Kapitel 35 - Daß in diesem Leben keine Sicherheit vor Versuchung ist.
1. Sohn! du bist nie sicher in diesem Leben, sondern so lange du lebst, hast du immer geistige Waffen vonnöthen. Du wandelst unter Feinden, und wirst zur Rechten und zur Linken angefochten. Gebrauchst du also nicht überall den Schild der Geduld, so wirst du nicht lange ohne Wunde sein. Ja, wenn du dein Herz nicht fest auf mich stellest, mit dem lauteren Willen, Alles meinetwegen zu leiden, so wirst du den heißen Streit nicht aushalten, noch die Siegespalme der Seligen erringen können. Darum mußt du mannhaft in die Reihen der Feinde eindringen, und mit starker Hand Alles niederwerfen, was sich dir widersetzt. Denn dem Ueberwinder wird das Manna gereicht; dem Muthlosen aber bleibt viel Elend.
2. Wenn du in diesem Leben Ruhe suchst; wie willst du dann zur ewigen Ruhe gelangen? Schicke dich nicht zu vieler Ruhe, sondern zu großer Geduld an. Suche den wahren Frieden nicht auf Erden, sondern im Himmel; nicht bei den Menschen, noch bei den übrigen Kreaturen, sondern bei Gott allein. Aus Liebe zu Gott mußt du Alles willig ertragen, Mühen und Schmerzen, Versuchungen, Plagen, Aengsten, Nöthen, Schwachheiten, Beleidigungen, Widersprüche, Lästerungen, Demüthigungen, Beschämungen, Verweise und Schmähungen. Das schafft Tugend, das bewährt den Jünger Christi, das erwirbt die himmlische Krone. Ewigen Lohn erhältst du von mir für kurze Mühe und endlosen Ruhm für vergängliche Schmach.
3. Meinst du etwa, du werdest geistige Tröstungen allezeit nach deinem Willen haben? Meine Heiligen haben sie nicht immer gehabt, sondern zahlreiche Beschwerden, Anfechtungen aller Art und große Trostlosigkeit. Aber sie haben in Allem geduldig ausgehalten und mehr auf Gott, als auf sich vertraut; denn sie wußten wohl, „daß dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht werth sei, die an uns geoffenbaret werden soll.“ (Röm. 8,18.) Willst du alsbald haben, was Viele nach vielen Thränen und großen Kämpfen kaum erlangt haben? Harre auf den Herrn! Sei männlich und sei stark! Verzage nicht, weiche nicht, sondern setze standhaft Leib und Seele daran zu Gottes Ehre! Ich werde vergelten in vollem Maß; ich werde bei dir sein in aller Trübsal.
Kapitel 36 - Wider die eiteln Urtheile der Menschen.
1. Sohn! setze dein Herz fest auf den Herrn, und fürchte nicht menschliches Urtheil, wenn dein Gewissen dich frei und rein spricht. Gut ist’s und selig, auf diese Weise zu leiden, und wird einem demüthigen Herzen, das Gott mehr als sich selbst vertraut, nicht schwer fallen. Viele reden viel, und darum muß man wenig glauben. Aber auch Allen genug zu thun, ist nicht möglich.
2. Obgleich Paulus Allen im Herrn zu gefallen suchte und deßhalb „Allen Alles wurde“ (1. Kor. 9,22.); doch war es ihm ein Geringes, daß er von Menschen gerichtet wurde. (1. Kor. 4,3.)
3. Er that, so viel an ihm war und so viel er vermochte, für Anderer Erbauung und Heil; aber das konnte er doch nicht verhindern, daß er von Andern gerichtet oder verachtet wurde. Deßwegen stellte er alles Gott anheim, der Alles weiß, und waffnete sich mit Geduld und Demuth gegen den Mund derer, die Böses von ihm redeten, oder auch eitle und lügenhafte Gerüchte erfanden und sonst allerlei über ihn nach ihrem Belieben aufbrachten. – Doch antwortete er bisweilen, damit er den Schwachen durch sein Schweigen kein Aergerniß gäbe.
