Nicht Marmor oder Diamant
An den Gräbern unserer Angehörigen spüren wir deutlich, was wir im Alltag gern vergessen und verdrängen: Wir spüren die Endlichkeit unseres Daseins. Und wir merken, dass diese Endlichkeit unserem Leben großen Ernst verleiht. Denn der Tod nimmt uns die Möglichkeit, an unserem Leben noch einmal etwas zu ändern. Er verhindert die Revision des einmal gelebten Lebens und verleiht damit allen getroffenen Entscheidungen Endgültigkeit. Was schön war am Leben mit dem Verstorbenen, das wird sich nicht mehr wiederholen lassen. Und was daran verkehrt war, wird sich nicht mehr korrigieren lassen. Was man gesagt hat, lässt sich nicht mehr zurücknehmen. Und was man zu sagen versäumt hat, kann man nicht mehr nachholen. Gewiss sind da Erinnerungen, die man treulich bewahren kann. Doch was der Verstorbene anderen schuldig blieb, und was wir ihm schuldig blieben, das wird sich nicht mehr korrigieren lassen:
Ist der Tod erst einmal da, so bleibt alles wie es war, sei’s gut gewesen oder schlecht, vollendet oder unvollendet, denn der Platz des verstorbenen Menschen, bleibt künftig leer. Wahrscheinlich enthielt sein Leben die üblichen Mischung aus, schweren Zeiten und schönen Zeiten. Doch was ihm in der Zeit Geborgenheit gab, Heimat, Freude und Sicherheit, das half ihm im Angesicht des Todes wenig…
Freilich: Wir wollen das nicht wahrhaben. Wir versuchen feste Burgen um uns herum aufzubauen. Wir suchen Schutz bei Menschen und suchen zugleich Macht über sie zu gewinnen. Wir schützen uns mit festen Gewohnheiten und festen Ansichten. Wir legen uns eine raue Schale zu und verteidigen unseren Platz. Wir ziehen uns zurück und verkriechen uns in uns selbst. Wir hängen uns an Häuser, als ob wir ewig drin wohnen könnten. Wir versuchen Spaß zu haben, um nur nichts zu verpassen, wir versuchen satt zu werden, an dieser Welt. Am Ende aber rinnt uns das alles durch die Finger, und man trägt uns hinaus auf den Friedhof.
Was nützen uns dann Hab und Gut? Was nützen uns Klugheit und Erfahrung? Was nützen alle Menschen? Zuletzt unterliegt das alles, dem allgemeinsten Gesetz, das wir kennen, nämlich dem Gesetz der Vergänglichkeit.
In der Blüte unserer Jahre meinen wir, wunder was wir sind. Am Ende aber stoßen wir auf die schlichte, biblische Wahrheit, die uns einen ernüchternden Spiegel vorhält: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.“ (1.Mose 3,19) Hart klingen diese Worte, in den Ohren stolzer Menschen. Und doch erinnern sie uns bloß, an den biblischen Bericht von der Erschaffung des Menschen, nach dem Gott den Menschen aus einem Klumpen Erde formte. Wie ein Töpfer nach dem Ton greift, so nahm der Schöpfer eine Handvoll Lehm, um daraus Menschen zu bilden. Und schon die Wahl dieses weichen und formlosen Materials sagt einiges über die Kreatur, die daraus entstand.
