Unser tägliches Brot gib uns heute...
Jesus hat seinen Jüngern beigebracht, wie sie beten sollen. Er hat sie das Vaterunser gelehrt. Wir können‘s „im Schlaf“. Und die geringsten Schwierigkeiten haben wir wohl mit der vierten Bitte. Denn die handelt von unseren konkreten Bedürfnissen und fasst alles, was wir für Leib und Seele brauchen, knapp zusammen in der Bitte um das tägliche Brot. Was dem vorausgeht, klingt abstrakter: „geheiligt werde dein Name“, „dein Reich komme“, „dein Wille geschehe“ – das wirft allerhand Fragen auf! Aber „unser tägliches Brot gib uns heute“ – das versteht jeder, der schon mal hungrig war. Allerdings – wenn man wirklich drüber nachdenkt, geht‘s nicht mehr so glatt über die Lippen. Denn erstens bittet der Mensch überhaupt nicht gern. Er fordert lieber, kauft etwas, oder nimmt sich, was er braucht. Zweitens gibt er sich, wenn er schon „Bitte“ sagen muss, nicht mit Brot zufrieden: Fleisch und Bier, Kuchen und Schokolade, ein Auto und ein Haus hätte man auch gern! Drittens stört die zeitliche Begrenzung, denn statt jenem Brot, das gerade mal für den heutigen Tag reicht, hätte man lieber einen Vorrat für Wochen. Und viertens fragt sich der moderne Mensch, warum er überhaupt darum bitten soll, wo er doch hart arbeitet und seinen Lebensunterhalt selbst verdient! „Unser tägliches Brot gib uns heute“? Genau besehen passt das weder zu unserem Stolz noch zu unserem großen Hunger! Denn jeden Tag aufs neue bitten – ist das nicht armselig? Da ist man ja täglich auf Gottes Wohlwollen angewiesen! Dabei schuldet uns das Leben doch eine prall gefüllte Kühltruhe! Oder nicht? Eigentlich will der Mensch lieber von der Rendite seiner eigenen Leistungen leben. Man möchte das nicht nötig haben, immer wieder die Hand aufzuhalten. Und so stößt, was Jesus uns zu bitten lehrt, bei näherer Betrachtung auf Widerstände. Die aber sind gar nicht neu, sondern haben biblische Vorbilder. Denn sie erinnern sehr an das Murren Israels während der Wanderung durch die Wüste. Da führt Gott sein Volk aus Ägypten, aus dem Land der Sklaverei. Und unter großem Jubel brechen sie auf, um das Land zu suchen, das Gott ihnen schenken will. Doch kaum ist der Proviant aufgezehrt, beginnen ihre Mägen zu knurren. Und ihr Anführer Mose muss sich viel Genörgel anhören: „Ach, wären wir doch bloß in Ägypten geblieben – da hatten wir jede Menge Fleisch und Brot. Jetzt werden wir hier in der Wüste verhungern!“ So zu jammern und zu murren, ist nicht gerade ein Vertrauensbeweis. Gott hätte es übel nehmen können! Aber er zeigt Geduld und sorgt für die Seinen. Jede Nacht lässt er ein süßes Brot vom Himmel regnen – das sogenannte Manna. Die Israeliten müssen‘s am Morgen nur aufsammeln. Einfacher geht’s nicht! Und trotzdem gibt‘s bald wieder Schwierigkeiten mit diesem täglichen Brot. Denn Gott befiehlt, dass jeder nur so viel sammeln soll, wie er für den jeweiligen Tag braucht. Es soll und muss nichts übrig bleiben, denn am nächsten Morgen gibt es ja neues Manna. Aber meinen sie, das Volk hielte sich dran? Offenbar misstraut es der Fürsorge Gottes! Einige Israeliten wollen lieber Vorräte sammeln, statt sich auf Gott zu verlassen! Und so versuchen sie, ein paar Krüge voll Manna aufzubewahren. Am nächsten Tag stinkt es jedoch und ist ungenießbar – voller Würmer. Zieht das Volk daraus nun eine Lehre? Nein! Bald darauf naht der Sabbat, an dem nach Gottes Willen niemand arbeiten soll. Auch nach Manna soll am Feiertag niemand suchen müssen. Und damit es trotzdem an nichts fehlt, lässt Gott sie am Vortag die doppelte Menge finden. Von diesem Manna dürfen sie die Hälfte aufbewahren – und am Morgen des Sabbats ist es noch genau so frisch, wie es Gottes Fürsorge versprach! Was aber tut das Volk? Obwohl’s nicht nötig ist, und Gott ihnen Ruhe verordnet hat, ziehen doch einige los und wollen Manna sammeln. Natürlich finden sie nichts. Aber Gott wird nun zornig. Denn – können sie sich nicht damit zufrieden geben, dass er sie täglich mit allem Lebensnotwendigen versorgt? Hat er ihnen je Anlass gegeben, an seiner Treue zu zweifeln, so dass sie Reserven horten müssten? Das ist kränkend! Und um das Maß voll zu machen, beschweren sich die Israeliten dann auch noch über den Speiseplan: „Immer essen wir nur Manna, nichts als Manna! Wann bekommen wir mal wieder Fleisch und Fisch, Kürbisse und Melonen, Kuchen und Honig?