4. Wer du bist, daß du dich fürchtest vor einem sterblichen Menschen? heute ist er, und morgen findet man ihn nirgends mehr. Fürchte Gott, und du wirst vor den Drohungen der Menschen nicht erschrecken. Wer vermag etwas wider dich mit Worten oder Schmähungen? Sich schadet er mehr, als dir, und er kann dem Gerichte Gottes nicht entfliehen, wo er auch sei. Habe du Gott vor Augen, und streite nicht mit jämmerlichen Worten. Wenn du auch für jetzt zu unterliegen und unverdiente Schmach zu leiden scheinst; so ereifere dich nicht darüber, noch schmälere durch Ungeduld deine Krone; sondern blicke vielmehr zu mir gen Himmel empor, der ich mächtig genug bin, dich aller Schmach und Ungerechtig-keit zu entreißen und einem Jeglichen zu vergelten nach seinen Werken!
Kapitel 37 - Von der reinen und völligen Selbstverläugnung, um die Freiheit des Herzens zu erlangen.
1. Sohn! verlasse dich und du wirst mich finden! Entsage deiner Willkür und aller Eigenliebe, dann wirst du großen Gewinn haben. – Denn du wirst auch höhere Gnade erlangen, sobald du dir einmal und für immer entsagt hast. Herr! wie oft soll ich mich verläugnen, und in welchen Stücken meinem Eigenwillen entsagen? Immer, und zu jeder Stunde, wie im Kleinen, so auch im Großen! Nichts nehme ich aus, in Allem will ich dich entblößt finden. – Denn wie anders kannst du mein sein, und ich dein, als wenn du von allem Eigenwillen innerlich und äußerlich losgerissen bist? Je schneller du das thust, um so besser wirst du mir gefallen, und um so größer wird dein Gewinn sein.
2. Einige verläugnen sich aber mit einigem Vorbehalt, weil sie nicht volles Vertrauen zu Gott haben und deßhalb für sich selbst sorgen wollen. Andere bringen sich Anfangs ganz dar, wenn sie aber nachher in Anfechtung fallen, so kehren sie wieder zu dem Eigenen zurück, und bringen es darum in der Tugend gar nicht vorwärts. Solche gelange nicht zur wahren Freiheit eines reinen Herzens, noch zu der Gnade des innigen Umgangs mit mir, dafern sie nicht sich vollständig verläugnen und sich mir täglich zum Opfer bringen. Nur so entsteht und besteht das selige Einssein mit mir.
3. Gar oft schon habe ich dir gesagt, und sage dir jetzt abermal: Verläugne dich, entsage dir, und du wirst großen, inneren Frieden genießen. Gib Alles um Alles hin; nimm nichts aus, begehre nichts zurück; bleib rein und unveränderlich fest in mir, und du wirst mich haben. Du wirst frei sein im Herzen, und die Finsterniß wird dich nicht überwältigen. Darnach ringe, darum bitte, darauf richte dein Verlangen, daß du von allem Eigenen dich entkleiden und nackt dem nacktem Jesum folgen, dir sterben und mir ewiglich leben mögest. Dann werden alle eiteln Einbildungen, alle lästigen Störungen und alle überflüssigen Sorgen verschwin-den. Dann wird auch weichen die unmäßige Furcht, und sterben die ungeordnete Liebe.
Kapitel 38 - Von der guten Ordnung im Aeußeren und von der Zuflucht zu Gott in Gefahren.
