C. F. W. Walther (1811-1887):
Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.
Zehnte Abendvorlesung. (28. November 1884.)
So erfreulich und wichtig es ist, wenn ein Mensch zu dem Entschluß kommt, ein wahrer Christ zu werden, so ist doch dieser Entschluß kein seliger, wenn es dem sich Entschließenden kein wahrer Ernst ist. Schon viele Tausende haben sich entschlossen, die Welt zu verlassen mit Leib und Leben und den schmalen Weg der Kinder Gottes zu erwählen, nachdem sie alle Becher der Weltfreude bis auf den Boden geleert hatten; schon viele Tausende haben sich entschlossen, ihre Sünden, auch ihre liebsten, aufzugeben, nachdem sie erfahren hatten die Wahrheit jenes Wortes: „Die Sünde ist der Leute Verderben“; schon viele Tausende haben sich entschlossen, Gottes Gnade und Vergebung ihrer Sünden zu suchen, nachdem sie von ihrer Ungewißheit, ob sie bei Gott in Gnaden stehen, ob ihnen ihre Sünden vergeben seien, Tag und Nacht gepeinigt worden waren und voller Angst gewesen waren: „Wenn du heute stirbst, wirst du auch heute selig sterben?“ Und was ist geschehen? Die meisten, die diesen Entschluß gefaßt haben, haben ihn nicht ausgeführt, haben die Ausführung desselben einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr nach dem andern aufgeschoben. Es ist bei dem Entschluß geblieben, und endlich hat sie der Tod übereilt und sie sind ewig verloren gegangen. (S. 72) Warum das? Sie meinten es eben mit ihrem Entschluß nicht ernst. Gott ist ja freilich so geduldig, so freundlich und so gnädig, daß er seinen Christen täglich und reichlich ihre Schwachheitssünden und Gebrechen vergibt, aber das sind eben nur diejenigen, denen ihr Christenthum ein rechter Ernst ist. Bei wem das nicht der Fall ist, der ist eben kein rechter Christ. Daher schreibt schon der weise Sirach (Cap. 18,23.): „Willst du Gott dienen, so laß dir’s einen Ernst sein.“ Eine ähnliche Bewandtniß hat es aber auch, wenn ein Mensch sich entschließt, ein Diener Christi, ein Diener seiner Kirche und seines Worts zu werden. So wichtig und erfreulich dieser Entschluß ist, so ist er doch kein seliger Entschluß, wenn man es damit nicht ernst meint. Will einer ein Prediger werden, so muß er so gesinnt sein, daß er zu seinem HErrn Christo sagen kann: „Ach mein lieber HErr JEsu, du bist mein, darum will ich aber auch dein sein. Alles, was ich thue und habe, mein Leib und meine Seele, meine Kräfte und meine Gaben, meine ganze Lebenszeit, dir, dir soll alles gewidmet sein. Lege du mir dann auf, was du willst, ich will es gerne tragen. Führe mich überall hin, durch Leid oder Freud, durch Glück oder Unglück, führe mich durch Schande oder Ehre, führe mich durch Gunst vor den Leuten oder durch Verachtung, führe mich durch ein langes Leben oder zu einem zeitigen Tod: ich bin es alles zufrieden. Gehe du mir nur voran, ich will dir folgen!“ Daher denn auch unser lieber Paul Gerhardt singt:
„Ich hang und bleib auch hangen
An Christo als ein Glied;
Wo mein Haupt durch ist gangen,
Da nimmt er mich auch mit.
Er reißet durch den Tod,
Durch Welt, durch Sünd und Noth,
Er reißet durch die Höll,
Ich bin stets sein Gesell.“
Dieser Gesinnung war der theure Apostel Paulus nach dem ersten Augenblick, als der HErr ihm erschienen war und zu ihm geredet hatte. Da spricht er selbst, nachdem er den Befehl erhalten hatte, hin unter die Heiden zu gehen und ihnen das Evangelium von Christo zu predigen, daß er zufuhr und sich nicht besprach mit Fleisch und Blut. O wohl ihm! Seine Wirksamkeit war auch unaussprechlich gesegnet. Und nun ist er schon 1800 Jahre bei seinem Gott und Heiland vor seinem Angesicht und lobt und preist ihn in alle Ewigkeit. Ach, meine theuren Freunde, Sie sind ja alle entschlossen, in den Dienst Christi, in den Dienst seiner Kirche und seines Wortes zu treten. (S. 73) Lassen Sie sich das auch einen rechten Ernst sein, sonst ist Ihr Entschluß ein verlorner. Ja, hat Sie Gott bald zu diesem Entschluß geführt und Sie haben ihn dann doch nicht befolgt, haben bald wieder die Stimme des Heiligen Geistes in Ihrem Herzen unterdrückt, so werden alle jene seligen Augenblicke als Ankläger vor Gottes Thron erscheinen. Hingegen, wenn Sie diesen Entschluß ausführen, wohl Ihnen! Sie werden nie darüber klagen, daß Sie so viel Kummer und Angst und Noth durchgemacht haben, Sie werden sich vielmehr freuen, wenn der HErr einst mit seiner durchbohrten Hand auf Ihr Haupt die Krone der Ehren drückt. Was ist aber denn eigentlich Ihre Hauptaufgabe, wenn Sie in das heilige Amt treten wollen? Sie sollen das Gesetz und das Evangelium der Sünderwelt verkündigen, aber klar und vollständig und mit inbrünstigem Geist. Das führt uns nun zu
Thesis VI.
