Testament und Erbe
Bitte erschrecken sie nicht über meine Frage. Aber – haben sie schon ihr Testament gemacht? Nicht, dass ich Schlimmes erwartete oder an ihrer Gesundheit zweifelte – ich wünsche ihnen ein langes Leben! Aber – haben sie ihr Testament gemacht? Ist schon klar, wer einmal was bekommen soll? Ich frage danach, weil mir kürzlich ein Testament in die Hände fiel, das mich beeindruckt hat. Der Verfasser (Heinrich Müller) denkt über die Auflösung seiner irdischen Existenz nach. Er ordnet seinen Nachlass. Und nachdem er Klarheit gewonnen hat, setzt er sich fröhlich hin und schreibt etwa das Folgende als seinen letzten Willen nieder:
Gottlob! Nun bin ich bereit. Mein Testament ist fertig. Mein Haus ist bestellt.
(1.)
Meinem himmlischen Vater, der mich geschaffen hat, vermache ich meine Seele. Von ihm habe ich sie bekommen und ihm gebe ich sie gerne wieder, denn bei Gott ist sie am besten aufgehoben. Meine Seele ist mein wertvollster Besitz – den soll kein anderer in die Finger bekommen. Ich habe meine Seele zum Glück auch nicht verkauft. Ich hätte es ja gar nicht gedurft! Und darum will ich sie mit meinem Ableben dem Schöpfer zurückerstatten und mit Jesus sagen: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Luk. 23,46).
(2.)
Jesus selbst, mein lieber Herr und Bruder, soll auch nicht leer ausgehen. Und darum vermache ich ihm den ganzen großen Haufen meiner Sünden – und bin sicher, dass er sie an sich nehmen wird. Denn Christus ist das Lamm Gottes und trägt die Sünde der ganzen Welt (Joh. 1,29). Eben dazu ist er Mensch geworden, um mir meine Last abzunehmen, sie auf seine Schultern zu laden, sie ans Kreuz zu tragen und dann im tiefen Meer zu versenken. Christus will, dass ich ihm meinen Schmutz und meine Schuld überlasse – und so tue ich das mit großer Dankbarkeit.
(3.)
Der Heilige Geist soll auch etwas bekommen. Und darum überlasse ich ihm mein klägliches Lebensende und all jene letzten Augenblicke, in denen mich meine Kräfte verlassen. Wenn ich nicht mehr reden und kaum noch denken kann, wenn mir der Leib den Dienst versagt, und ich als ein Bild des Jammers hilflos auf dem Rücken liege – dann möge der Heilige Geist sein Erbteil an sich nehmen und mich bei Gott vertreten mit unaussprechlichem Seufzen (Röm 8,26). Wenn meine Ohren nichts mehr hören, spreche mir Gottes Geist seinen Trost ins Herz hinein. Und wenn meine Augen nur noch Dunkelheit sehen, entzünde er in mir sein inneres Licht.
(4.)
Was sonst noch wertvoll ist an meinem Leben, das sind vor allem die Momente der besseren Einsicht und der Buße, in denen ich meine Fehler bereut und über meine Versäumnisse so manche Träne geweint habe. Diese Tränen schenke ich den Engeln, die mich durchs Leben begleitet und vor Schaden bewahrt haben. Sie mögen daran ihre Freude haben, wie sie sich ja über jede gute Regung eines Menschen freuen.
(5.)
Will der Teufel auch etwas haben, nun denn – so vermache ich ihm all meine Falschheit, meine Heuchelei und meine vielen Lebenslügen, damit er sein eigenes Gift zu schmecken bekommt samt all der Bitternis, mit der er mein Herz erfüllt hat. Er soll sich daran so recht den Magen verderben.
(6.)
Was meinen Körper betrifft, der mich geduldig durchs Leben trug wie ein treues Eselchen – den will ich Mutter Erde hinterlassen und als Staub dem Staube anvertrauen. Denn von Erde ist er genommen und zu Erde muss er wieder werden (1. Mose 3,19). Was an mir stofflich war, will ich Mutter Erde zurückerstatten. Und sie wird sich nicht weigern, meine sterbliche Hülle aufzunehmen. Denn selbst die Verabscheuten und Ausgestoßenen, die sonst keiner mehr will, nimmt die Erde klaglos auf und lässt sie ruhen in ihrem Schoß.
