Sondern erlöse uns von dem Bösen...

Sondern erlöse uns von dem Bösen...

Die siebte Bitte des Vaterunsers lautet „erlöse uns von dem Bösen“. Und dieser Wunsch geht uns von den Lippen wie ein tief empfundener Seufzer. Denn wer wollte nicht erlöst werden vom Bösen? Wem fiele nicht gleich eine lange Liste „böser“ Dinge ein, die ihm Leid verursachen, die ihn empören und die er beendet sehen will? Man denkt: wie ginge es uns so gut, wenn all das Böse nicht wäre! Wie könnte das Leben so schön sein! Also ja doch, Herr, mache allem Übel ein Ende! Wir wollen‘s nicht, wir brauchen‘s so wenig, wie man einen Buckel oder Zahnschmerzen braucht! Darum zögere nicht, Herr, und „erlöse uns von dem Bösen“! Nun – als erste Reaktion ist so ein Seufzer sehr verständlich. Denn das Verschwinden des Bösen müsste uns unmittelbar ins Paradies versetzen. Und wer ein bisschen Verstand hat, will da hin! Doch ganz so schnell sind wir mit der Bitte dann doch nicht fertig. Denn auf den zweiten Blick erweist sich der Wortlaut als mehrdeutig, und man fragt sich, an welches Böse da eigentlich gedacht ist. Die Erlösung von „dem Bösen“ kann nämlich neutrisch verstanden werden, so dass ein „Etwas“ gemeint wäre, bestehend aus bösen Umständen, böse Zuständen und Widerfahrnissen. Die Erlösung von „dem Bösen“ kann aber genau so gut als maskulin aufgefasst werden, so dass sich die Bitte dann auf „jemanden“ bezieht, auf das Böse „in Person“ – und somit auf den Satan. Man kann an das „physische Übel“ denken, das in Hunger und Krankheit, Schmerz und Leid, Not und Tod besteht. Man kann darunter aber genauso das „moralische Übel“ verstehen, das als Selbstsucht und Eitelkeit, Neid und Hass nicht zuletzt in uns selbst wohnt. Und manchem fallen bei dieser Bitte auch gleich „böse Menschen“ ein, die andere verfolgen, demütigen und quälen. Was ist also gemeint – und woran denken wir, wenn wir im Vaterunser an diesen Punkt kommen: „erlöse uns von dem Bösen“? 

Vermutlich geht es vielen so wie mir, dass sie nämlich nicht zuerst an das Böse denken, das sie selbst tun, sondern an das Böse, das sie erleiden. Denn wir suchen das Böse nur ungern in uns drin, sondern lieber draußen. Wir verorten es spontan bei den Anderen. Und wollen wir davon erlöst werden, so zeigen wir mit dem Finger drauf und sagen: „Da! – wenn Gott mich endlich von dem Bösen da erlöste, dann ginge es mir gut. Wäre nur erst der böse Kollege weg, und meine böse Krankheit gleich mit, verschwände das böse Defizit von meinem Konto, und endeten die bösen Träume, brächte jemand meine böse Nachbarin zum Schweigen und wechselte auch die bösen Politiker aus – ja dann wäre alles gut“. Nun ist es natürlich naiv, so zu denken – wären die Bösen beseitigt, so würde alles gut! Entsprechende Versuche haben das Böse in der Welt immer nur weiter vermehrt. Und egal wie viele Böse man umbrachte, das Böse überlebte stets in den Siegern, die eigentlich meinten, die Guten zu sein! Man kann das Böse nicht mit den „Anderen“ gleichsetzen, die einen ärgern, weil es in uns selbst genauso wohnt. Und wer das einsieht, muss dann wohl oder übel beginnen, nicht allein gegen das Böse anzubeten, das ihn draußen stört, sondern ebenso gegen das liebgewonnene Böse in ihm drin. Denn es wäre ja Heuchelei, wenn wir Gott bäten, uns vom Bösen in der Welt zu erlösen, und dabei das Böses ausnehmen wollten, das wir in uns selbst tragen. Es muss auch und zuerst um jenes Böse gehen, das ich mir selbst erlaube – und das ich bloß deshalb nicht „böse“ nenne, weil es mir zur lieben Gewohnheit wurde. Doch auf diese Weise gegen uns selbst