“ Es wäre verständlich, wenn Gott an diesem Punkt die Geduld verloren hätte. Denn er erwählt dieses Volk zu etwas Großem und Heiligen – und sie denken immer nur ans Essen. Er will ihren Geist erleuchten und zum Himmel erheben – sie aber reiben sich die Bäuche und fragen nach dem nächsten Imbiss. Trotzdem hat Gott noch einmal Geduld. Er lässt Schwärme von Wachteln über das Lager fliegen. Die Vögel fallen herunter. Sie bedecken den Boden. Und schon bekommt Israel das ersehnte Fleisch zu essen. Tja, könnte man denken, manche Dinge ändern sich nie: erst kommt der Bauch – und dann die Moral! Wenn’s nicht so traurig wäre, könnte man drüber lachen. Aber ist es bei uns etwa anders? Auch wir sind auskömmlich versorgt. Doch statt das tägliche Brot mit Dank aus Gottes Hand zu nehmen, jammern viele so wie damals Israel. Die Regale in den Geschäften sind voll. Wer will, kann viel mehr essen, als ihm gut tut. Und trotzdem wird weniger gedankt, als auf hohem Niveau geklagt. Jeder von uns hat sein tägliches Brot – und auch noch Butter drauf und Wurst und Nachtisch! Aber zufrieden sind die Wenigsten. Und der größere Teil hat das Gefühl, in irgendeiner Hinsicht „zu kurz zu kommen“. Ist das nicht seltsam? Etwas stimmt nicht mit uns! Und darum will ich die vierte Bitte des Vaterunsers noch einmal durchbuchstabieren und genau hinschauen, was Jesus uns damit sagt: „unser täglich Brot gib uns heute“.
1. Als erstes fragt man sich vielleicht, warum da nur vom Brot gesprochen wird, und von nichts anderem. Denn was ist mit Wurst und Bier, Kuchen und Schokolade? Wenn man aufzählen sollte, was man alles zum Leben braucht, wäre auch der Strom zu nennen, der aus der Steckdose kommt, das Benzin im Auto und das Erdgas für die Heizung. Man braucht darüber hinaus seine Familie, braucht soziale Kontakte und Medien, die einen informieren, Arzneimittel für die Gesundheit, Luft zum Atmen, ein regelmäßiges Einkommen und einen Staat, der für Sicherheit sorgt. Das Vaterunser sagt aber stellvertretend für diese lange Liste einfach „Brot“ – und versteht darunter all das Genannte, das ein Mensch für Leib und Seele braucht. Denn Gott kennt unsere Bedürfnisse auch ohne dass wir sie aufzählen. Und sagen wir nur „Brot“, weiß er schon, was wir nötig haben. Indem wir aber nur „Brot“ sagen, erbitten wir von ihm die Grundversorgung – und ganz bewusst keinen Schnickschnack. Denn es wäre anmaßend, den Himmel um Luxus zu bitten. Nicht aus Gier und Gefräßigkeit soll unsre Bitte entstehen, sondern aus dem Bewusstsein, bedürftig zu sein. Und dazu reicht das eine Wort „Brot“.
2. Als Zweites fällt auf, wie selbstverständlich sich die Bitte an Gott richtet – und dabei alle Zwischeninstanzen überspringt. Denn natürlich fallen die erbetenen Dinge nicht vom Himmel wie damals das Manna. Wir kaufen unser Brot beim Bäcker, der sein Mehl von einer Mühle bezieht, die ihr Korn von Bauern bekommt. Und doch erbitten wir unser tägliches Brot nicht von all diesen Produzenten in der Lieferkette, sondern wir überspringen sie gedanklich und bitten direkt Gott, weil die irdischen Beteiligten nur seine Werkzeuge sind. Durch die Kuh schenkt Gott uns Milch, durch den Baum schenkt er Obst, mit Hilfe des Meeres stellt er Fisch bereit. Und obwohl wir die vermittelnden Instanzen durchaus sehen, bleibt der Blick des Beters doch nicht an ihnen hängen, sondern geht weit darüber, direkt zu dem Meister, der sich all dieser Instrumente bedient, so dass uns das tägliche Brot sozusagen transparent wird, und wir durch die Gabe hindurch auf den Geber schauen.
