Hürdenlauf zum Grab

Hürdenlauf zum Grab

Es ist kein Wunder, dass die Begegnung mit dem Tod viele Fragen aufwirft. Denn die Abschiede, zu denen der Tod uns zwingt, bereiten große Schmerzen. Und es liegt in der menschlichen Natur, dass wir dem, was uns Schmerzen bereitet, auf den Grund gehen wollen. Wir versuchen zu ergründen, was uns weh tut, entweder um die Ursache des Schmerzes abzustellen – oder wenigstens, weil ein Verlust, den wir verstehen, leichter zu ertragen ist. Wir wüssten gern, warum wir diese traurigen Wege gehen. Doch freilich: Wie sollen wir Auskunft geben können über den Sinn des Todes, wo die meisten nicht einmal Auskunft geben können über den Sinn ihres Lebens? Wissen wir schon nicht, warum wir leben, wie sollen wir da begreifen, was es heißt zu sterben? Das Licht des Verstehens fehlt uns gerade da, wo wir es am nötigsten hätten. Und die Dunkelheit, die vom Tod ausgeht, verfinstert damit auch den Rest unseres Lebens. Denn vom Friedhof heimgekehrt gehen wir ja nicht einfach zur Tagesordnung über, sondern nehmen die lästige Frage mit in unseren Alltag, welchen Sinn dieser Alltag haben kann, wenn er auf nichts weiter hinausläuft als auf den Tod.

Wir bauen Häuser – aber wir bewohnen sie nicht ewig. Wir gehen einer Arbeit nach – aber irgendwann wird sie ein anderer tun. Wie gründen Familien – aber irgendwann werden sie auseinandergerissen. Ist also unser Leben vergebliche Liebesmüh? Unser Dasein wäre dann nicht nur vergänglich, sondern auch vergeblich. Denn mit allem erdenklichen Fleiß hinterlassen wir doch keine Spuren, die der Tod nicht bald wieder verwischt.

Freilich: Normalerweise will das niemand wissen. Und wer es ausspricht, gilt als depressiv. Es sind Wahrheiten, die wir lieber verdrängen und mit Fröhlichkeit überspielen. Wir wollen andere Ziele vor Augen haben, als ausgerechnet den Tod. Und darum schmieden wir tausend scheinbar wichtige Pläne, die uns ablenken und beschäftigen. Sind wir Schüler, so leben wir auf den Schulabschluss hin – und dieses Streben gibt unserem Leben Sinn. Haben wir die Schule geschafft, suchen wir den beruflichen Einstieg. Das ist dann das neue Ziel. Haben wir den Beruf, so geht’s ans heiraten. Die Suche nach dem richtigen Partner füllt unser Leben aus. Sind wir verheiratet, so sollen Kinder kommen. Familiengründung heißt das neue Etappenziel. Und sind die Kinder erst mal da, so muss natürlich ein Haus her. Wer könnte das nicht für sinnvoll halten? Wir stecken alle Energie hinein, das Haus abzubezahlen. Haben wir’s aber abbezahlt, so gehen wir schon auf den Ruhestand zu. Das ist dann nochmal ein neues Ziel, das unserem Leben Sinn verleiht. Wir streben auf die Rente zu und freuen uns, wenn wir sie halbwegs gesund erreichen. Was aber dann?

Dann geht es irgendwie nicht weiter. Denn bis dahin war unser Leben ja eine Art von Hürdenlauf. Wir suchten immer die nächste Hürde, die nächste Stufe, die nächste Herausforderung. Wir zweifelten nie am Sinn unseres Daseins, denn wir hatten ja immer konkrete Ziele vor uns. Und war ein Ziel erreicht, so ersetzten wir es schnell durch ein neues. Wir ließen keine Leere zu, denn so lange man Pläne hat, scheint das Leben Sinn zu machen. Der Lebensinhalt lag immer im nächsten Schritt, in der nächsten Urlaubsreise, im nächsten Fest, im nächsten Frühling. Nur, an der letzten Station angekommen, im Angesicht des Todes, funktioniert das nicht mehr. Da lässt sich die Sinnfrage nicht mehr auf ein nächstes Ziel hin verschieben. Denn über den Tod hinaus kann man sich nichts vornehmen. Da muss man innehalten am Endpunkt des Lebensmarathons. Und weil der Blick dann nicht mehr erwartungsvoll nach vorn gerichtet werden kann, wandert er zurück. Was aber sehen wir im Lebensrückblick? Da scheint jeder Teil unseres Lebensweges für sich genommen sinnvoll. Die Schule, der Beruf, die Familie, das Haus. Es schien immer folgerichtig, nach einer Hürde die nächste in Angriff zu nehmen. Nur die Gesamtstrecke – wozu haben wir die eigentlich hinter uns gebracht?