gewendet kommt unser Gebet dann auch gleich ins Stocken. Denn Hand aufs Herz: wie ist es denn wirklich? Wollen wir dringend vom Bösen erlöst werden – und es scheitert nur an der Hartnäckigkeit des Bösen, das nicht weichen will? Oder scheitert unsere „Erlösung vom Bösen“ daran, dass wir es selbst festhalten – und in Wahrheit gar nicht davon lassen möchten? Beten wir gegen das Böse, weil wir gut sein wollen – oder bloß, weil wir uns gut fühlen wollen? Verabscheuen wir das Böse um seiner Bosheit willen – oder meiden wir‘s allein wegen der unangenehmen Begleiterscheinung, dass man uns dafür bestraft? Stört uns wirklich das Böse, das wir tun, oder stören uns nur die Anderen, die uns dabei ertappen? Und – würden wir wirklich im Guten leben wollen, wenn wir dafür selbst durch und durch „gut“ werden müssten? Können wir beten: „Herr, erlöse mich von dem Bösen in mir, ja zuerst und vor allem von dem Bösen, der ich bin?“ Ich selbst stelle jedenfalls fest, dass da ein Teil von mir „auf der Bremse“ steht und große Vorbehalte hat. Und mir fällt ein Roman von C. S. Lewis ein, der den Finger genau in diese Wunde legt. Der Roman heißt „Die große Scheidung“. Und er erzählt von einer recht seltsamen Welt, in der Gottes Himmel allen Menschen offensteht, in der aber viele gar nicht in den Himmel hinein wollen, weil sie dort gut werden müssten, und daher freiwillig die Hölle vorziehen, in der sie bleiben dürfen wie sie sind. Das ist natürlich eine seltsam Vorstellung! Denn gewöhnlich nehmen wir an, dass alle Menschen unbedingt in den Himmel wollen – und manche nur nicht hinein gelassen werden. In jenem Roman wird aber keiner an der Himmelspforte abgewiesen, sondern viele der Menschen, die hineingeschaut haben, kehren dem Himmel freiwillig den Rücken, weil ihnen das Gut-Sein dort zu anstrengend erscheint. Sie hängen an Gewohnheiten, Ansichten und Wünschen, die sie ablegen müssten, um in die Gemeinschaft Gottes einzugehen. Und dieser Preis scheint ihnen zu hoch. Denn der Himmel hat natürlich seine Regeln. Da herrscht ein guter Geist. Und um in den Himmel hineinzupassen, muss der Mensch eine Wandlung durchlaufen, die vielen gegen den Strich geht. So werden zwar alle freundlich empfangen. Aber die Nähe Gottes und die ganze Atmosphäre im Himmel scheint vielen zu hell, zu hart und zu anstrengend. Sie wollen sich von ihrer alten Mentalität nicht lösen und reagieren sehr unwillig, wenn‘s die Engel von ihnen erwarten. Sie bekommen großzügige Vergebung in Aussicht gestellt. Aber viele wollen gar nicht einsehen, dass sie Vergebung nötig hätten! Gottes Gnade wird ihnen angeboten. Aber viele pochen lieber auf vermeintliche Rechte und Verdienste! Und ein Himmel, der die nicht anerkennt, ist nicht nach ihrem Geschmack. Manche sind sehr stolz und bilden sich etwas auf ihre Klugheit ein. Wenn der Himmel aber an ihrer Weisheit keinen Bedarf hat, kehren sie ihm den Rücken. Eine elegante Dame ist schwer enttäuscht, weil sie im Himmel nicht mehr Beachtung findet als anderen Menschen. Der Glanz des Himmels ärgert sie, weil sie auf Erden gewohnt war selbst zu glänzen. Manche Besucher haben ihre Zweifel so in sich hineingefressen, dass sie an den Himmel nicht mal glauben wollen, wenn sie schon mittendrin stehen! Und anderen ist das Klagen derart zur zweiten Natur geworden, dass sie den Engeln mit ihrem Selbstmitleid auf die Nerven gehen. Prominente tauchen auf, die sich für ihren eigenen Ruhm viel mehr interessieren als für Gottes Herrlichkeit. Andere aber suche im Himmel bloß einen verstorbenen Angehörigen. Und wenn sie den nicht gleich treffen, ist