1. Sohn! darnach mußt du eifrig trachten, daß du an jedem Orte und bei jeder Handlung oder Beschäftigung mit den äußern Dingen innerlich frei und deiner selbst mächtig seiest; daß du Alles, nicht Alles dich beherrsche; daß du ein Herr und Regent und nicht ein Sklave, noch erkaufter Knecht deiner Handlungen seiest; sondern vielmehr ein freigelassener und wahrer Israelit, der da gelangt zum Erbtheil und zur Freiheit der Kinder Gottes; die sich erheben über die Gegenwart und schauen auf das Ewige; die das Vergängliche nur mit dem linken Auge und das Himmlische mit dem rechten ansehen; die das Zeitliche nicht anzulocken und zu fesseln vermag, sondern es vielmehr ihrem Dienste unter-werfen, wozu es geordnet und bestimmt ist von Gott, dem höchsten Werkmeister, der nichts ungeordnet ließ in seiner Schöpfung.
2. Wenn du auch bei jeglichem Ereigniß feststehest, und nicht nach dem äußern Scheine oder mit fleischlichem Auge nur das Gesehene oder Gehörte be-trachtest, sondern ohne Zögern bei Allem mit Moses in die Stiftshütte gehest, den Herrn um Rath zu fragen; so wirst du zuweilen die göttliche Antwort vernehmen und, belehrt über viele gegenwärtige und zukünftige Dinge, zurückkehren. Denn Moses nahm immer seine Zuflucht zur Stiftshütte, wenn er Zweifel und Fragen gelöst haben wollte, und suchte Hülfe im Gebet, um Gefahren und die Bosheit der Menschen abzuwenden. So flüchte auch du dich in das Kämmerlein deines Herzens, um den göttlichen Beistand desto inbrünstiger zu erflehen! Darum wurden, wie man liest, auch Josua und die Kinder Israel von den Gabaoniten betrogen, weil sie den Mund des Herrn nicht vorher befragt hatten, sondern allzu leichtgläubig durch süße Worte und verstellte Frömmlichkeit sich bethören ließen.
Kapitel 39 - Daß man in seinen Geschäften nicht ungestüm sein soll.
1. Sohn! stelle immer deine Sache mir anheim; ich werde sie zu seiner Zeit wohl machen. Harre meiner Anordnung, und du wirst davon den Nutzen spüren. Herr! ich stelle dir alle Sachen sehr gern anheim, denn mein Denken und Sinnen vermag wenig auszurichten. – Möchte ich nur künftigen Ereignissen nicht so viel nachhänge, sondern mich ohne Verzug deinem Wohlgefallen überlassen!
2. Sohn! oft betreibt der Mensch, was er wünscht, mit leidenschaftlicher Hitze; hat er es aber erlangt, so ändert er seine Ansicht. Denn das leidenschaftliche Be-gehren ist nicht von Bestand, sondern treibt vielmehr von Einem zu dem Andern. Deßwegen ist es nichts Geringes, auch im Geringsten sich selbst zu verläugnen.
3. Der wahre Fortschritt des Menschen besteht in der Verläugnung seiner selbst, und nur der Mensch, der sich selbst verläugnet hat, ist ganz frei und ruhig. Aber der alte Feind, der Widersacher alles Guten, läßt von Versuchung nicht ab, sondern sinnet Tag und Nacht auf schwere Nachstellungen, ob er den Unvor-sichtigen vielleicht mit den Stricken des Betrugs umgarnen könne. „Wachet und betet“, spricht der Herr, „daß ihr nicht in Anfechtung fallet.“ (Matth. 26,4 1.)
Kapitel 40 - Daß der Mensch nichts Gutes von sich selber hat und in Nichts sich rühmen kann.
1. „Herr! was ist der Mensch, daß du seiner gedenkest, oder des Menschen Sohn, daß du ihn heimsuchest?“ (Ps. 8,5.) – Was hat der Mensch verdient, daß du ihm deine Gnade erweisest? Herr! wie darf ich mich beklagen, wenn du mich verlässest? Oder was kann ich mit Recht einwenden, wenn du mir meine Bitte nicht gewährest? Fürwahr, nur das kann ich in Wahrheit denken und sagen: Herr, ich bin nichts, ich vermag nichts, ich habe nichts Gutes von mir; sondern in Allem bin ich schwach, und trachte stets nach dem, was nichts ist. Und bin ich von dir nicht unterstützt und innerlich belehrt, so werde ich ganz lau und zuchtlos.