Denn Gott hat uns eben nicht aus hartem Ebenholz geschnitzt. Er hat uns nicht aus Stahl gegossen. Er hat uns nicht in glänzenden Marmor gemeißelt. Er hat uns nicht aus unvergänglichem Diamant herausgeschliffen. Sondern er hat uns aus der dunklen Erde geformt, die fruchtbar ist, weich und wandelbar. Er hat den Menschen damit eingeschlossen in den Kreislauf des Werdens und Vergehens. Er hat ihm Erdenschwere und Erdverbundenheit mitgegeben. Er hat ihn zerbrechlich gemacht, wie irdene Gefäße eben zerbrechlich sind. Und er hat damit auch den Weg vorgezeichnet, den wir am Ende gehen. Denn wir sind alle von Erde genommen und werden wieder zu Erde werden. Und wenn man uns eines Tages zu Grabe trägt, wird man auch über uns sagen: „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube.“
Kränkt uns das? Verletzt es unser Selbstwertgefühl? Das mag schon sein. Doch in Wirklichkeit zerstört die Einsicht in unsere Vergänglichkeit, ja nur Illusionen – und zerstört darum nichts, was nicht wert wäre zerstört zu werden. Wer dem stolzen Wahn anhängt, er müsste hart sein wie Stahl, der wird eines Tages entdecken, dass er zerbrechlich ist. Wer meint, er wäre rein wie ein Diamant, der wird an sich eines Tages dunkle Flecken der Schuld bemerken. Und wer denkt, er könnte unvergänglich glänzen wie Marmor – der wird sich damit früher oder später zum Narren machen.
Schaden wird das dem Menschen aber nicht. Denn wir lernen dabei ja nur, dass wir weder von dieser Welt noch von uns selbst erwarten sollten, was allein von Gott erwartet werden kann. Nicht unsere Sache kann es sein, dem Tod etwas entgegenzusetzen. Sondern allein Gottes Sache kann es sein. Denn er allein hat die Macht und auch den Willen dazu. Ja, tatsächlich: Er, der uns überhaupt nichts schuldet, kann und will uns doch das ewige Leben schenken. Er, der unser nicht bedarf, kann und will mit uns seinen Himmel bevölkern. Er, den wir so oft verleugnen, kann und will sich dennoch zu uns bekennen. Denn auf nichts anderes zielte die Sendung Jesu Christi: Gott wollte uns nahe sein in Not und Schuld. Jesus Christus wurde unser Bruder und er setzte seinen Fuß in den irdischen Schlamm, damit wir nicht verzweifeln müssten. Er wollte unser Leben zum Guten wenden, obwohl wir diese Wendung nicht verdient haben. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Nun: Diese Botschaft bedeutet dem einen viel, und dem anderen wenig. Soviel aber ist klar, dass dieser Glaube alles ist, was wir zerbrechlichen Geschöpfe dem Tod entgegenzuhalten haben. Menschenwitz und Menschenweisheit, Ruhm und Wohlstand, Freundschaft und Verdienste – das alles fegt der Tod hinweg. Und dann wird es Gottes Liebe sein die uns trägt, oder nichts wird uns tragen. Entweder ist es dann Gottes Treue die uns hält, oder nichts wird uns halten. Entweder haben wir dann durch Gottes Gnade alles gewonnen, oder haben alles verloren. Und ob das eine oder das andere der Fall ist, das liegt allein bei Gott. Sollten wir uns also um die Toten sorgen – und nicht lieber um die Lebenden? Machen wir uns beizeiten klar, dass unser Dasein kein Spiel ist, sondern eine Entscheidung fordert.
Ist Jesus mein Leben, so ist Sterben mein Gewinn, nämlich der Gewinn ungetrübter, ewiger Gemeinschaft mit dem Herrn. Ist Jesus aber nicht mein Leben, so ist Sterben auch nicht mein Gewinn, sondern mein Untergang. Glaube ich die Auferstehung Jesu Christi als seinen Sieg über den Tod, so kann ich über den Tod lachen und die Heimreise antreten zu Gott. Fehlt mir aber der Glaube, so wird der Tod über mich lachen, wird mir den Mund stopfen und mich führen wohin ich nicht will. Nehmen wir darum jeden Todesfall zum Anlass in uns zu gehen. Und sorgen wir uns künftig weniger darum, wo wir wohnen in der Zeit, sondern darum, wo wir wohnen werden in der Ewigkeit…
Bild am Seitenanfang: Old Shepherds Chief Mourner
Edwin Landseer, Public domain, via Wikimedia Commons