwingt ihn zur Heuchelei! Und als wäre das nicht schlimm genug, zwingt sie auch noch den geschädigten Max, Versöhnungsbereitschaft zu heucheln, obwohl es ihm als dem Geschädigten frei stünde, Ent-schuldigung zu gewähren – oder auch nicht. Tom und Max wissen instinktiv viel mehr über Schuld und Vergebung als die Erzieherin, die sie zwingt einander die Hand zu reichen. Sie wissen, dass keiner entschuldigt werden kann, der sich nicht schuldig fühlt, und dass auch keiner den anderen entschuldigen muss, wenn er nicht will. Doch dieses Wissen ist unserer Gesellschaft auf breiter Front verloren gegangen. Und dieser Verlust wiegt im religiösen Bereich noch schwerer als im zwischenmenschlichen. Denn wie kein Mensch sich bei einem anderen ent-schuldigen kann, sondern vom andern ent-schuldigt werden muss, so ist es auch und erst recht bei Gott.
Und auch ihm gegenüber wird diese Wahrheit ignoriert. Denn auch bei ihm laufen die Leute vorbei und rufen mal kurz: „Tschuldigung, war nicht so gemeint!“, „Du musst schon entschuldigen, lieber Gott, ich bin in Eile!“. Aber Gott muss gar nichts ent-schuldigen. Und er wird es auch nicht tun, wenn er keine echte Reue sieht. Was uns gar nicht Leid tut, will und kann er uns nicht vergeben. Denn schließlich ist Gottes Vergebung kein Pauschalangebot, dass man mal eben mitnimmt. Gott vergibt nicht „automatisch“ oder „aus Gewohnheit“, sondern er vergibt die konkrete Schuld, die wir ihm gestehen. Er nimmt uns die Last unsere Sünde, wenn wir zu ihm kommen, um diese Last bei ihm loszuwerden. Wenn uns diese Last aber gar nicht drückt, und wir sie auch gar nicht zu ihm bringen, sondern unsere Sünde als liebe Gewohnheit behalten wollen – wie könnte er sie uns dann nehmen?
Kann denn ein Ehebrecher damit rechnen, dass ihm seine Frau verzeiht, wenn er gar nicht die Absicht hat, mit dem Ehebrechen aufzuhören? Kann ein Betrüger damit rechnen, dass man ihm verzeiht, wenn er das Diebesgut nicht einmal zurückgeben will? Nein: Der uneinsichtige Täter kann weder vor Gott noch vor den Menschen mit Nachsicht rechnen. Und es wäre noch nicht einmal gut, wenn ihm Nachsicht zuteil würde. Denn der Uneinsichtige würde daraus ja nur schließen, dass sein Tun nicht so schlimm sei. Vorschnelle Vergebung an der falschen Stelle wird ihn nur ermutigen, sein Fehlverhalten fortzuführen. Denn die Nachsicht und Milde, die dem Sünder gelten soll, wird dann missverstanden als Nachsicht oder Toleranz gegenüber der Sünde. Und die kann und soll es weder bei Gott noch bei den Menschen geben. Denn Gott, wenn er einem Menschen die Hand zur Versöhnung reicht, versöhnt sich ja auch nicht mit dessen bösen Taten, sondern versöhnt sich nur mit der Person des Täters. Unser guter Gott wird sich nie anfreunden mit der bösen Tat. Aber er ist bereit, den Täter von seiner Tat zu unterscheiden, die Tat zu verwerfen und den Täter anzunehmen, wenn der Täter selbst diese Unterscheidung mitvollzieht und seine eigene Tat auch verwirft. Genau das tut man ja, wenn man etwas bereut, dass man sich nämlich innerlich distanziert von der eigenen Sünde! Will ich das aber nicht, weil’s mir gar nicht leid tut und ich genau so weiter machen will, wie könnte ich dann ernsthaft um Vergebung bitten, und wie könnte Gott mir die Last meiner Sünde abnehmen, von der ich doch gar nicht lassen will? Wie kann Gott den Sünder von seiner Sünde trennen, wenn der Sünder selbst an ihr festhält? Sollte sich der gute und heilige Gott etwa mit der Sünde versöhnen? Das ist nun wahrlich zu viel verlangt! Darum gibt es bei Gott keine Vergebung ohne Reue, und es kann sie auch unter Menschen nicht geben. Genau wie der Frieden nur hält, wo er auf Gerechtigkeit gründet, gibt es Versöhnung nur auf der Grundlage der Wahrheit. Sich zu entschuldigen, kann daher keine Floskel sein, keine höfliche Gewohnheit und kein pädagogischer Zwangsakt. Und Entschuldigung zu gewähren, kann genauso wenig selbstverständlich sein. Denn Verzeihung kann man erbitten, aber man kann sie auch mit vielen Bitten nicht erzwingen oder einen Anspruch darauf erwerben. Wenn der andere mir Verzeihung nicht schenkt, ist mir auch nicht verziehen, und wenn er mich nicht ent-schuldigt, bin ich die Schuld auch nicht los. Es liegt in der Freiheit des Anderen, diese Last von mir zu nehmen oder auch nicht. Wenn ich das aber merke und darüber erschrecke, sollte ich dann nicht meinerseits freudig bereit sein, anderen das zu gewähren, dessen ich selbst so dringend bedarf? Sollte ich nicht eilen, meinen Schuldigern zu vergeben, weil ich doch hoffe, dass auch mir vergeben wird?
Wahrlich, wo wir Fehler gemacht haben, sollten wir viel bereitwilliger sein sie zu gestehen, und wo uns ein anderer seine Fehler ehrlich gesteht, sollten wir keine Sekunde zögern, sie von Herzen zu verzeihen. Denn nichts vergiftet unsere Gesellschaft so sehr, nichts vergiftet die Familien so sehr, wie die unausgesprochene Schuld und die unvergebenen Kränkungen. Da ist eine giftige Atmosphäre um uns her, voller Heimlichkeit und unausgesprochener Vorwürfe, voller Rachegefühle und Schuldzuweisungen. Wir schaden uns selbst, indem wir diese Dinge unter den Teppich kehren, statt sie christlich und wahrhaftig zu bereinigen. Allzu oft spielen wir Versöhnung ohne sie zu vollziehen. Unsere Heilung aber wird erst dann Fortschritte machen, wenn wir beginnen es Gott nachzutun, wenn wir unbedingt wahrhaftig sind mit uns und den Anderen und dann beginnen, die Person des Sünders von seiner Sünde zu unterscheiden, und den Menschen annehmen, auch wenn sein Tun unannehmbar ist und bleibt. Die falsche Nachsicht und Toleranz ist dabei der Feind der wahren Nachsicht, und gespieltes Verzeihen verhindert echtes Verzeihen. Dass wir aber an Gottes Beispiel lernen, wie man das eine vom anderen trennt, und dadurch Spezialisten der Vergebung werden, wie er einer ist – das sollten wir uns vornehmen. Denn es würde Gott und uns zur Ehre gereichen vor den Augen dieser ganzen, so unversöhnten Welt…
Bild am Seitenanfang: The Hülsenbeck Children
Philipp Otto Runge, Public domain, via Wikimedia Commons