ihnen an einer Begegnung mit Gott gar nicht gelegen. Etliche haben nicht das geringste Verlangen nach dem guten Geist, der im Himmel herrscht. Sie sind besessen von diesem oder jenem, sind eigensinnig und verbohrt. Und so wird der Himmel dann trotz offener Türen nicht wirklich voll, weil viele auf dem Absatz kehrtmachen. Jeder hat so sein ganz persönliches Böses, das er gewöhnt ist und herzlich liebt. Und wenn er das nicht in den Himmel mitbringen darf, um es dort weiter zu pflegen, dann will er da auch gar nicht hin. Nun versteht es sich von selbst, dass Vermessenheit und Bitterkeit nicht in den Himmel gehören. Es wird auch keiner gezwungen sie abzulegen! Aber wer dran festhält, muss sie dort praktizieren, wo Vermessenheit und Bitterkeit hingehören. Und der ist so gesehen dann freiwillig in der Hölle. Denn eben das will der Roman sagen: Es ist nicht der Himmel, der es den Menschen schwer macht, sondern wir selbst machen es uns schwer, weil wir an dem festhalten, was Gott nicht gefallen kann. Und das größte Hindernis bei der Erlösung vom Bösen sind folglich nicht die äußeren Umstände, sondern wir sind es selbst. Denn oft verweigern wir den Sinneswandel, ohne den sich unser Wunsch nicht erfüllen kann. 

Was nützt dann aber die Bitte im Vaterunser? Selbstverständlich kann sie nur etwas nützen, wenn der Beter auch meint, was er sagt, und der Erfüllung nicht selbst im Wege steht. Dann aber – oho! Dann sind die Worte nicht etwa „Schall und Rauch“, sondern bewirken ganz viel! Denn wo der Betende das „erlöse uns von dem Bösen“ von Herzen meint, da hat er sich im selben Augenblick auch schon vom Bösen distanziert. Und das Böse, von dem er sich distanziert, ist dadurch auch schon halb überwunden. Denn indem es der Beter vor Gott nicht mehr beschönigt, sondern das Böse bei seinem hässlichen Namen nennt, hat er ihm abgeschworen und ihm den Krieg erklärt. Sobald der Beter sein Böses nicht mehr liebt, sondern hasst, verliert es seine Macht. Und wenn er‘s mit Gottes Hilfe loswerden will, kann’s ihn auch nicht mehr beherrschen. Denn solch ein Beter verneint den Teil seiner selbst, den auch Gott verneint. Er bittet Gott, ihm diesen eiternden Zahn zu ziehen. Und kaum dass er‘s ausgesprochen hat, beginnt sich dieser Wunsch auch schon zu erfüllen. Denn das Böse, dem ich abschwöre, hat kein Recht mehr an mir. Und ich meinerseits habe kein Recht mehr, es weiter in meinem Leben zu dulden. Wenn‘s da bisher ein stilles Einverständnis gab, mit dem ich mein Böses tolerierte, wird das durch die an Gott gerichtete Bitte aufgekündigt. Denn statt weiterhin seine Unschuld zu beteuern und Ausreden zu suchen, zerrt der Betende sein eigenes Böses ans Licht, wirft es Gott vor die Füße und beklagt, dass er ihm Raum gab, in dem es wachsen konnte. Wie aber könnte der Beter das tun, wenn nicht kraft eines gottgegebenen, guten und starken Impulses? Wer ehrlichen Herzens um die Erlösung vom Bösen bittet, beweist damit, dass es ihn schon nicht mehr im Griff hat. Und sobald er sich vom Bösen distanziert, hat er den Guten zu Hilfe gerufen, der mächtiger ist. Er läuft zu Gott über! Und das könnte der Mensch gar nicht, wenn ihn das Böse noch kontrollierte. Vielmehr: Wenn einer ehrlichen Herzens gegen sein eigenes Böses anbeten kann, dann nur durch den Beistand des guten Gottes, an den er sich wendet. Ist der aber durch seinen Heiligen Geist im Betenden schon tätig und steht ihm bei, so hat die gewünschte Befreiung längst begonnen, und die Erlösung ist schon im Schwange. Es mag zwar sein, dass der Betende das Gesetz der Sünde noch in seinen