Zur Selbstprüfung

der Gegenwart empfohlen.

Von

S. Kierkegaard.

 

Nach der dritten Auflage des Originals

aus dem Dänischen übersetzt

und mit einer Charakteristik des Verfassers versehen

von

 

Chr. Hansen,

+ als Kandidat der Theologie.

 

Zweite Auflage.

 

Erlangen.

Verlag von Andreas Deichert.

1869.  

 

VORWORT

Dem Wunsche des Herrn Verlegers, die Arbeit meines teuren Freundes Hansen für den neuen Druck durchzusehen, habe ich gerne nachgegeben in dankbarer Erinnerung an den so früh Entschlafenen, der mit dieser Übersetzung ange-fangen hatte, an der Aufgabe sich zu beteiligen, die den schleswigschen Theo-logen sonderlich beschieden zu sein scheint, nämlich die Vermittler zu machen zwischen der lutherischen Kirche des skandinavischen Nordens und Deutsch-lands. Dieser Aufgabe widmete er seine Kräfte und seine Studien, wie noch seine letzte Arbeit bezeugt, die Schrift über den Grundtvigianismus, sein Wesen und seine Bedeutung, Kiel 1863. Kierkegaard hat im Norden durch seine Schrift-stellertätigkeit großes Aufsehen gemacht, nicht nur in seinem Vaterlande Däne-mark, sondern auch in Norwegen und Schweden; noch immer haben die von ihm aufgeregten Wogen sich nicht ganz wieder gelegt. Er ist für die skandinavische Kirche eine geschichtliche Persönlichkeit geworden, und dieser Umstand wird es bei Allen hinlänglich rechtfertigen, dass die vorliegende Schrift in einer neuen Auflage geboten wird. Zwar ist Kierkegaard auch in deutschen Kirchenge-schichten wie bei Hase und Kurtz genannt, aber im Allgemeinen weiß man doch in Deutschland wenig von ihm, wie ja überhaupt die Kenntnis der kirchlichen Zustände des Nordens bei uns eine ziemlich beschränkte ist. Aus der Feder eines Skandinaviers, des Norwegers J. C. Heuch, brachte die Zeitschrift für die gesamte lutherische Theologie und Kirche im Jahre 1864 einen Aufsatz über Kierkegaard, der die von Hansen auf den nächsten Blättern gegebene Skizze wesentlich ergänzt und sehr verdient gelesen zu werden. Und in der Zeitschrift für Protestantismus und Kirche 1868 Bd. 55 S. 119 ist von einem der dänischen Kirche mit Liebe und Aufmerksamkeit zugewandten Manne in Aussicht gestellt, er werde „das Bild dieses originellen, dänischen Denkers,“ zeichnen. Von den Schriften Kierkegaards selbst jedoch ist unseres Wissens noch keine ins Deutsche übersetzt als die Sammlung seiner letzten kirchenstürmenden Aufsätze unter dem Titel: „Staat, Christentum und Kirche.“ Diese aber, abgesehen davon, dass die Übersetzung für deutsche Leser fast ungenießbar ist, zeigt den Schrift-steller auf einem Irrwege, zu dem er zwar seiner ganzen Eigentümlichkeit nach hinneigte, den er aber doch erst am Ende seines Lebens wirklich betrat. Da erscheint uns ein Mann, der nicht nur die Schäden und Unwahrheiten des landläufigen Staatskirchentums schonungslos aufdeckt, sondern der auch die kirchliche Gemeinschaft selbst auflöst und das Amt der Kirche als solches bekämpft, der den Einzelnen in unverständiger Weise losreißt vom Leben des Ganzen in der Gegenwart und in der früheren Geschichte und damit den Bestand der Kirche wie die Gesundheit des christlichen Einzellebens bedroht. Solches das Bild des Verirrten. Dagegen enthalten die nachfolgenden Blätter, die aus einer früheren Lebenszeit stammen, das Bild eines Mannes, der mit tief ein-schneidendem Ernste alles unwahre Wesen, wie es in der Christenheit unserer Tage herrscht, enthüllt und straft; der allem christlichen Scheine entgegentritt und die trügerischen Reden und Gründe, mit denen man sich selbst so gerne, um dem Ernste des göttlichen Wortes aus dem Wege zu gehen, täuscht und belügt, in ihrer ganzen Nichtigkeit und Nichtswürdigkeit darlegt. So erfordert es schon die Billigkeit, jenem Bilde gegenüber auch das der bessern Zeit zu erneuern; und wie diese Reden Kierkegaards bei ihrer ersten Wanderung durch Deutschland Manchen zur Besinnung über sich selbst gemahnt haben, so wird es ihnen viel-leicht auch jetzt, wo sie den Weg von Neuem beginnen, gegeben hie und da Einen zur Buße zu rufen, damit er mit allem Ernste und in aller Wahrheit ein christliches Leben führe in der Gemeinschaft der Brüder.