3. Ist es aber nicht seltsam, dass wir von ihm als „Geschenk“ erbitten, wofür wir im Laden doch bezahlen? Ist das kein Widerspruch, wenn wir der Freundlichkeit Gottes danken, obwohl wir für unseren Lebensunterhalt arbeiten, und unsere Mühe des Lohnes wert ist? Das Haus, das Auto, die Möbel und die Kleider – ist das nicht alles sauer verdient? Weil er’s bezahlt hat, meint so mancher, er lebe von eigener Kraft und eigenem Vermögen. Aber im Vaterunser findet dieser Gedanke nicht den geringsten Raum. Denn so viel Kraft zu haben und so gesund zu sein, dass man arbeiten kann, ist ja selbst schon ein Geschenk des Schöpfers! Der ernährt auch die Vögel unter dem Himmel nicht ohne ihre Mitwirkung, sondern durch ihre Mitwirkung. Er wirft den Spatzen ihr Futter nicht ins Nest, sondern gibt ihnen Flügel, damit sie Futter suchen können. Und doch haben sie weder das Futter noch die Flügel oder ihre Instinkte von sich selbst, sondern haben alles von Gott. Und dasselbe gilt vom Menschen. Vermag der etwas zu leisten, soll er darum nicht weniger, sondern umso mehr bitten und danken. Denn auch das Vermögen, fleißig und gut zu arbeiten, muss uns verliehen sein, und damit wir Kraft und Konzentration aufwenden können, muss uns beides erst mal geschenkt werden. So bitten wir auch nicht, Gott möge uns das tägliche Brot ohne Arbeit geben (er möge es also dem Untätigen in den Schoß fallen lassen oder dem Faulen nachwerfen), sondern natürlich bitten wir Gott – und tun dann trotzdem unseren Teil, um zu erlangen, was Gott uns geben will.
4. Doch für wen genau erbitten wir das Nötige? Für welchen Empfängerkreis tun wir das? Es ist wichtig zu sehen, dass im Vaterunser nicht ein Einzelner für sich selbst bittet, sondern jeder Einzelne zugleich für die Gemeinschaft. Denn da steht nicht „mein tägliches Brot gib mir“, sondern „unser tägliches Brot gib uns“. Ein egozentrisches Bitten ist damit von vornherein ausgeschlossen. Denn was ich mir wünsche, soll ich auch den anderen gönnen, soll über meiner Bedürftigkeit nicht die der anderen vergessen, und folglich für alle bitten – mögen sie nun gut oder böse sein. Der Beter darf durchaus an sich denken, doch nicht so, als wollte er sich allein in den Vordergrund drängen, sondern er bittet immer zugleich für den Nachbarn und den Bruder, den Nächsten und den Fernsten, dass auch der sein Auskommen habe und der Not entgehe.
5. In dem Wort „unser“ schließen wir uns also zusammen. Und doch hat es noch eine weitere Bedeutung, die man mithören sollte. Denn wenn wir „unser“ tägliches Brot erbitten, dann ist damit alles Brot ausgeschlossen, das anderen gehört. „Unser“ Brot heißt das „für uns bestimmte“, das „uns zukommende“ Brot. Und allein dieses erbitten wir, damit, was wir essen, unseretwegen keinem anderen weggenommen werde. Wir wollen nicht auf Kosten anderer Menschen leben und uns nicht von fremdem, gestohlenem, erwuchertem oder erschlichenem Brot nähren. Denn wenn das, was uns schmeckt, darum anderen fehlte – wie könnten wir’s mit Dank und gutem Gewissen genießen? So wie wir „unseres“, sollen die anderen auch „ihr“ Brot haben, auf das wir unsere Sättigung keinesfalls durch Raub, Ausbeutung oder Unrecht erkaufen.
6. Warum bitten wir aber nur um das „tägliche“ Brot – und nicht um etwas mehr? Warum erbitten wir‘s bloß für „heute“ – und nicht auch für morgen? Was soll die zeitliche Begrenzung auf die jeweils aktuelle Tagesration? Offenbar sollen wir uns nach Jesu Willen mit dem täglichen Bedarf bescheiden und ansonsten darauf vertrauen, dass Gott auch der Gott des morgigen Tages ist. Denn sonst wird Vorsorge leicht zur Falle. Wer ängstlich meint, dass er Vorräte braucht, wird immer danach streben, Reserven aufzuhäufen. Bis es ihm gelingt, wird er in Sorge um seine Zukunft sein. Und schafft er‘s dann, Konten und Scheunen zu füllen, vertraut sein Herz auch gleich auf diesen Vorrat – und vertraut nicht mehr auf Gott. Was der Mensch heute hortet und bunkert, soll ihn vor dem Morgen schützen. Er erwartet, dass sein Besitz ihn retten wird, wenn Gottes Fürsorge versagt. Er vertraut seinen Gütern also mehr als dem Schöpfer, von dem er sie empfing! Und genau vor diesem Irrweg des fehlgeleiteten Vertrauens soll uns die zeitliche Begrenzung der Bitte schützen. Es kann und soll uns genügen, wenn wir heute unser Auskommen haben, denn Gott ist auch morgen noch treu. Unsere Aufmerksamkeit aber sollen wir nicht darauf richten, was wir morgen essen und womit wir uns übermorgen kleiden, sondern unsere gesammelte Aufmerksamkeit soll zuerst und zuletzt dem Reich Gottes gelten.