2. Du aber, o Herr! bist immer derselbe und bleibest in Ewigkeit immerdar gut, gerecht und heilig; du machst Alles wohl, gerecht und heilig, und ordnest Alles mit Weisheit. – Ich dagegen, der ich mehr zum Rückschritt geneigt bin, als zum Fortschritt, bin nimmer derselbe, und zeige mich siebenmal anders in Einem Tage. Doch wird’s auch schnell besser, wenn es dir gefällt, und du deine Hand ausstreckst, mir beizustehen, da du allein ohne menschlichen Beirath zu helfen und mich dergestalt zu befestigen vermagst, daß meine Miene nicht so sehr wechsele, sondern zu dir allein mein Herz sich hinwende, und in dir ruhe!
3. Darum, wenn ich mich alles menschlichen Trostes zu entschlagen wüßte, sei es um desto inniger und andächtiger zu werden, oder der Noth, die mich zu dir hintreibt, zu entrinnen, weil Niemand mich zu trösten vermöchte: dann könnte ich mit Zuversicht auf deine Gnade hoffen und über die Gabe eines neuen Trostes frohlocken.
4. Dank dir, von dem Alles kommt, so oft mir etwas wohlgelingt. Ich aber bin Eitelkeit und Nichts vor dir, ein unbeständiger und schwacher Mensch. Weß also mag ich mich rühmen, oder warum begehre ich, für etwas angesehen zu werden? Etwa weil ich nichts bin? Ist das doch das Allereitelste! Fürwahr, der nichtige Ruhm ist eine böse Seuche und die höchste Eitelkeit, weil er vom wahren Ruhme abzieht und der himmlischen Gnade beraubt. Denn wenn der Mensch sich gefällt, mißfällt er dir; indem er menschlichem Lobe nachjagt, verliert er die echte Tugend.
5. Das ist aber wahrer Ruhm und heiliges Jauchzen, in dir sich rühmen und nicht in sich selbst, sich freuen in deinen Namen, nicht in eigener Tugend: noch an irgend einer Kreatur Lust haben, es sei denn um deinetwillen. Gelobet sei dein Name, nicht der meine; gepriesen dein, nicht mein Thun; gebenedeit sei dein heiliger Name, mir aber werde nichts beigelegt von dem Lobe der Menschen. – Du bist mein Ruhm, du die Wonne meines Herzens. In dir will ich mich rühme und frohlocken den ganzen Tag; „von mir selbst will ich mich nur meiner Schwachheit rühmen.“ (2. Kor. 12,5.) 6. Mögen die Juden Ehre von einander nehmen; ich will die suchen, welche allein von Gott ist. Denn aller menschliche Ruhm, alle zeitliche Ehre, alle weltliche Hoheit, verglichen mit deiner ewigen Herrlichkeit, ist doch nur Eitelkeit und Thorheit. O du, meine Wahrheit und meine Barmherzigkeit, du, mein Gott, hochheilige Dreieinigkeit, dir allein sei Lob, Ehre, Kraft und Ruhm von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Kapitel 41 - Von der Verachtung aller zeitlichen Ehre.
1. Sohn! nimm es dir nicht zu Herzen, wenn du siehst, daß Andere geehrt und erhoben werden, du aber verachtet und erniedriget wirst. Erhebe dein Herz zu mir in den Himmel, so wird dich die Verachtung der Menschen auf Erden nicht betrüben. Herr! wir sind in Blindheit und werden von der Eitelkeit schnell verlockt. Wenn ich mich recht betrachte, so ist mir noch nie von irgend einer Kreatur Unrecht geschehen; darum kann ich mich auch mit Recht nicht gegen dich beklagen.