 

Erlangen 1869.

                                                                   Prof. G. Plitt.  

 

 

INHALT.

Seite

Leben und Charakteristik des Verfassers                                                 1

 

Eine Vorbemerkung                                                                                  23

 

I. Was erforderlich ist, um sich mit wahrem Segen

im Spiegel des Wortes zu betrachten.

(Am fünften Sonntag nach Ostern)                                                           52

 

II. Christus ist der Weg.

(Am Himmelfahrtstage)                                                                            105

 

III. Der Geist ist es, der da lebendig macht.

(Am ersten Pfingsttage)                                                                           136  

 

 

LEBEN UND CHARAKTERISTIK DES VERFASSERS.

Zur Verdeutschung des vorliegenden Büchleins ist der Übersetzer von dem Wunsche bewogen worden, dass der ebenso tiefsinnige als beredte, ebenso philosophisch und christlich durchgebildete als originelle Verfasser auch in Deutschland etwas bekannter werde und die empfänglichen Gemüter an seinem Teile zur Wahrheit weise. Wenn deutsche Leser durch die kürzlich in einer schlechten Übersetzung unter dem Titel “Christentum und Kirche“ erschienenen Flugschriften aus den letzten Lebenstagen Kierkegaards vielleicht den Eindruck empfangen haben sollten, als gehöre dieser Schriftsteller zu den bloß nieder-reißenden, feindseligen Geistern, so möchten die vorliegenden Reden (die übrigens nicht wirklich gehalten worden sind) geeignet sein, ihn von einer andern, wahreren und besseren Seite zu zeigen, und in einem engen Rahmen ein Bild seiner ganzen Eigentümlichkeit zu geben, möchten aber auch namentlich helfen können, die wichtigen Momente der Wahrheit, für welche er vorzugsweise Sinn und Augen gehabt hat, einzuschärfen und zur Geltung zu bringen. Zur Orien-tierung für deutsche Leser lässt der Übersetzer hier noch einen kurzen Abriss von S. Kierkegaard’s Leben und Anschauungen vorausgehen, wohl wissend, dass er freilich damit keineswegs die Bedeutung dieses primitiven religiösen Denkers eingehend und in rechter Würdigung darzustellen im Stande ist. Sören Aaby Kierkegaard, geb. in Kopenhagen 1813, ward Student 1830, Kandidat der Theologie 1840, magister artium 1841. Darauf unternahm er eine wissenschaft-liche Reise nach Berlin, zunächst um sich mit der neueren Schelling’schen Philosophie bekannt zu machen, und kehrte im Frühjahr 1842 zurück. Seitdem hielt er sich beständig in Kopenhagen auf. Seine äußeren Umstände setzten ihn in den Stand, unabhängig zu leben; er war unverheiratet, und führte ein ein-sames, stilles Leben, beschäftigt mit philosophischen und theologischen Studien und einer außerordentlich umfassenden schriftstellerischen Tätigkeit, bis er, zum Teil aufgerieben durch die innere Anstrengung seines Kampfes für das, was er als Wahrheit erkannt hatte, am 11. Nov. 1855 in dem Friedrichs-Hospitale starb. Seine ganze Wirksamkeit kann nur verstanden werden, wenn sie als Kampf und Korrektiv gegen eine falsche Richtung des Zeitgeistes aufgefasst wird: gegen jedes eitle Streben, welches in der Einbildung und mit dem Scheine, das Höchste schon ergriffen zu haben oder ihm nachzujagen, die Menschenseele um das Höchste betrügt, indem es sich daran genügen lässt, die Lebenswahrheit ästhetisch oder spekulativ oder politisch aufzufassen, und somit zu ihr nur in einem abstrakten Verhältnisse zu stehen, während der innerste Kern der Persönlichkeit von ihr unberührt und gegen sie gleichgültig bleibt. Als K. 1843 mit „Entweder – Oder“ seine pseudonyme Schriftstellerei begann, hatte die Be-geisterung für die Hegel’sche Philosophie fast die ganze literarische Welt Dänemarks, namentlich die studierende Jugend, ergriffen. Dr. Martensen, der als Professor der Theologie mit dem größten Beifall Vorlesungen hielt, war zu der Zeit wohl nicht frei von jener Überschätzung der Spekulation, die sich rühmte, den Glauben zum Wissen „erheben“ zu wollen. Die jungen Theologen schaukel-ten sich lustig in den hohen Regionen des abstrakten Denkens, und lebten der Einbildung, in ein paar Semestern in eine Weisheit eingeweiht werden zu können, welche die Erfahrung eines ganzen Lebens überflüssig mache. Dem eitlen Überfliegen der Wirklichkeit und ihrer heiligsten Angelegenheiten stellten Kierkegaard‘s pseudonyme Schriften die alte sokratische Unterscheidung dessen, was man weiß und dessen, was man nicht weiß, entgegen, und machten den Glauben als das Höchste geltend, als dasjenige, worüber man so wenig hinwegeilen kann, indem man „weiter geht“ (d.h. indem man auf dem Wege des Denkens weiterschreitet und den in dem ersten Stadium des Wissens ver-schwundenen Glauben als aufgehobenes Moment, als Glied des Systems, wiederfindet), dass vielmehr die Anstrengungen eines ganzen Menschenlebens nicht genügen, um zum Glauben zu gelangen, – dass man ihn nur gewinnt durch einen „Sprung kraft des Absurden,“ durch einen Akt, in welchem der Mensch mit Aufgeben von Allem, was sein eigen ist, sich der Gnade in die Arme wirft. Indem K. mit scharfer Dialektik das Verhältnis des Glaubens zum objektiven Wissen, zur Spekulation und zum „System“ beleuchtet, kommt er, was die Begreiflichkeit der Dogmen betrifft, zu einem ebenso negativen Resultat, wie Bayle oder Feuerbach. Aber darin ist er grundverschieden von diesen Zweiflern, dass er gerade in dieser Negation den Ausgangspunkt für eine neue und höhere Entwicklung findet. Statt mit Feuerbach zu schließen: „das Wissen widerspricht dem Glauben, also ist der Glaube eine Illusion,“ kehrt K. das Verhältnis um: „Gerade weil der Glaube das Absolute ist, ist er für die Vernunft ein Paradox.“ Statt mit Bayle bei dem allge-meinen Zugeständnis stehen zu bleiben, dass die geoffenbarte Wahrheit, obwohl sie unbegreiflich ist, Gegenstand des Glaubens sein müsse, und dann im Übri-gen es unentschieden zu lassen, inwiefern es nun auch dem Denker möglich sei, ohne Heuchelei und Selbstwiderspruch ein Gläubiger zu sein, strebt K., durch seine religiösen Schriften es in jeder Beziehung verständlich und psychologisch erklärlich zu machen, wie ein reflektierendes Bewusstsein die negativen Ele-mente der Kultur, Kritik und Philosophie in sich aufnehmen und dann doch die göttliche Überlegenheit der geoffenbarten Wahrheit erkennen und sich vor den Idealen des Evangeliums beugen könne. Der Kierkegaard’sche Standpunkt ist in der Kürze bezeichnet durch den Satz: die Subjektivität ist die Wahrheit; oder: das Wie der Wahrheit ist gerade die Wahrheit. Dieser Satz steht bei K. nicht in Widerspruch damit, dass es keine subjektive Wahrheit gibt ohne Voraussetzung einer objektiven: ebenso wenig ist es seine Meinung, dass jedes Subjekt, jede noch so zufällige oder willkürliche Individualität berechtigt sein solle, da es im Gegenteil die ewige Wahrheit ist, die ausdrücklich als die absolute Subjektivität, als das Ziel der relativen, an sich unwahren Subjektivitäten anerkannt wird. Insofern die relative Subjektivität außerhalb der Wahrheit steht, ist ihr Zustand wesentlich Verzweiflung. Die Verzweiflung ist, religiös verstanden, „die Krankheit zum Tode;“ es gilt nun zu entdecken, worin