7. Der Schatz eines Christen ist im Himmel. Das darf er nie vergessen! Wenn einer aber trotzdem auf Erden zu Reichtum kommt, weil Gott seine Arbeit segnet, und er so reichlich erntet, dass es seinen Bedarf weit übersteigt, dann geschieht das nicht ohne Grund, sondern geschieht, damit er das Seine mit anderen teilen könne. Und diese Möglichkeit zu haben, sollte den Betreffenden mit Freude erfüllen. Denn wer mit seinem Reichtum anderen dienen kann, wird darin unserem Gott ein klein wenig ähnlich, der ja auch von der eigenen Fülle nimmt, um freigiebig Bedürftige zu versorgen. Oder ist es nicht ein Privileg, wenn man gottgewolltes Leben bewahren und fördern kann? Ist es nicht schön, wenn im Garten die Pflanzen wachsen, weil man sie fleißig begossen hat? Ist es nicht befriedigend, den Hund zu füttern und zu sehen, wie er sich freut? Tut es nicht wohl, Kinder gedeihen zu sehen, weil man sie mit dem Nötigen versorgen konnte? Aus eigener Fülle abzugeben, kann für Christen keine bittere Pflicht sein, zu der sich ein Knausriger zwingen müsste, sondern geben zu können ist ein Privileg. Wenn der Reiche also um sein täglich Brot bittet, wird er nicht vergessen, dass der arme Nachbar dasselbe tut, und wird wissen, dass Gott ihn nicht mit Reichtum segnet, damit er hamstert, rafft und hortet, sondern damit er teilt.
8. Freilich – nicht jeder sieht das so. Unter Armen und Reichen gibt es Unzählige, die Gott weder bitten noch danken. Viele sind überzeugt, dass sie nur bekommen, was sie sich selbst nehmen. Sie meinen, sie lebten nicht von Gottes Güte, sondern von eigener Kraft. Und obwohl sie ihren himmlischen Vater ignorieren, ernährt er sie doch. Ist das nicht erstaunlich? Wenn man sich mal bewusst macht, wie oft man selbst schon zu bitten vergaß und trotzdem satt wurde, muss man sich wundern, wie unser Schöpfer so schlecht behandelt wird – und dennoch freundlich bleibt! Millionen seiner Geschöpfe ehren ihn nicht, sind selbstverliebt und gedankenlos, sagen nicht „bitte“ und nicht „danke“ – und werden von ihm trotzdem erhalten. Völlig zu recht will er gebeten sein! Aber wo‘s ausbleibt, hat seine Fürsorge kein Ende, sondern selbst die, die ihn nicht kennen wollen, macht er dennoch satt, damit sie nicht ganz leer ausgehen, sondern (wenn schon nicht ewig und geistlich, so doch wenigsten zeitlich und leiblich) etwas von seiner Güte spüren.
9. Gott gibt auch ohne unser Bitten in großer Milde und Geduld. Und doch folgere man daraus nicht, das Bitten sei entbehrlich! Denn durch tägliche Wiederholung übt es uns in die Gott entsprechende Haltung ein. Bitten heißt nun mal nicht zu verfügen, auf einen Anspruch zu pochen oder ein Recht einzuklagen, sondern die Hände aufzuhalten. In jeder Bitte steckt das Eingeständnis, dass ich nicht fordern kann. Und die Zumutung darin darf man nicht übersehen. Täglich bitten heißt zugeben, dass man nicht bloß vorübergehend abhängig ist, sondern prinzipiell und auf Dauer! Aber von dem abzuhängen, der gut und treu für uns sorgt, ist in Wahrheit kein Unglück. Oder hätten wir als Kinder darunter gelitten, unselbständig zu sein? Wir lebten gut und gern von dem, was unsere Eltern nach Hause brachten. Wir mussten deswegen nicht in Sorge sein. Wenn wir also Gott gegenüber immer in der Lage eines Kindes bleiben, sollen wir uns darum auch nicht grämen. Denn Gott kennt unsere Bedürfnisse. Wir dürfen nach ihm schreien wie der Säugling nach der Mutter Brust – und werden nicht vergessen. Gott hört unser Bitten. Eben das aber sei dem Himmel gedankt in Ewigkeit!
Bild am Seitenanfang: Harvesters
Anna Ancher, Public domain, via Wikimedia Commons