2. Weil ich aber oft und schwer gegen dich gesündiget habe, so waffnet sich mit Recht jede Kreatur gegen mich. Mir also gebührt nach aller Gerechtigkeit Schmach und Verachtung, dir aber Lob, Ehre und Ruhm. Und wenn ich mich nicht darauf vorbereite, daß ich willig von jeder Kreatur verachtet und verlassen, ja gänzlich für nichts gehalten werden wolle: kann ich den innern Frieden und die rechte Festigkeit des Herzens nicht erlangen, im Geiste nicht erleuchtet und nicht vollkommen mit dir vereinigt werden.
Kapitel 42 - Daß man den Frieden nicht bei Menschen suchen soll.
1. Sohn! wenn du deinen Frieden auf irgend einen Menschen setzest, weil er gleiche Gesinnung mit dir hat und mit dir zusammen lebt, so wirst du unstät und verstrickt sein. Wenn du aber eine Zuflucht hast bei der Wahrheit, so wirst du dich nicht betrüben, wenn ein Freund dir untreu wird oder stirbt. In mir muß deine Liebe zum Freunde gegründet sein, und um meinetwillen mußt du ihn lieben, wie gut er dir erscheine und wie sehr du ihn auch werthschätzest. Ohne mich hat die Freundschaft weder Werth, noch Bestand; noch gibt es ein echtes und reines Freundschaftsbündniß, welches ich nicht gestiftet habe. So sollst du dergleichen Neigungen zu geliebten Personen abgestorben sein, daß du allenfalls auch ohne Umgang mit Menschen zu leben wünschen möchtest. Um so viel näher kommt der Mensch Gott, je weiter er sich von allem menschlichen Trost entfernt. Auch steigt er um so viel höher zu Gott empor, je tiefer er in sich hinabsteigt und je mehr er sich selbst erniedrigt.
2. Wer sich aber etwas Gutes zuschreibt, der wehret der Gnade Gottes, zu ihm zu kommen; denn die Gnade des heiligen Geistes sucht stets ein demüthiges Herz. Wenn du dich vollkommen zu vernichtigen und aller kreatürlichen Liebe zu entledigen wüßtest; so müßte ich meine ganze Gnadenfülle in dich ausströmen. Heftest du aber deinen Blick auf die Kreaturen, so wird dir der Anblick des Schöpfers entzogen. Lerne dich in Allem um des Schöpfers willen überwinden, dann wirst du fähig sein, zur göttlichen Erkenntniß zu gelangen. Wie gering auch etwas sein mag, sobald es mit Leidenschaft geliebt und beäugelt wird, hält es vom Höchsten ab, und befleckt.
Kapitel 43 - Wider das eitle Wissen der Welt.
1. Sohn! laß dich nicht von den schönen und feinen Worten der Menschen berücken. „Denn das Reich Gottes stehet nicht in Worten, sondern in Kraft.“ (1. Kor. 4,20.) Merke auf meine Worte, welche die Herzen entzünden und die Gemüther erleuchten; sie bringen Zerknirschung und mancherlei Trost. Nie lies mein Wort in der Absicht, gelehrter und wissensreicher zu erscheinen. Befleißige dich, deine Fehler zu ertödten; denn das wird dir mehr Nutzen bringen, als die Kenntniß von vielen schwierigen Fragen.