diese Krankheit bestehe, ihre verschiedenen Symptome zu erkennen, und zu zeigen, durch welche Mittel und unter welchen Bedingungen sie sich heilen lässt. – Dass die Subjektivität die Wahrheit ist, heißt zugleich, dass die Wahrheit die Innerlichkeit ist; je mehr Wahrheit in einem Menschen ist, je tiefer seine Persönlichkeit, desto größer ist die Innerlichkeit. Die Prüfung der Wahrheit wird daher eine Prüfung der Persönlichkeit, eine Prüfung der Innerlichkeit. Als Bedingung der kräftigen Entwicklung der Subjektivität, Innerlichkeit und Persönlichkeit wird erfordert, dass jeder Mensch sich als „den Einzelnen“ wissen muss. Indem K. die Kategorie des „Einzelnen“ einschärft, zielt er polemisch auf die “Menge,“ auf das “Numerische,“ auf das egoistische Zusammenhalten der Charakterlosigkeit, die immer das Gesetz ihrer Existenz außer sich hat. Jeder Mensch ist, indem er „der Einzelne“ ist, ursprünglich auf sich selbst und sein Verhältnis zu Gott gewiesen; das hindert nicht, dass er mit Andern zusammenwirke, wenn nur jeder Einzelne ursprünglich sich selbst und sein Ziel in’s Auge fasst. Jedoch kommt K. auf diese Weise dazu, – und hier liegt ein Grundfehler seiner ganzen Anschauung und seiner von ihr geleiteten Tätigkeit – die große Bedeutung der Gemeinschaft für den Glauben und das Christentum zu übersehen und zu verkennen. Das wahre Christentum kennt er nur unter der Form der Isolierung; der “Geistesmensch“ unterscheidet sich von „uns Menschen“ durch seine Kraft, die Isolierung ertragen zu können. „Das Christentum ist Leiden:“ das Leiden des Hasses seiner selbst und der Welt, des Alleinseins mit Gott, des Alleinstehens gegenüber den Forderungen des Ideals und des Vorbildes. „Der Glaube muss Christo gleichzeitig werden:“ d.h. ihn in seiner Erniedrigung und Verkennung dennoch als den Heiland erfassen, so wie die ersten Jünger es taten, und in seinem eignen Leben das Leben Christi nachbilden. Jener Glaube, der an ihn zunächst um seiner Erhöhung willen glaubt, oder weil so viele Jahrhunderte bisher Christi Namen bekannt haben und also für ihn Zeugnis ablegen, ist kein Glaube zu nennen. Allen bestehenden Formen der kirchlichen Gemeinschaft haftet daher auch eine wesentliche Unvollkommenheit an, und sie haben nur eine relative Berechtigung. Sie dürfen nur auf eine gewisse Anerkennung Anspruch erheben, wenn man sich dabei bewusst bleibt, wie weit man noch von der Erreichung des Ideales entfernt ist, und wie wenig man doch verträgt, mit diesem wahren Maßstabe gemessen zu werden. Will sich das bestehende Christentum, „das offizielle Christentum,“ für eine dem Wesen entsprechende Gestaltung des Reiches Gottes ausgeben und sich durch die Zugehörigkeit zu ihm in seiner Selbstzufriedenheit beruhigen, so muss gegen dasselbe der gleiche Kampf geführt, die gleiche Einsprache zu Gunsten der Wahrheit erhoben werden, wie gegen die Anmaßung der Spekulation. Die Auf-fassung vom Christentum, und die christlich heißende Anregung, wie sie der Gegenwart eigen ist, darf nicht für Anderes oder Mehr genommen werden, als für eine Ruhe unter der Langmut Gottes, die er einem Geschlechte gewährt, wel-ches durch den Übermut und den Leichtsinn mehrerer Generationen verweich-licht und erschlafft ist, in Bezug auf sein Verhältnis zum Ewigen. Darum hält K. der Zeit und dem dänischen Volke seiner Zeit einen Spiegel vor, in dem sie sich beschauen möge, damit sie ihrer Nacktheit und Blöße inne werde. Darum will er ihr das nötige Korrektiv hinstellen, damit gefühlt und anerkannt werde, dass Welt und Christentum scharf geschieden, dass jenes dieser durchaus ungleichartig sei, und