Wer glaubt, ist erwählt
Wenn ein Mensch zum Glauben findet und sich nach einer Phase des Zweifelns und Ringens als Christ bekennt, ist das eine schöne Erfahrung von gewonnener Klarheit und innerem „Ankommen“. Manche können eindrücklich davon berichten, wie das bei ihnen war – und was vorausging. Denn ein Mensch kommt ja nicht schon als Christ auf die Welt, sondern muss es erst werden. Und dass ein Übergang vom Nicht-Glauben zum Glauben möglich ist, steht damit außer Frage. Aber gibt es auch das Umgekehrte? Kann ein Christ seinen Glauben wieder gänzlich verlieren? Mancher wird sagen: „Das ist einfach zu beantworten. Denn ich kenne doch diesen oder jenen, der früher mal gläubig war und es heute nicht mehr ist. Also kann man den Glauben verlieren!“ Doch so schnell wird man damit nicht fertig. Denn es gibt eine Reihe guter Theologen, die dem mit Hinweis auf die Treue Gottes widersprechen. „Natürlich gibt es Glaubenskrisen!“ sagen sie. „Aber diejenigen, die Gott zum Heil erwählt hat, lässt er auch in solchen Krisen nicht im Stich.“ Und die reformierte Kirche hat das sogar in ihren Bekenntnissen festgehalten, wo man liest, dass Gott selbst bei traurigsten Sündenfällen doch nicht zulässt, dass sich die Erwählten ins ewige Verderben stürzen, sondern sie barmherzig davor bewahrt (Syn. v. Dordrecht, 5. Lehrst., Art. 6 u. 8). Nun wird niemand bestreiten, dass dies eine sehr tröstliche und sympathische Lehre ist: Gott passt auf diejenigen, die er dazu erwählt hat, durch den Glauben gerettet zu werden, so gut auf, dass sein Vorhaben auch gelingt. Er erspart ihnen nicht Zweifel und Krisen, sorgt aber dafür, dass sie nie gänzlich vom Glauben abfallen. Denn schließlich hat er von Ewigkeit her beschlossen, sie zu erlösen! Und folgerichtig tut der Heilige Geist alles Nötige, damit die menschliche Schwäche Gottes Absicht nicht durchkreuzt. Das Beste daran: Man kann dann schließen, dass, wer einmal wirklich im Glauben stand, auch später nicht mehr verloren geht. Und seit Kirchenvater Augustin dies vertrat, nennt man es das „donum perseverantiae“ – also die Gabe der Bewahrung oder Beharrung im Glauben. Das Problem ist nur, dass dem manche Erfahrung zu widersprechen scheint, weil man nun mal von einstigen Mitchristen weiß, die sich vom Glauben abgewandt haben. Und erschwerend kommt hinzu, dass viele Texte des Neuen Testaments nachdrücklich vor dem Verlust des Glaubens warnen. Solche Warnungen aber machen nur Sinn, wenn die Gefahr auch wirklich besteht. Jesu Gleichnis vom Sämann scheint z.B. deutlich zu sagen, dass die Saat des Glaubens bei vielen Menschen nur kurz aufgeht und bald wieder verdorrt (Mt 13,1-23). Jesus warnt nachdrücklich davor, vom Glauben abzufallen oder andere zu solchem Abfall zu verführen (Mt 18,6-9). Und auch der Hebräerbrief setzt voraus, dass die, „die einmal erleuchtet worden sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und Anteil bekommen haben am Heiligen Geist“ trotzdem abfallen können (Hebr 6,4-6; vgl. auch Lk 22,31-32; Mt 24,10-13; Mt 25,1-13; 1. Petr 5,8). Das ist verwirrend. Und natürlich fragt man sich, wie es wirklich ist. Bewahrt der Herr die Seinen so wie ein guter Hirte, der seine Schafe nicht dem Wolf überlässt? Oder ist Gottes Ratschluss zur Erwählung doch eine so wackelige Sache, dass der Mensch ihm einen Strich durch die Rechnung machen kann – und seinem Retter dann aus den Händen rutscht, wie dem Angler ein allzu glitschiger Fisch? Ist es denkbar, dass ein wirklich gläubiger Mensch wieder ganz und endgültig zum Unglauben übergeht? Oder sollte man eher annehmen, dass jene, die tatsächlich verloren gehen, von Anfang an nie wahrhaft Gläubige gewesen sind? Es ist eine vertrackte Frage! Aber mit etwas Geduld kann man sie doch klären.