2. Wenn du auch viel gelesen und erkannt hast, so mußt du doch immer auf den Einen Anfang zurückkehren. Ich bin’s, der den Menschen Weisheit lehrt und den Unmündigen hellere Erkenntniß mittheilt, als irgend ein Mensch zu geben vermag. Zu wem ich rede, der wird bald weise sein und im Geiste stark fort-schreiten. Wehe denen, die viel Seltsames von den Menschen erfahren wollen und um den Weg, mir zu dienen, sich wenig kümmern. Es wird die Zeit kommen, da der Meister aller Meister, Christus, aller Engel Herr, erscheinen wird, um Alle abzuhören, das ist, um das Gewissen eines Jeden zu erforschen. – Und dann wird Jerusalem mit hellen Leuchten durchsucht werden, und es werden offenbar sein die Geheimnisse der Finsterniß, und verstummen werden die Beweisgründe der Zungen. Ich bin’s, der ein demüthiges Gemüth augenblicklich so erhebt, daß es mehr von der ewigen Wahrheit begreift, als wenn Einer zehn Jahre lang sich auf Schulen den Kopf zerbrochen hätte. Ich lehre ohne Wortgeräusch, ohne den Wirrwarr menschlicher Meinungen, ohne Prunkt und eitle Ehre, ohne den Streit der Beweise. Ich bin’s, der da lehret das Irdische verachten, das Zeitliche mit Eckel ansehen, das Ewige suchen und empfinden, die Ehrenstellen fliehen, Aergernisse ertragen, alle Hoffnung auf mich setzen, außer mir nichts begehren und über Alles mich inbrünstig lieben.
3. Denn ich weiß Einen, der dadurch, daß er mich innig liebte, göttliche Dinge lernte und Wunderbares redete. Indem er Alles verließ, fiel ihm mehr Gewinn zu, als von tiefsinnigem Studiren. Ich rede aber mit Einigen von allgemeinen, mit Andern von besonderen Dingen; Einigen zeige ich mich lieblich unter der Hülle von Zeichen und Bildern: Andern aber offenbare ich in hellem Lichte die Ge-heimnisse des Himmels. Es ist nur eine Stimme in den Büchern der heiligen Schrift; aber nicht Alle belehrt sie auf gleiche Art. Denn ich bin der Lehrer der Wahrheit im Innern, der Herzenskündiger, der die Gedanken erforscht, alles Vernehmen fördert, und Jedem zutheilst, so viel ich ihn für würdig halte.
Kapitel 44 - Daß man das Aeußere nicht in sein Inneres kommen lassen soll.
1. Sohn! du mußt in vielen Dingen unwissend sein, und dich für einen solchen ansehen, der gleichsam für die Erde abgestorben und dem die ganze Welt gekreuzigt ist. Du mußt auch Vieles mit taubem Ohr übergehen, und was zu deinem Frieden dient, mehr bedenken. Es ist nützlicher, die Augen von miß-fälligen Dingen abzuwenden, und einem Jeden seine Meinung zu lassen, als darüber mit ihm zu streiten. Wenn du mit Gott gutstehest und auf sein Gericht achtest, so wirst du es leichter ertragen, besiegt zu sein.
2. O Herr! wohin ist es mit uns gekommen? Siehe, ein zeitlicher Verlust wird beweint, um einen geringen Gewinn arbeitet und läuft man; aber den Schaden der Seele vergißt man und denkt später kaum wieder daran. Was wenig oder nichts nützt, wird beachtet, und was höchst nothwendig ist, wird nachlässig übergangen, dieweil der ganze Mensch in das Aeußere zerfließt, und, wenn er nicht bald sich wieder aufrafft, leicht darin liegen bleibt.
Kapitel 45 - Daß man nicht Jedermann glauben darf, und wie leicht man in Worten strauchelt.
1. Herr! rette mich aus der Trübsal, denn Menschenhülfe ist eitel. Wie selten habe ich da Treue gefunden, wo ich sie zu finden wähnte! Wie oft dagegen fand ich sie dort, wo ich sie am wenigsten erwartete! Eitel ist darum die Hoffnung auf Menschen; aber das Heil der Gerechten ist in dir, o Gott. Gepriesen seiest du, Herr, mein Gott, in Allem, was uns begegnet. Wir sind schwach und unbeständig, leicht täuschen und verändern wir uns.