damit die Zeit und der Einzelne wenigstens in Demut spreche: Nicht dass ich’s schon ergriffen hätte. „Nie habe ich,“ sagt er, „so gekämpft, dass ich gesagt hätte: ich bin der wahre Christ, die Andern sind nicht Christen, oder wohl sogar Heuchler u. dgl. Nein, ich habe so gekämpft: ich weiß, was Christentum ist; meine Unvollkommenheit als Christ erkenne ich selbst – aber ich weiß, was Christentum ist. Und zu diesem Wissen zu kommen, scheint mir in jedes Menschen Interesse sein zu müssen, er sei nun Christ oder Nicht-Christ, er beabsichtige, das Christentum anzunehmen oder es aufzugeben. – Die lange Zeit gebrauchte Taktik war: Alles anzuwenden, um so Viele wie möglich, wo möglich Alle, dazu zu bewegen, auf’s Christentum einzugehen – aber dann es nicht so ganz genau damit zu nehmen, ob nun das, worauf man sie einzugehen bewog, wirklich Christentum war. Meine Taktik war: mit Gottes Beistand Alles anzuwenden, um es klar zu machen, was in Wahrheit die Forderung des Christentums ist, – ob auch nicht ein Einziger darauf eingehen wollte, ob ich’s auch selbst hätte aufgeben müssen, Christ zu sein, was in solchem Falle öffentlich anzuerkennen ich mich für verpflichtet gehalten haben würde. Andrer-seits war meine Taktik diese: statt im Entferntesten den Schein zu nähren, als ob doch solche Schwierigkeiten beim Christentum wären, dass eine Apologie vonnöten würde, wenn wir Menschen darauf eingehen sollen, bemühte ich mich vielmehr, es der Wahrheit gemäß als etwas so unendlich Hohes darzustellen, dass die Apologie ganz anderswohin fällt. Es kommt uns zu Gute wenn wir uns Christen zu nennen wagen und die Apologie verwandelt sich in ein bußfertiges Bekenntnis, dass wir Gott danken, wenn wir uns nur selbst für Christen ansehen dürfen. Doch auch dies andere darf nicht vergessen werden. Ebenso streng wie das Christentum ist, ebenso milde ist es auch, d.h. unendlich milde. Wenn die unendliche Forderung gehört und zur Geltung gebracht ist, dann bietet sich die „Gnade“ dar, zu welcher dann der Einzelne, ein Jeder für sich, wie ich es tue, seine Zuflucht nehmen kann, und dann geht es wohl. Und es ist doch keine Übertreibung, wenn die unendliche Forderung in ihrer Unendlichkeit dargestellt wird, was ja zugleich im Interesse der „Gnade“ ist; es ist nur, in anderer Hinsicht, Übertreibung, wenn die Forderung allein dargestellt wird und von der Gnade gar nicht die Rede ist. Dagegen heißt es, das Christentum auf Mutwillen ziehen, wenn die „unendliche“ Forderung verendlicht oder wohl gar ganz ausgelassen, und die „Gnade“ ohne weiteres angebracht wird, welches ja bedeutet, dass sie auf Mutwillen gezogen wird. – Aber nie habe ich im Entferntesten Miene ge-macht, die Sache in Pietistischer Strenge behandeln zu wollen, die meinem Wesen fremd ist, oder die Existenzen übermäßig anstrengen zu wollen, was den Geist in mir betrüben würde. Nein. Wozu ich habe beitragen wollen, das ist, mit Hilfe von Zugeständnissen wo möglich etwas mehr Wahrheit in diese (in Hinsicht darauf, ein ethisch-religiöser Charakter zu sein, für die Wahrheit leiden zu wollen u. dgl.) unvollkommneren Existenzen, wie wir sie führen, hineinzubringen, welches doch immerhin Etwas, und in jedem Falle die erste Bedingung ist, um dazu zu kommen, tüchtiger zu existieren.“ So redet denn K. als ein christlicher Sokrates zu seiner Zeit, in der er wie ein Fremder, wie eine einsame Gestalt dasteht, während er doch an ihren höheren Angelegenheiten sich mit allem Interesse beteiligt, und ihre Bewegungen mit dem scharfen Blicke eines Be-obachters, mit der allzeit wachen Aufmerksamkeit eines Spähers verfolgt. –