(7.)
Meiner lieben Frau hinterlasse ich einen besseren Mann als ich selbst es war, nämlich den Herrn des Himmels, der sich der Witwen annimmt, der sie versorgt und schützt, der ihnen Recht schafft und sie in ihrer Trauer tröstet. Meinen Kindern hinterlasse ich einen besseren Vater als ich selbst es war, nämlich den himmlischen Vater, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden (Eph. 3,15). Und auch meinen Freunden sei mein gnädiger Gott zum Erbe vermacht, der ihnen niemals wegstirbt, wie ich das tue, sondern stets ihr treuer Freund bleibt und sie nie verlässt, wenn sie nur ihn nicht verlassen.
(8.)
Weiteren Besitz habe ich nicht zu verteilen, denn ich war mehr bemüht, Schätze im Himmel zu sammeln als auf der Erde (Mt 6,19-21). Gold und Silber habe ich darum nicht zu vergeben (Apg 3,6). Doch mit dem Evangelium, das mir so lieb ist, habe ich nie gegeizt – und hinterlasse es allen, die bisher zu kurz kamen, als den größten Reichtum, der einem Menschen zuteil werden kann. Greift nur alle zu, die ihr arm und bedürftig seid, so habt ihr augenblicklich einen reichen Gott, dessen Treue gilt, so weit die Wolken gehen! Und macht er euch zu seinen Kindern und Erben, so weiß ich euch gut versorgt und kann in Frieden das Zeitliche segnen. Dies sei mein letzter Wille. Darauf tue ich meine Augen fröhlich zu!
Nun – das ist offenbar kein grämliches Testament, sondern ein ziemlich heiteres. Der Verfasser zeigt ebensoviel Glauben wie Humor. Und man zweifelt nicht, dass er mit leichtem Herzen von dieser Welt geschieden ist. Denn wie‘s aussieht, ruht er ja ganz in Gott. Er blickt nicht kummervoll auf das, was er zurücklassen muss, und klammert sich nicht an seinen irdischen Besitz, sondern mit leichtem Herzen lässt er los. Doch wie kann er das? Wie erklärt sich seine heitere Freiheit? Die Antwort ist schnell gegeben. Denn der fromme Mann ist voller Zuversicht, dass er sterbend weniger ein Erbe hinterlässt als ein Erbe antritt. Er ist überzeugt, dass er durch seinen Tod nicht ärmer, sondern reicher wird. Und darum kann er so locker damit umgehen. Seine Seele schenkt er Gott und seine Sünden überlässt er Jesus, seine Schwächen gibt er dem Heiligen Geist, seine Tränen den Engeln und seinen Leib der Erde. Darüber hinaus ist aber Gott selbst sein Reichtum. Und der wird ihm durch den Tod ja gar nicht entrissen. Das Evangelium ist sein Schatz, und das Himmelreich sein Ziel, so dass der Mann sterbend mehr gewinnt als er verliert. Was er hinterlässt, ist vergänglich, was ihm zuteil wird, ist ewig. Der Tod wird ihn weniger berauben als beschenken. Und darum kann unser Erblasser so heiter sein. Der Abschied fällt ihm leicht, weil ihn weniger das Erbe beschäftigt, das er hinterlässt, als das Erbe, das er antritt. Und wir dürfen uns das bei ihm abschauen. Denn als Christen sind wir Kinder Gottes. Und das Neuen Testament sagt, dass uns einmal ein reiches Erbe zufällt, das Gottes Sohn mit uns teilen will. Nun klingt das unglaublich, weil wir keinen Anspruch haben, derart begünstigt zu werden. Jesus ist der einzige Sohn Gottes – und folglich auch der einzig legitime Erbe (Mk 12,1-12; Hebr 1,2). Doch will dieser erbberechtigte Sohn, dass wir seine Brüder werden – mit aller Konsequenz – und gibt uns damit die Kindschaft zurück, die wir