Luther - Gottes Gnade

 

Gottes Gnade unter dem Anschein des Gegenteils

 

(Martin Luther, Auslegung zu Psalm 117, zitiert nach Walch, 2. Ausgabe, Bd. 5, Sp. 1163-1164, Rechtschreibung angepasst)

 

„Lobet den Herrn, alle Heiden, preiset ihn, alle Völker. 

Denn seine Güte und Treue waltet über uns ewiglich, Halleluja.“

(Psalm 117,1-2)

 

Die Gnade scheint äußerlich, als sei es eitel Zorn, so tief liegt sie verborgen, mit den zwei dicken Fellen oder Häuten zugedeckt, nämlich, dass sie unser Widerteil und die Welt verdammen, und meiden als eine Plage und Zorn Gottes, und wir selbst auch nicht anders fühlen in uns; dass wohl Petrus sagt (2. Ep. 1,19.), allein das Wort leuchte uns, wie in einem finstern Orte; ja freilich, ein finsterer Ort! 

Also muss Gottes Treue und Wahrheit auch immerdar zuvor eine große Lüge werden, ehe sie zur Wahrheit wird. Denn vor der Welt heißt sie eine Ketzerei; so dünkt uns auch selbst immerdar, Gott wolle uns lassen, und sein Wort nicht halten, und fähet an in unsern Herzen ein Lügner zu werden. Und Summa, Gott kann nicht Gott sein, er muss zuvor ein Teufel werden; und wir können nicht gen Himmel kommen, wir müssen vorhin in die Hölle fahren; können nicht Gottes Kinder werden, wir werden denn zuvor des Teufels Kinder. Denn alles, was Gott redet und tut, das muss der Teufel geredet und getan haben, und unser Fleisch hält selbst auch dafür, dass uns genau und nehrlich der Geist im Worte erhält, und anders glauben lehrt.

Wiederum aber, der Welt Lüge kann nicht zur Lüge werden, sie muss zuvor die Wahrheit werden; und die Gottlosen fahren nicht in die Hölle, sie seien denn zuvor in den Himmel gefahren, und werden nicht des Teufels Kinder, sie müssen zuvor Gottes Kinder sein. Und Summa, der Teufel wird und ist kein Teufel, er sei denn zuvor Gott gewesen; er wird kein Engel der Finsternis, er sei denn zuvor ein Engel des Lichts worden. Denn was der Teufel redet und tut, das muss Gott geredet und getan haben; das glaubt die Welt, und bewegt uns wohl selber. 

Darum ist es hoch geredet, und muss hoher Verstand hier sein, dass Gottes Gnade und Wahrheit, oder seine Güte und Treue, walte über uns, und obliege. Aber tröstlich ist es, wer es fassen kann, wenn er gewiss ist, dass es Gottes Gnade und Treue ist; und doch sich anders ansehen lässt, und mit geistlichem Trotz sagen könne: Wohlan, ich weiß vorhin wohl, dass Gottes Wort eine große Lüge werden muss, auch in mir selbst, ehe es die Wahrheit wird. Wiederum weiß ich, dass des Teufels Wort muss zuvor die zarte göttliche Wahrheit werden, ehe sie zur Lüge wird; ich muss dem Teufel ein Stündlein die Gottheit gönnen, und unserm Gott die Teufelheit zuschreiben lassen; es ist aber damit noch nicht aller Tage Abend, es heißt doch zuletzt: „Seine Güte und Treue waltet über uns.“