S. Kierkegaard ist ein Meister in allen Arten und Formen der Darstellung. Er unterscheidet scharf zwischen drei eigentümlichen Lebensanschauungen: einer ästhetischen (im weiteren Sinne), der nach außen gerichteten, deren Ziel wesentlich Genuss ist; einer ethischen, deren Aufgabe er wesentlich als Pflicht-erfüllung und gemütliches Dasein fasst; und einer religiösen, deren absoluter Inhalt der Glaube ist. Jeder dieser Lebensanschauungen entspricht eine eigen-tümliche Existenz, oder kann ihr wenigstens entsprechen. Nur in einer derselben kann man zu gleicher Zeit existieren. Freilich kann dieselbe Individualität ästhetische, ethische und religiöse Elemente in ihrem Charakter haben, und zwar desto mehr, je reicher ihre Anlage und je allseitiger ihre Entwicklung ist: aber auf einmal beides als Ästhetiker und als Ethiker und als Glaubenszeuge zu existieren, oder, was dasselbe ist, das Zentrum seines Lebens auf einmal im Ästhetischen und Ethischen und Religiösen zu haben, das ist eine Unmöglichkeit, weil es ein Widerspruch ist. – Nun will K. den existentiellen Unterschied zwischen dem genießenden Ästhetiker, dem handelnden Ethiker und dem an Gott sich hingebenden religiösen Menschen durch entsprechende Charakteranalysen in’s klarste Licht stellen; und um jedem Standpunkt sein Recht widerfahren zu lassen, entwickelt er nicht nur Stimmungen und Anschauungen, zu denen er sich nicht selbst bekennen kann, sondern lässt auch die fremde Existenz so selbständig auftreten und so das Wort führen, dass er einen fremden Verfasser fingiert und den wirklichen ganz hinter denselben zurücktreten lässt. Dies der Grund, warum so viele seiner Schriften pseudonym sind, andre halb pseudonym (indem er sich als Herausgeber nennt, wo er wohl mit der ganzen dargestellten Geistesrichtung in Übereinstimmung steht, aber nicht geradezu sich die entsprechende Existenz vindicieren und daher nicht wie in seinem eignen Namen reden kann), während andre endlich seinen eignen Namen tragen. Von Anfang an hat er das eine Ziel, „auf das Religiöse, das Christliche aufmerksam zu machen,“ doch nicht in der Weise eines Apostels, der „Gewalt hat,“ sondern nur in der Weise, dass er auf die Aufgabe hinweist, und es einem Jeden überlässt, den gegebenen Wink zu verstehen, und sich selbst zu der rechten Erfassung hindurcharbeiten. Darum beginnt er, wie er selbst sagt, „mäeutisch,“ mit der Darstellung des Ästhetischen, worin die Meisten befangen sind, will auf die Weise die Aufmerksamkeit fesseln, und dann den inneren Widerspruch dieser Lebensanschauung, in der man sich selbst verliert, weil man sich an die Außenwelt hingibt, zum Bewusstsein bringen, um von dem Ästhetischen hinweg, durch das Ethische hindurch, zum Religiösen hinzuführen. Letzteres „wird so schnell eingeführt dass diejenigen, welche, vom Ästhetischen bewegt, ihm zu folgen beschließen, plötzlich mitten in den entscheidenden christlichen Bestimmungen stehen, veranlasst, wenigstens aufmerksam zu werden.“ So will er durch „indirekte Mitteilung“ in die Wahrheit hineinlocken, und dem Sinnenbetrug, der von Anfang an da ist, dass man nämlich in der Christenheit sein selbstverständlich als gleich erachte mit Christ sein, entgegenarbeiten. Nebenher aber geht in den erbaulichen Reden die „direkte Mitteilung,“ die später, nachdem die Pseudonymen ihr Ziel erreicht haben, die allgemein herrschende wird. Und diese letztere möchte doch auch die am meisten fruchtbringende sein. Wir nennen hier nur die wichtigsten seiner vielen Schriften. In „Entweder – Oder, ein Lebensfragment von Victor Ere-mita“ (1842) stellt K. mit feiner psychologischer Charakterzeichnung ein ästheti-sches und ein ethisches Lebensbild neben einander, und hebt den Gegensatz beider Richtungen aufs Stärkste hervor. Eins von beiden: die unklare Mischung ist Charakterlosigkeit. In „Furcht und Zittern, dialektische Lyrik von Johannes de silentio“ (1843) erhebt sich der Pseudonymus kühn und sicher zu den höchsten Regionen des Lebens, um dann wieder einen scharfen Blick in die geheimen Tiefen der Seele zu werfen in dem „Begriff Angst, simple psychologisch hin-weisende Erwägung in Beziehung auf das Problem der Erbsünde, von Vigilius Hafniensis“ (1844). In den „Stadien auf dem Wege des Lebens, Studien von Verschiedenen, zusammengebracht, zum Druck befördert und herausgegeben von Hilarius Buchbinder“ (1845) werden wieder die verschiedenen Grund-richtungen dargestellt, und namentlich der Seelenkampf des Religiösen, der mit der Welt brechen muss, gezeichnet. – Die großen Probleme und Aufgaben des Christentums werden eingeschärft in den halb-pseudonymen Schriften, die den Namen des Climacus tragen: jener, dessen Existenz noch außerhalb des Christentums fällt, hat seinen Standpunkt eine Stufe tiefer, dieser, der aus religiöser Erfahrung und als Bußprediger redet, hat seinen Standpunkt eine Stufe höher als der wirkliche Verfasser, der sich deshalb auch nur als Herausgeber bezeichnet hat. Es sind folgende: „Philosophische Bissen oder ein Bischen Philosophie, von Johannes Climacus, herausgegeben von S. Kierkegaard“

