Luther - Mensch

 

Philosophie und Theologie über den Menschen

 

(Martin Luther, Disputation vom Menschen, 1536, zitiert nach Walch, 2. Ausgabe, Bd. 19, Sp. 1462-1467, Rechtschreibung angepasst)

 

1. Die Philosophie, oder menschliche Weisheit, beschreibt den Menschen als ein Tier, das Vernunft, Empfindung und einen Körper hat. 

2. Nun ist's unnötig, darum zu streiten, ob der Mensch im eigentlichen, oder un-eigentlichen Sinne ein Tier genannt werde. 

3. Das muss man aber wissen, dass diese Beschreibung nur auf den sterblichen Menschen gehe, und zwar in diesem Leben. 

4. Und es ist freilich wahr, dass die Vernunft unter allen Dingen das Vornehmste und die Hauptsache, und vor allen anderen Dingen dieses Lebens das Beste, und etwas Göttliches sei. 

5. Denn sie ist die Erfinderin und Regiererin aller Künste, der Arzeneiwissen-schaft, der Rechtsgelehrsamkeit und aller Weisheit, Macht, Tugend und Ehre, welche die Menschen in diesem Leben besitzen. 

6. Dass man sie daher mit Recht den wesentlichen Unterschied nennen muss, durch welchen sich der Mensch von den Tieren und andern Dingen unterschei-det. 

7. Auch die heilige Schrift macht sie zu einer Herrin über die Erde, Vögel, Fische, und über das Vieh, und spricht: „Herrschet” etc. 

8. Das ist, dass sie sei eine Sonne und eine Art Gottheit, die zur Regierung die-ser Dinge in diesem Leben gesetzt ist. 

9. Und diese Herrlichkeit hat Gott nach dem Falle Adams der Vernunft nicht ge-nommen, sondern vielmehr bestätigt. 

10. Doch dass sie etwas so Majestätisches sei, weiß selbst die Vernunft nicht

von vorn herein, sondern nur hinterher (a posteriore), (wenn sie darüber belehrt wird). 

11. Wenn man daher die Weltweisheit, oder die Vernunft selbst, gegen die Gottesgelehrtheit hält, so wird klar werden, dass wir von dem Menschen fast nichts wissen, 

12. Da man sieht, dass wir seine materiale Ursache kaum hinlänglich erkennen. 

13. Denn die Weltweisheit kennt wenigstens die wirkende Ursache nicht, glei-cherweise auch die Endursache nicht, 

14. Weil sie keine andere Endursache angibt, als den Frieden dieses Lebens, und nicht weiß, dass die wirkende Ursache Gott, der Schöpfer, sei. 

15. Über die formale Ursache aber, welche sie die Seele nennen, sind die Welt-weisen niemals einig geworden, werden auch darüber niemals einig werden.

16. Denn dass Aristoteles sie beschreibt als den ersten Trieb (actum) eines Körpers, der das Vermögen hat zu leben, damit hat er seine Leser und Zuhörer nur blenden wollen. 

17. Und es ist keine Hoffnung, dass ein Mensch sich selbst nach diesem vor-nehmsten Theile, was er sei, werde erkennen können, bis er sich in der Quelle selbst, nämlich in Gott, angeschaut hat. 

18. Ja, was kläglich ist, so hat er nicht einmal über seinen Rat oder über seine Erkenntnis volle und sichere Gewalt, sondern ist darin dem Ungefähr und der Eitelkeit unterworfen. 

19. Wie aber dieses Leben, so ist auch die Beschreibung und Erkenntnis des Menschen beschaffen, das ist, sie ist gering, unbeständig (lubrica) und gar zu körperlich (materialis). 