Fest steht, dass Gott diejenigen, die er retten will, schon von Ewigkeit her dazu erwählt und vorherbestimmt hat. Denn so sagen es der Epheserbrief und andere biblische Schriften überdeutlich (Eph 1,3-12). Da Gott aber allmächtig ist, gibt es im Himmel und auf Erden niemanden, der die Ausführung seines ewigen Ratschlusses verhindern könnte. Die Menschen, die er haben will, bekommt er also. Und da Gott in seiner Weisheit alle Zukunft kennt, bedarf sein ewiger Ratschluss auch keiner Korrekturen, durch die nachträglich noch Erwählte zu Verworfenen würden oder umgekehrt. Auch die größte menschliche Glaubensschwäche kann Gott nicht nötigen, seine positive Entscheidung zu ändern. Denn die Auserwählten werden ohnehin nicht durch eigene Willkür selig, sondern werden durch Gottes Geist zum Glauben überwunden und im Glauben erhalten. Christen verdanken ihr Christ-Sein nicht dem eigenen Willen, sondern dem Willen Gottes. Und weil der nicht so flatterhaft ist wie der unsere, ist zu erwarten, dass Gottes Geist zuende bringt, was er in einem Menschen angefangen hat. „Die er aber vorherbestimmt hat,“ sagt Paulus, „die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht“ (Röm 8,30). Gott lässt sich dabei nichts aus der Hand nehmen. Denn es wird keiner deshalb erwählt, weil er schon vorher tapfer geglaubt hätte, sondern umgekehrt gilt, dass wer erwählt ist, eben darum (und nur darum!) das Geschenk des Glaubens empfängt, das ihn dann rettet. Gottes Erwählen ist der alleinige Grund des Glaubens, wie der Glaube an Christus der alleinige Grund der Erlösung ist! Und natürlich gehört auch keiner anders zu Christus als eben durch den Glauben, den Gottes Geist in ihm wirkt. Die ganze Sache liegt nicht in des Menschen, sondern in Gottes Hand. Und so ist auch nicht schwer zu erraten, wem der Glaube zuteil wird. Denn Gott hat zwar allen Grund, die von ihm Erwählten in dem Sinne zu bekehren, dass sie wiedergeboren werden „aus Wasser und Geist“ (Joh 3,5) und alle Verheißungen empfangen, die damit verbunden sind. Gott hat aber überhaupt keinen Grund, an den Nicht-Erwählten dasselbe zu tun, denn sie würden dann Verheißungen empfangen, die sich an ihnen gar nicht erfüllen sollen, und sähen sich getäuscht. Gott aber täuscht niemanden. Sondern – im Gegenteil – hält er immer Wort und ist Willens, durch Wort und Sakrament augenblicklich zu geben, was Wort und Sakrament verheißen. Wer Gottes Zusagen glaubt, ist durch das Gericht hindurchgedrungen (Joh 5,24). Und das nicht etwa „zum Schein“, sondern wahrhaftig und wirklich, weil Gott sonst zum Lügner würde. Steht das aber fest, so erlaubt es uns, aus dem wahrhaften Glauben einer Person umstandslos auf ihre Erwählung zu schließen. Wer tatsächlich glaubt, muss erwählt sein, denn sonst könnte er‘s nicht. Niemand vermag zu glauben, als nur der, den Gott dazu vorherbestimmt und mit der nötigen Fülle des Heiligen Geistes ausgestattet hat! Und wenn ein Mensch dann glaubt, zeigt sich darin nicht seine Entscheidung für Gott, sondern zuallererst Gottes Entscheidung für ihn. Nicht wir erwählen Christus, sondern er uns (Joh 15,16). Haben wir dann aber durch den Glauben Zugang zu Christus, so haben wir in ihm auch Gewissheit unserer Erwählung. Und gibt’s an dieser Erwählung keine nachträglichen Korrekturen, weil Gottes Ratschlüsse von Ewigkeit her feststehen, so ist die Sache damit klar. Mag es auch Schwankungen des Glaubens geben, so gibt es doch keine Schwankungen der Erwählung. Und so muss ein Mensch, der einmal wirklich geglaubt hat, letztendlich auch gerettet werden. Tatsächlich mag es vorkommen, dass er zwischendurch noch einmal den Glauben verliert! Doch wird er ihn spätestens auf dem Sterbebett wiederfinden. Denn erlöst wird ein Erwählter gewiss – und erlöst wird keiner anders als durch den Glauben. Das bedeutet sicher nicht, dass wir die Füße hochlegen dürften. Denn Paulus mahnt: „Wer meint, er stehe, mag zusehen, dass er nicht falle.“ (1. Kor 10,12; vgl. auch Phil 2,12; Phil 3,12-14; Offb 3,11). Jesus erzählt nicht umsonst von der Saat des Glaubens, die so oft vom Teufel gestohlen wird, in Anfechtungen zugrunde geht oder unter den Sorgen und Freuden des Lebens erstickt (Lk 8,12-14). Der Glaube kann tatsächlich verloren gehen. Und das ist eine bitter-ernste und furchtbare Erfahrung. Aber es bedeutet eben nicht, dass mit dem Glauben auch die Erwählung verschwände, sondern: hat sie sich einmal in wahrem Glauben gezeigt, wird sie den Menschen früher oder später in diesen Glauben zurückführen. Denn Gottes Gaben und Berufungen können ihn nicht gereuen (Röm 11,29). Und so wie dieser Grundsatz im großen Maßstab ausschließt, dass Gottes altes Bundesvolk gänzlich und endgültig verlorengeht (vgl. Röm 9-11), genauso und mit dem selben Recht gilt das auch von jedem Einzelnen, der das Evangelium einmal in gottgewirktem „guten Glauben“ angenommen hat. So einer kann den Glauben vorübergehend verlieren, aber nicht endgültig. Denn Gott ist treu. Und Christus spricht: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen“ (Joh 10,27-29).