(1844); „abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Bissen, von H. Climacus, herausgegeben von S. K.“ (1846); „die Krankheit zum Tode, eine christliche psychologische Entwicklung, von Anti-Climacus, heraus-gegeben von S. K. (1849); „Einübung im Christentum, von Anti-Climacus, herausgegeben von S. K.“ (1850). – Die nicht pseudonymen Schriften endlich sind meist erbaulichen Inhalts: eine ziemliche Anzahl Reden in verschiedenen Heften (1843-1851) von denen aber die wenigsten wirklich gehalten sind; „erbauliche Reden in verschiedenem Geiste“ (1847); „die Werke der Liebe, einige christliche Erwägungen in der Form der Rede“ (1847); „christliche Reden“ (1848); endlich das vorliegende Büchlein (1851). Über sein gesamtes Wirken hat sich K. selbst ausgesprochen in der Schrift: „über meine Tätigkeit als Schriftsteller“

(1851); und in „der Gesichtspunkt für meine Tätigkeit als Schriftsteller, eine direkte Mitteilung, Rapport an die Geschichte“ (nach seinem Tode 1859 heraus-gegeben). S. K. zeigt, wo er theoretische Untersuchungen anstellt, eine überaus reiche Reflektion, die fast alle Erscheinungen des Lebens und alle psycho-logischen Rätsel in ihren Kreis zieht, eine scharfe, unermüdliche, obwohl oftmals verwickelte Dialektik, und eine große Gewandtheit der wechselnden Dar-stellungsformen. Er spielt und glänzt vielfach mit Witz, Satire, Ironie und Humor, doch so, dass die tiefen, ernsten Grundakkorde je und je hindurchgehört werden, und er sich stets mit Ehrfurcht vor dem Christlichen als dem höchsten Phänomen und dem höchsten Ziele des Lebens beugt. In den Schriften mehr unmittelbar praktischer Tendenz redet er mit gewaltigem Ernste, in schlagenden Beispielen und treffenden Bildern (die allerdings mitunter unschön werden, gleichwie seine Vorliebe für Wortspiele zuweilen ermüdet), und sucht den Lesern so nahe zu kommen, so kräftig auf sie einzudringen, wie nur möglich, um sie nicht ent-schlüpfen zu lassen, sondern im Gewissen zu packen: um sie aus ihrer Lauheit, Gemächlichkeit, Selbstzufriedenheit aufzurütteln, vor falschem Vertrauen auf die Gnade zu warnen, und zur Buße und Bekehrung aufzufordern. – Während K. bisher nur bei einem Teile der philosophisch und theologisch Gebildeten, und, was seine erbaulichen Schriften betrifft, bei tieferen Gemütern Aufmerksamkeit und Beachtung gefunden hatte – wie denn vielleicht erst der Zukunft ein völligeres Verständnis seiner Schriften aufbehalten ist – so führte er den Kampf, den er als seine Lebensaufgabe betrachtete, in seinem letzten Lebensjahre auf eine Weise, die wenigstens die allgemeinste und lebhafteste Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Der bisherige hochverdiente Bischof von Seeland, Dr. J. P. Mynster, war am 30. Januar 1854 gestorben, und sein Nachfolger, Dr. Martensen, hatte ihm in der Gedächtnisrede das wärmste Lob gespendet, ihn als „Wahrheits-zeugen,“ als Glied der heiligen Kette der Apostel und Märtyrer und der Zeugen aus allen Jahrhunderten bezeichnet. S. K. glaubte sich verpflichtet, hiergegen die schärfste Einsprache zu erheben, indem er meinte, man dürfe nicht auf diese Weise einen Geistlichen mit dem höchsten Maßstabe messen, ohne zugleich den Abstand zwischen den Forderungen dieses Maßstabes und der Persönlichkeit, an welche man ihn gerade anlege hervorzuheben, so sehr er auch früher gerade dem ehrwürdigen Mynster Ehrerbietung gezollt hatte. Da das Christentum zu der Welt im entschiedensten Gegensatz und Widerspruch stehe, und das Vorbild, der Sohn Gottes, in Armut und Niedrigkeit, in Verachtung und Verkennung und Leiden auf Erden gewandelt habe, so könne von einem „Wahrheitszeugen,“ von einem „Gliede der heiligen Kette“ nur da die Rede sein, wo das Leben eines Menschen wirklich dieses ausdrücke, dass es der Welt ungleichartig sei, während dagegen das Leben des verstorbenen Bischofs in gutem Einvernehmen mit der Welt, mit ihrer Herrlichkeit, Macht und Ehre verlaufen sei. Durch solches Menschenlob also betrüge und belüge sich die Zeit, als ob sie dem Ideal genüge, und als ob das „bestehende Christentum“ nicht bloß relative, sondern absolute Berechtigung habe: sie mache das Christentum der Welt gleichartig, d.h. sie schaffe das Christentum ab. So wurde dieser Fall für K. Veranlassung, nicht bloß den einzelnen Geistlichen, sondern die Geistlichkeit überhaupt und das „offizielle Christentum“ in Flugschriften, die für die Masse berechnet waren oder deren Polemik wenigstens von ihr nur zu gut verstanden und nur zu beifällig aufge-nommen wurde, mit der maßlosesten Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit anzu-greifen. Die Geistlichen seien ihrem Berufe untreu geworden, insgesamt Wölfe in Schafskleidern; das „bestehende Christentum“ sei nicht das des N.T., sondern diene nur, die Seelen in Schlaf zu wiegen und drohe sie um ihre Seligkeit zu betrügen; wer am öffentlichen Gottesdienste nicht Teil nehme, habe doch immer eine Sünde weniger auf dem Gewissen usw. Diese und ähnliche Sätze wurden namentlich im „Augenblick, Nr. 1-9“ (1855) (Anm.: Ungenießbar und stümperhaft in’s Deutsche übersetzt unter dem Titel: „Christentum und Kirche (der Augen-blick).“ Altona, bei Hestermann, 1861.) unter’s Publikum hinausgeschleudert. Natürlich wurden sie von verschiedenen Seiten bekämpft, man beteiligte sich für und wider, und es entstand eine ganze Literatur von Zeitungsartikeln und Broschüren. Mitten in der Hitze des Kampfes starb der Anführer, dessen Kraft erschöpft war, und das Geschrei des Streites verstummte allmählich. Was an Kierkegaard’s Behauptungen Wahres war, hat, so weit sein Wort reichte, nicht verfehlt, Manche der Diener der Kirche wie der jüngeren Theologen dazu zu führen, die hohe Verantwortlichkeit des geistlichen Amtes mehr zu fühlen, sich ernster auf ihre Aufgabe zu besinnen und der Erfüllung derselben nachzu-trachten. Wolle der Herr auch Deutschen Lesern diese Blätter zum Segen ge-reichen lassen!  