2. Wer ist der Mensch, der so behutsam und umsichtig in Allem sich bewahren kann, daß er nicht irgend einmal in eine Täuschung oder Verlegenheit käme? Wer aber auf dich, Herr, traut, und dich mit einfältigem Herzen sucht, der fällt nicht so leicht. Und wenn er in eine Trübsal geräth, und noch so sehr darein verwickelt wird, so wird er doch schnell wieder durch dich herausgerissen oder von dir getröstet werden; denn du willst den, der auf dich hofft, nicht verlassen bis an’s Ende. Selten ist der treue Freund, der in allen Drangsalen seines Freundes ausharrt. Du, Herr, du allein bist der Getreueste in Allem, und außer dir ist kein Solcher.
3. O wie wohl verstand das jene heilige Seele (Agatha, die unter dem Kaiser Derius für Christus den Martertod starb.), die da sprach: Mein Herz ist fest gegründet und gewurzelt in Christo. Wäre das auch bei mir der Fall, so würde mich Menschenfurcht nicht so leicht bekümmern, noch würden die Pfeile der Worte mich bewegen. Wer vermag Alles vorauszusehen, wer künftigen Dingen zuvorzukommen? Wenn das Vorausgesehene oft schon verletzt, welche tiefe Wunden muß das Unerwartete schlagen? Warum war ich Unglücklicher nicht vorsichtiger? Warum habe ich auch Andern so leicht geglaubt? Aber wir sind Menschen; ja nichts anders, als gebrechliche Menschen sind wir, ob wir auch von Vielen für Engel gehalten und ausgegeben werden. Wem soll ich glauben, Herr? Wem, wenn nicht dir? Du bist die Wahrheit, die nicht trügt, noch betrogen werden kann. Der Mensch dagegen ist lügenhaft, schwach, unbeständig und gebrechlich, zumal in Worten, so daß man nicht gleich seinen Versicherungen glauben darf, so schön sie auch klingen.
4. Wie weise hast du im Voraus gewarnt, daß man sich vor den Menschen hüten soll; denn des Menschen Feinde sind seine eigenen Hausgenossen, und man darf es nicht glauben, wenn Einer sagt: Siehe hier, oder siehe da! Ich bin klug geworden durch meinen Schaden, und – o diente es mir doch zu größerer Vorsicht und nicht zur Thorheit! Sei vorsichtig, spricht Einer zu mir, sei vorsichtig und behalte bei dir, was ich sage. Und während ich schweige und glaube, es sei geheim, kann Jener nicht verschweigen, was er zu verschweigen gebeten hat, sondern verräth sogleich mich und sich, und geht fort. Von dergleichen Schwätzern und unvorsichtigen Menschen bewahre mich, o Herr! daß ich nicht in ihre Hände falle, noch je ein Gleiches verschulde. – Gib ein wahres festes Wort in meinen Mund, und eine falsche Zunge laß fern von mir sein! Was ich nicht leiden mag, davor muß ich auf jede Weise mich hüten.
5. O wie gut und friedlich ist’s, von Andern zu schweigen; nicht Alles ohne Unterschied zu glauben, auch nicht leicht etwas weiter zu verbreiten; nur Wenigen sein Inneres zu enthüllen; dich, den Herzenskündiger, immerdar zu suchen; sich nicht von jedem Wind der Worte hin und her bewegen zu lassen, sondern zu wünschen, daß Alles, Inneres wie Aeußeres, nach dem Wohlgefallen deines Willens vollbracht werde! Wie sicher ist es zur Bewahrung der himm-lischen Gnade, den Schein vor Menschen zu fliehen, und nicht nach dem zu trachten, was äußerlich Bewunderung zu erregen scheint, sondern dem mit aller Emsigkeit nachzustreben, was Besserung des Lebens und Eifer gewährt. Wie Vielen hat es geschadet, daß ihre Tugend bekannt und voreilig gepriesen wurde. Wie heilsam dagegen war es Andern, daß ihre Gnade verborgen blieb in diesem gebrechlichen Leben, das lauter Versuchung und Kampf ist.