Gliedern fühlt – anderenfalls wäre ihm die Bitte ja nicht dringlich! Dass er aber aus seinem Anteil am Bösen kein Geheimnis mehr macht, das ist schon eine Manifestation des heiligen Geistes und ein untrügliches Zeichen dafür, dass Gott die erbetene Erlösung in Angriff nimmt. Denn wer mit seinem Bösen wie mit einem hässlichen Ausschlag zu Gott gelaufen kommt, dokumentiert dadurch doppelte Einsicht: Er weiß, dass er sich selbst nicht zu erlösen vermag. Und er traut es dem zu, den er darum bittet. Er weiß, dass Gott dem Bösen Einhalt gebieten kann. Und er vertraut darauf, dass Gott es auch will. Vielleicht kann der Beter nicht mal klar unterscheiden zwischen dem Bösen, das an ihm, und dem Böse, das durch ihn geschieht. Aber er ist bereit, es in Bausch und Bogen zu verneinen, und flieht zu seinem Gott, der es gleichfalls verneint. Der Beter bringt damit seinen geschöpflichen Willen in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen. Und da er es mit den Worten des Vaterunsers tut, betet er im Namen Jesu Christi und mit den Worten Jesu Christi. Geschieht das aber ehrlich und vertrauensvoll – wie könnte so ein Gebet dann unerhört bleiben? Der Retter, nach dem da gerufen wird, ist im selben Moment schon auf dem Plan! Denn Gottes Sohn, der seine Jünger diese Bitte lehrte, ist ja selbst (so wie er die Wahrheit und das Leben ist) auch „die Erlösung von dem Bösen“. Wer die bejaht und will, will Christus! Und während er nach ihm ruft, steht auch schon fest, dass Gottes Sohn ihn hört und sich zuständig fühlt. Denn schließlich kam Jesus in die Welt, um die Werke des Teufels zu zerstören (1. Joh 3,8). Er ist jener Nachkomme Evas, der der Schlange den Kopf zertritt (1. Mose 3,15). Er jagt ganze Heere von Dämonen über die Klippen ins Meer (Mt 8,28ff.). Er sieht den Satan vom Himmel fallen (Lk 10,18). Er treibt mit dem Finger Gottes die bösen Geister aus (Lk 11,14ff.). Und so ist Christi Kommen in die Welt ein einziger großer Exorzismus (Joh 12,31). Der Böse versteht das auch – und machte Christus zum Ziel seiner Anschläge (Mt 4,1ff.; Lk 22,3). Doch am Ende aller Tage wird es Christi Macht sein, die ihn endgültig überwindet (Offb 12,10). Und so ist Christus für die „Erlösung vom Bösen“ der rechte Ansprechpartner – und für diesen Schädling auf jeden Fall der rechte Kammerjäger. Es ist in Vergessenheit geraten. Aber nicht umsonst sieht Luthers Taufordnung vor, dass die Paten im Namen des Kindes dem Teufel und allen seinen Werken entsagen. Wo sich ein Mensch Christus verschreibt, hat der „Fürst dieser Welt“ alles Anrecht verloren. Und wo man Christus herzubittet, kann Satan nicht bleiben. Was heißt dann aber „erlöse uns von dem Bösen“ für den Einzelnen, der das wünscht? Es heißt nichts anderes, als dass ich Christus durch die Tür hereinbitte, weil dort, wo er den Raum betritt, der Satan aus dem Fenster flieht. Und Christus derart in mein Leben hinein zu bitten, ist viel klüger, als selbst mit dem Gegner zu ringen. Denn wir sind dem bösen Feind nicht gewachsen. Aber wir kennen den, den er fürchten muss. Und diesen Stärkeren können wir täglich in unser Leben einladen. Dass wir‘s aber auch ernstlich tun, ihm die Tür weit öffnen und rufen „ja, Herr, du hast freie Bahn, erlöse uns von dem Bösen!“ das ist täglich nötig. Und damit wir’s nicht versäumen, darum ist diese Bitte Teil des Vaterunsers – und wird uns von dem in den Mund gelegt, der auch bereit ist, sie zu erfüllen. Ihm sei’s gedankt in Ewigkeit!  

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Luzifer

Franz Stuck, Public domain, via Wikimedia Commons