Wohl führte jeder Schritt zum nächsten – aber wohin führt uns die Summe der Schritte? Im Rückblick steht nicht der einzelne Schritt in Frage, sondern der Sinn des ganzen Laufes. Und da bleibt dann ein großes Fragezeichen. Denn welchen Sinn hat der weite Weg von der Wiege bis zur Bahre, wenn er nirgendwo anders hinführt als nur ins Grab? Erhalten und pflegen wir unser Leben bloß, um es möglichst spät zu verlieren? Und lohnt sich diese Mühe, wenn der Tod am Ende doch einen dicken Strich durch unsere Rechnung macht?

Man kann solchen Fragen nicht ausweichen. Und ich meine, wir werden sie erst los, wenn wir sie vom Glauben her beantworten. Denn das Leben ist nicht lustig genug, als dass es seinen Sinn in sich selbst haben könnte. Ist das Leben aber nicht Selbstzweck, so kann es nur Mittel sein zu einem anderen Zweck – einem höheren Zweck. Und das ist in der Tat die Auskunft, die der christliche Glaube uns gibt. Der Glaube sieht es nämlich ganz nüchtern: Dieses Erdenleben für sich genommen ist ein Geschäft, das seine Kosten nicht deckt. Aber es ist brauchbar, als ein Sprungbrett zu etwas Besserem hin. Und wer dies Bessere kennt, für den muss der Tod, keine sinnlose Tragödie sein, kein Abbruch und keine Niederlage, sondern ein Neubeginn. Denn für einen Christen ist dies Erdenleben nichts weiter als eine Durchgangsstation zum ewigen Leben und, wenn man so will, ein Reifungsprozess. Das Diesseits wird damit keineswegs abgewertet, nein! Unser Erdenleben hat viele schöne Seiten und bleibt eine herrliche Gabe. Doch hat niemand den Sinn dieser Gabe erfasst, wenn er nicht merkt, dass dieses Leben über sich hinaus verweist. Diese Erde soll uns gar nicht dauerhaft zur Heimat werden, sondern wir sollen uns hier nur vorbereiten auf den Himmel. Ja: Wir sollen uns einüben in die Gemeinschaft mit Gott – und sollen reif werden für Gottes Reich. Denn das ist der eigentliche Sinn der 60, 70 oder 80 Jahre, die Gott uns gönnt. Diese Jahre sollen uns Gelegenheit geben, in der Zeit mit ihm den Bund zu schließen, der uns in der Ewigkeit trägt. Und ob dabei zugleich unsere Lebenspläne aufgehen – ob wir viel oder wenig Spaß haben – das ist demgegenüber zweitrangig. Denn entscheidend ist nur, ob ein Mensch zu Lebzeiten den Sinn seines Daseins erfasst, ob er seine Bestimmung erkennt oder verkennt, ob er glaubt oder nicht. Denn an dieser Stelle gabeln sich die Wege nach oben und nach unten…

Man darf nicht verschweigen, dass es da zwei Möglichkeiten gibt. Es wäre fahrlässig! Denn jeder Mensch muss wissen, dass er den Sinn seines Lebens verfehlen kann, dass er dann sein gottgewollt-sinnvolles Leben in ein ebenso gottloses wie sinnloses Leben verwandelt – und seine Bestimmung verfehlt. So ein Mensch ist wie ein Päckchen, das seinen Adressaten nie erreicht. Und in diesem Fall ist der Tod dann wirklich eine Tragödie. Denn das Leben mag noch so „schön“ oder „glatt“ verlaufen, es mag voller Wohlstand und Genuss sein – es wird doch der Mensch, der sein Leben ganz dem Vergänglichen gewidmet hat, mit dem Vergänglich zusammen vergehen.

Wer hingegen in seinem Erdenleben ein Sprungbrett und ein Mittel sieht, das ihm zu höheren Zwecken dienen soll, der kann dieses kurze Erdenleben investieren, wie man Kapital investiert, und kann durch diesen Einsatz das ewige Leben gewinnen. Denn genau dazu hat Gott uns dieses Leben gegeben, damit wir Gelegenheit haben in der Zeit mit ihm den Bund schließen, der uns in der Ewigkeit trägt. Gott streckt uns die Hand entgegen und will, dass wir einschlagen. Er macht es uns leicht! Aber billiger, als um den Preis der Nachfolge Jesu Christi ist die Seligkeit nicht zu haben. Sie ist uns zugedacht, diese Seligkeit! Und sie ist sogar „umsonst“ – weil Christus am Kreuz dafür bezahlt hat. Aber die ewige Seligkeit wird uns nicht automatisch zu Teil, wenn wir unser Leben „irgendwie“ hinter uns gebracht haben. Sondern sie wird uns zu Teil, wenn wir sie im Glauben annehmen, die Chance bewusst ergreifen und dem Wort Christi folgen. Vergessen wir’s also nicht: Das Leben ist eine Brücke. Wir können getrost hinübergehen. Aber wir sollen keine Häuser darauf bauen...

 

 

 

 

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Wer war der Tor, wer Weiser, wer Bettler oder Kaiser?

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