 

VORWORT.

Mein lieber Leser! lies, wo möglich, laut! Tust Du es, lass mich Dir dafür danken; tust Du es nicht nur selbst, sondern bewegst auch Andere dazu, lass mich Jedem von ihnen danken, und Dir noch einmal und abermal! Du wirst, wenn Du laut liesest, am stärksten den Eindruck bekommen, dass Du es einzig mit Dir selbst zu tun hast, nicht mit mir, der ja „ohne Gewalt“ ( D. i. ohne amtliche Gewalt. A. d. Ü.) ist, auch nicht mit Andern, was Zerstreuung sein würde.

 

August 1851.                                                                 S. K.

 

„Dieweil wir denn wissen, dass der Herr zu fürchten ist, fahren wir schön mit den Leuten“ (2 Kor. 5,11). Denn gleich damit anzufangen oder zuerst, Menschen gewinnen zu wollen, das ist vielleicht sogar Gottlosigkeit, jedenfalls weltliche Sinnesart, nicht Christentum, so wenig wie es Furcht Gottes ist. Nein, lass Dein Streben zuerst, lass es zuerst und vor Allem ausdrücken, dass Du Gott fürchtest. – Darnach habe ich gestrebt.

Aber Du, o Gott, lass mich nie vergessen, dass, ob ich auch nicht einen einzigen Menschen gewönne – wenn nur mein Leben (denn die „Versicherung“ des Mun-des ist trügerisch!) ausdrückt, dass ich Dich fürchte: dies heißt: „Alles gewonnen!“ Und dass dagegen, ob ich alle Menschen gewönne, – wenn mein Leben (denn die „Versicherung“ des Mundes ist trügerisch!) nicht ausdrückt, dass ich Dich fürchte: dies heißt: „Alles verloren!“

 

Im Sommer 1851.  

 

- Fortsetzung -