Was ist dann aber mit denen, die tatsächlich im Unglauben sterben? Es geht nicht an, ihnen allen ein „verborgenes“ Christ-Sein zu unterstellen, wenn sie selbst in Worten und Taten das Gegenteil bekundet haben. Darum müssen wir nüchtern feststellen, dass manche Menschen wirklich ohne den Trost des Evangeliums sterben. Traten sie aber für eine längere oder kürzere Zeit als Christen auf, bleibt nur die Folgerung übrig, dass sie wohl niemals wirklich, sondern nur auf angemaßte und illusorische Weise geglaubt haben. Und wenn das auch tief traurig ist, bleibt es doch logisch zwingend. Wer ungläubig stirbt, war offenbar nicht erwählt. Und anzunehmen, dass Gott in Nicht-Erwählten vorübergehend einen wahren Glauben weckte, wäre ganz widersinnig. Die, die verloren gehen, haben demnach nie wirklich geglaubt. Wenn sie selbst das aber meinten, kann es nur ein illusorischer Scheinglaube gewesen sein, mit dem sie nicht etwa Gott täuschte (!), sondern mit dem sie sich selbst und andere täuschten (vgl. z.B. Lk 18,9-14; Mt 23,1-36). Es gibt also auf der einen Seite erwählte Gläubige, die durch Glaubenskrisen geprüft werden, die zeitweise wohl wirklich den Glauben verlieren und sich dann für verworfen halten – die aber, weil Gott treu ist, nicht im Unglauben versterben, sondern rechtzeitig zu Christus zurückfinden. Und auf der anderen Seite gibt es Nicht-Erwählte, die sich den Glauben zwar zeitweise anmaßen, die in falscher Sicherheit darin zu leben meinen und für Christen gelten wollen, die aber dennoch ungläubig sterben und verloren gehen. Wenn jemand wirklich „wiedergeboren wurde durch Wasser und durch Geist“, kann er aus dem Glaubensstand zwar zeitweilig wieder herausfallen, aber nicht endgültig. Denn Gott, der ihm das Heil so zusagte, dass der Mensch es guten Glaubens annehmen und sich darauf verlassen durfte, täuscht niemanden. Wenn aber jemand, der einmal als gläubig galt und sich auch selbst dafür hielt, diesen Glauben nicht nur zeitweilig, sondern endgültig verliert, ist daraus zu schließen, dass er nie wirklich im Glauben stand, sondern das nur sich und anderen vorgemacht hat. Das ist so weit klar!