im Sündenfall verloren haben. Er wird zum Mittler des neuen Bundes, durch den die Berufenen ein ewiges Erbe empfangen (Hebr 9,15). Und so sind in Christus alle Christen zu Miterben eingesetzt und erhalten als „Vorschuss“ auf ihr Erbe den Heiligen Geist (Eph 1,11.14.18). Der Geist gibt uns Zeugnis, dass wir Gottes Kinder sind. Und als Kinder sind wir selbstverständlich auch „Gottes Erben und Miterben Christi“ (Röm 8,14-17; Gal 4,7). Nun beruht das weder auf Herkunft noch auf Verdiensten, sondern allein auf Gnade (Röm 4,13-14; Gal 3,18; Titus 3,7). Und jene, die sich der Sünde ergeben, werden des Erbes auch nicht teilhaftig (1.Kor 6,9-10; 1.Kor 15,50; Eph 5,5; Gal 5,21). Die aber Christus wahrhaft angehören, sind dadurch Abrahams Kinder und „nach der Verheißung Erben“ (Gal 3,29), so dass ihnen sämtliche Heilsgüter in den Schoß fallen – nämlich volle Gemeinschaft mit Gott, Erlösung, Vergebung, Herrlichkeit, Seligkeit und ewiges Leben im Reich Gottes (Offb 21,7; Kol 1,12-14; Eph 1,18). Dies unvergängliche Erbe wird im Himmel für die Gläubigen aufbewahrt (1. Petr 1,4). Und wer es dort entgegennimmt, dem wird es alles aufwiegen, was er auf Erden um Christi willen verloren hat (Mt 19,29; Röm 8,18). Das ist uns versprochen. Wir haben also „ausgesorgt“. Und wenn wir uns heute noch gar nicht so reich vorkommen, ändert das nichts an den Tatsachen: Was wir diesseits verlieren, steht in keinem Verhältnis zu dem, was wir jenseits empfangen! Sollten wir‘s also nicht jenem Erblasser nachtun und mit heiterem Sinn jedem geben, was ihm zukommt – nämlich der Erde unseren Leib und dem Himmel unsere Seele? Sollten wir nicht leichten Herzens hergeben, was wir sowieso nicht behalten können, um dadurch zu gewinnen, was wir nie wieder verlieren? Als Kinder Gottes sind wir keineswegs „mittellos“! Und sieht man’s uns noch nicht an, so ist auch das für Kinder reicher Eltern nicht ungewöhnlich. Noch haben wir ja unser Erbe nicht angetreten und stellen in den Augen der Welt nicht viel dar! Doch wir sind Anwärter ewiger Herrlichkeit und haben einen Reichtum, von dem die Kinder der Welt nicht wissen. Christus ist vorausgegangen, um uns die himmlischen Wohnungen zu bereiten (Joh 14,2). Und wer bei ihm Wohnrecht hat, muss sich an kein irdisches Haus mehr klammern. Mag sich ums Geld schlagen, wer nichts Besseres kennt und erwartet! Mag nach weltlicher Ehre streben, wer keine Ehre hat bei Gott! Christen haben dergleichen nicht nötig. Denn im Glauben besitzen wir mehr als „Güter“ – wir haben den Geber aller Güter! Wir haben mehr als „Leben“ – wir haben den Spender des Lebens! Wir brauchen keinen „Lohn“ – denn Gott selbst ist unser Lohn! Und so können wir leichten Herzens leben – und sogar leichten Herzens sterben. Wir dürfen heiteren Sinnes dableiben – und dürfen auch heiteren Sinnes gehen. Denn in Christus sind wir jetzt schon reicher, als die Welt uns jemals machen kann. Sollten wir also wegen der Endlichkeit dieses Erdenlebens Trübsal blasen? Machen wir uns lieber den freien Sinn jenes Mannes zu eigen und sprechen wir mit ihm: Gottlob! Ich bin bereit. Mein Testament ist fertig und mein Haus ist bestellt. Wann immer Gott will, tue ich meine Augen fröhlich zu!
Bild am Seitenanfang: Reading the Will
David Wilkie, Public domain, via Wikimedia Commons