20. Die Gottesgelehrtheit hingegen beschreibt aus der Fülle der Weisheit den Menschen völlig und vollkommen. 

21. Nämlich, dass der Mensch sei ein Geschöpf Gottes, welches aus dem Leibe und einer lebendigen Seele bestehe, der anfänglich nach dem Ebenbild Gottes ohne Sünde erschaffen worden sei, damit er sein Geschlecht fortpflanzen und über die erschaffenen Dinge herrschen und unsterblich sein sollte, 

22. Dass er aber nach dem Fall Adams der Gewalt des Teufels, der Sünde und dem Tode unterworfen sei, einem zwiefachen Übel, welches für seine Kräfte unüberwindlich und unaufhörlich ist. 

23. Davon er auch durch niemand als durch Jesum Christum, den Sohn Gottes (wenn er an ihn glaubt), könne befreit und des ewigen Lebens teilhaftig gemacht werden. 

24. Da dieses feststeht, und dieses schönste und vortrefflichste unter allen Dingen, wie denn die Vernunft ist nach dem Falle, unter der Gewalt des Teufels steht, so muss man auch den Schluss machen: 

25. Dass der ganze Mensch und ein jeglicher Mensch, er sei König, Herr, Knecht, weise, gerecht und reichbegabt mit allen möglichen Gütern dieses Lebens, dennoch der Sünde und des Todes schuldig sei und bleibe, unter der Gewalt des Satans befindlich. 

26. Daher reden die, welche behaupten, die Natur sei nach dem Fall unverletzt geblieben, gottlos, nach ihrer Vernunft, wider die Gottesgelehrtheit. 

27. Gleicherweise diejenigen, die da sagen, wenn der Mensch tue, so viel an ihm ist, so könne er die Gnade Gottes und das (ewige) Leben verdienen. 

28. Desgleichen, die sich auf den Aristoteles (der von einem gottesgelehrten (theologico) Menschen nichts wusste) dafür berufen, dass die Vernunft die besten Dinge erstrebe. 

29. Desgleichen, dass in dem Menschen ein Licht des Angesichts Gottes sei, womit wir bezeichnet wären, das heißt, der freie Wille, welcher sowohl die Ent-schließungen (dictamen) der Vernunft recht leite, als auch den Willen gut ein-richte. 

30. Desgleichen, dass es bei dem Menschen stehe, das Gute und das Böse oder das Leben und den Tod zu erwählen etc. 

31. Alle diese verstehen nicht, was der Mensch sei, und wissen nicht, wovon sie reden. 

32. Paulus fasst Röm. 3,32. in diesen Worten: „So halten wir nun, dass der Mensch gerecht werde, ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben”, die Beschreibung des Menschen kurz zusammen und sagt: der Mensch werde durch den Glauben gerecht. 

33. Gewiss, wer da sagt, dass ein Mensch gerecht gemacht werden muss, der behauptet, dass er ein Sünder, ein Ungerechter und deshalb vor Gott schuldig sei, aber aus Gnaden selig werden muss. 

34. Und zwar nimmt er den Menschen unbestimmter Weise, das ist, ganz allge-mein, damit er die ganze Welt, oder alles, was Mensch heißt, unter die Sünde beschließe. 

35. Deshalb ist der Mensch in diesem Leben eine bloße Materie Gottes zu dem Leben in jener künftigen Gestalt. 

36. Gleichwie auch alle Kreatur, die jetzt der Eitelkeit unterworfen ist, für Gott eine Materie zu ihrer künftigen herrlichen Gestalt ist. 

37. Und wie Himmel und Erde im Anfang war zu der nach sechs Tagen vollende-ten Gestalt, das heißt, seine Materie, 

38. So ist auch der Mensch in diesem Leben (eine Materie) zu seiner künftigen Gestalt, wenn das Ebenbild Gottes erneuert und völlig in uns hergestellt sein wird. 

39. Unterdessen lebt der Mensch in Sünden und wird entweder von Tag zu Tag gerechter gemacht oder er wird unreiner. 

40. Daher will Paulus dieses Reich der Vernunft nicht einmal Welt nennen, sondern er nennt es vielmehr das Wesen (schema) dieser Welt (1 Kor. 7,31.)