Aber weiß ich davon, auf welche Seite ich gehöre? Und wenn man sich einbilden kann zu glauben – woher weiß ich dann, dass ich selbst das nicht tue? Die Eintragung im Melderegister der Kirchengemeinde garantiert offenbar noch nicht die Erwählung durch Gott. Und trotzdem wär‘s ungemein beruhigend, der Erwählung sicher zu sein. Wie finde ich also heraus, was Gott über mich entschieden hat? Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese Frage schon manchen in den Wahnsinn trieb. Denn wer kann schon sich selbst ergründen? Gott allein vermag in die Herzen zu sehen (1. Sam 16,7). Wir aber stehen diesbezüglich vor einer Schranke des Nicht-Wissens, weil wir dem Neuen Testament zwar entnehmen können, was als Lebensäußerung wahren Glaubens zu erwarten wäre, mit letzter Sicherheit aber weder den Glauben der Anderen noch den eigene beurteilen können. Wer wüsste schon vom anderen, dass er garantiert ein Heuchler – oder garantiert kein Heuchler ist? Und wer wüsste das von sich selbst? So plagen sich einige mit guten Werken, um sich selbst zu beweisen, dass sie „echte“ Christen sind. Und andere pflegen zum selben Zweck ihre frommen Stimmungen und Gefühle. Manche meinen sogar, wenn Gott ihren Wohlstand mehrt, sei dieser Segen ein Beweis ihrer Erwählung! Doch sind das Irrwege. Denn tatsächlich verhält es sich mit dem Glauben wie mit anderen Künsten: Ob’s einer kann, erweist sich nicht anders als dadurch, dass er’s tut. Ob der Gewichtheber eine Hantel stemmen kann, stellt sich heraus, wenn er‘s probiert. Und um zu erfahren, ob einer schwimmen kann, wirft man ihn am besten ins Wasser. Man kann lang darüber diskutieren, ob eine Tür verschlossen ist. Letzte Sicherheit hat man aber erst, wenn man die Klinke drückt. Und so ist es mit dem Glauben auch. Denn ob einer zum Glauben erwählt ist, erfährt er nicht im Voraus durch Grübelei, sondern nur durch den praktischen Versuch. Wer Zweifel hat, ob er gerettet wird, gehe darum zum Abendmahl. Und wenn er sich dabei im Wissen um seine Bedürftigkeit Christus anvertrauen kann, dann muss er nicht mehr rätseln, ob er das auch darf und soll, sondern er tut’s – und empfängt dabei alle Gnade, die Christus in das Sakrament eingeschlossen hat. Wenn es ihn dahin zieht und er keine Hintergedanken hat, sondern die Gemeinschaft Christi sucht, die ihm angeboten wird, muss er nicht mehr an sich selbst zweifeln und kann aufhören, sich den religiösen Puls zu fühlen. Denn wenn‘s ihm nicht der Heilige Geist selbst ermöglichte, dann könnte er’s nicht – und wollte es auch gar nicht. Wenn er aber Wort und Sakrament dankbaren Herzens empfängt, beweist das zur Genüge, dass er‘s empfangen soll. Und ist er am nächsten Tag wieder verunsichert, kehre er postwendend zurück zur Gottes Wort und Gottes Altar, falte die Hände, suche den Segen und wiederhole den Vorgang solange bis er Ruhe findet. Ob Gott ihn bei sich duldet, erfährt er immer nur, wenn er zu ihm geht. Und je mehr er daran zweifelt, desto öfter sollte er gehen. Denn – mit Verlaub – es verhält sich hier ganz wie mit dem Schwert Excalibur.
Kennen Sie die Legende? Merlin soll dieses Schwert in einen Stein hinein gestoßen haben. Und es hieß, nur der rechtmäßige künftige Herrscher könne es dort wieder herausziehen. Nachdem es aber viele Ritter vergeblich versucht hatten, kam Artus und zog das Schwert mühelos heraus. Artus hätte das Schwert natürlich auch von allen Seiten betrachten und tagelang draufstarren können. Es wäre möglich gewesen, erst mal Erkundigungen über das Schwert einzuholen und weise Ratgeber zu befragen. Es hätte Artus frei gestanden, zunächst seine Kraft an Büschen und Bäumen zu erproben, sein Horoskop zu lesen oder bis nächste Woche zu warten. Doch ob er berufen war, das Schwert herauszuziehen, konnte sich nur im Versuch erweisen. Und so ist es auch mit der Erwählung. Auch da kann keiner heimlich in den Himmel steigen, um es vorab zu klären! Aber jeder ist eingeladen, hier auf Erden den Selbstversuch zu starten, ob er wohl Zugang zu Christus findet, sich ihm entschlossen anvertrauen und sich an ihn klammern kann. Gelingt ihm das, so bedarf es weiter keines Beweises seiner Erwählung. Denn Glauben kann nur, wer’s können soll. Und wer’s nicht soll, der wird’s auch nicht können. Es gibt hier Gewissheit nur im Vollzug. Im Vollzug gibt es sie dann aber wirklich – und dort kann sie auch immer und immer wieder gesucht werden. So einfach ist das zuletzt – und ist dann eine zutiefst tröstliche Erfahrung. Denn wer in der Zeit glaubt, der war schon von Ewigkeit her dazu bestimmt und darf in Anfechtung und Zweifel gelassen bleiben, denn er gehört zu den Schafen der Herde, die der himmlische Vater Christus anvertraut hat, und die sich der gute Hirte ganz gewiss nicht wieder nehmen lässt.
Bild am Seitenanfang: The Ladder of Divine Ascent
Saint Catherine's Monastery, Public domain, via Wikimedia Commons