Gottes Wort wird zweitens nicht recht getheilt, wenn man das Gesetz nicht in seiner ganzen Strenge, das Evangelium nicht in seiner vollen Süßigkeit predigt, sondern in das Gesetz Evangelisches und in das Evangelium Gesetzliches mengt.
Unsere Aufgabe ist ja, nachzudenken über den Unterschied des Gesetzes und des Evangeliums und wie man beide zugleich so gefährlich und verderblich mit einander vermischen könne. Mit dem letzten Theil haben wir in der letzten Stunde begonnen. Die Vermischung beider Lehren kann nun aber auch so geschehen, daß man Evangelisches in das Gesetz bringt und Gesetzliches in das Evangelium. Lassen Sie uns die Schrift darüber selbst fragen. Was sagt dieselbe erstlich vom Gesetz? Womit erklärt sie uns, daß wir ja nichts Evangelisches in das Gesetz mischen sollen? Die Hauptstelle ist: Gal. 3,11.12.: „Daß aber durch das Gesetz niemand gerecht wird vor Gott, ist offenbar; denn der Gerechte wird seines Glaubens leben. Das Gesetz aber ist nicht des Glaubens; sondern der Mensch, der es thut, wird dadurch leben.“ Eine kostbare Stelle! Gerecht vor Gott wird der Mensch nur durch den Glauben. Was folgt daraus? Das Gesetz kann den Menschen nicht gerecht machen, denn das weiß nichts von einem rechtfertigenden und seligmachenden Glauben. Das steht nur im Evangelio. Das ist so viel als: „Das Gesetz weiß nichts von Gnade.“ Röm. 4,16.: „Derhalben muß die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen, auf daß sie sei aus Gnaden, und die Verheißung fest bleibe allem (S. 74) Samen; nicht allein dem, der unter dem Gesetz ist, sondern auch dem, der des Glaubens Abrahams ist, welcher ist unser aller Vater.“ – Der Glaube wird nicht deswegen von uns gefordert, daß wir wenigstens ein kleines Werk thun sollen, weil sonst gar kein Unterschied wäre zwischen denen, die in die Hölle kommen, und denen, die in den Himmel kommen; nein, die Gerechtigkeit kommt durch den Glauben, auf daß sie sei aus Gnaden. Es ist eben ein und dasselbe; wenn ich sage: „Der Mensch wird durch den Glauben gerecht vor Gott“, so will ich sagen: „Er wird umsonst, aus Gnaden, durch ein Geschenk gerecht.“ Da wird nichts vom Menschen gefordert, sondern da wird ihm zugerufen: „Greif zu, so hast du es!“ Und dieses Zugreifen ist eben der Glaube. Und wenn ein Mensch nie ein Wort vom Glauben gehört hätte, er hört aber das Evangelium, freut sich darüber und setzt seine Zuversicht darauf, nimmt es an, tröstet sich desselben, der hat den wahren rechten Glauben, obgleich er nie etwas vom Glauben gehört hat. In das Gesetz darf also nichts Evangelisches gemischt werden. Wer das Gesetz auslegt und bringt die Gnade mit hinein, die Gnade Gottes, die Freundlichkeit, die Geduld Gottes, der die Sünde vergibt, der hat das Gesetz schändlich verderbt. Der handelt wie einer, der bei einem Kranken, wenn ihm die bittere Arzenei nicht schmeckt, Zucker holt und dieselbe versüßt. Und was geschieht? Was ist die Folge? Die Arzenei wirkt nicht, der Kranke behält sein Fieber. Er hätte die Arzenei nicht verzuckern und ihr die Kraft nicht nehmen sollen. Der Prediger muß das Gesetz so predigen, daß nichts Süßes für uns verlorne, verdammte Sünder darin bleibt. Alles Süße, was man in das Gesetz hineinbringt, ist Gift, neutralisirt diese himmlische Arzenei, daß sie nicht mehr wirken kann. Matth. 5,17–19.: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch: Wahrlich, bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe. Wer nun eins von diesen kleinsten Geboten auflöset und lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber thut und lehret, der wird groß heißen im Himmelreich“ – So oft Sie das Gesetz predigen, so müssen Sie wissen: Das Gesetz läßt nichts nach. Davon weiß das Gesetz nichts; das fordert nur. Das Gesetz sagt: „Du mußt das thun! Thust du es nicht, so hilft da keine Geduld, keine Güte, keine Langmuth; du mußt zur Hölle fahren.“ Und damit es uns der HErr recht deutlich macht, sagt er: „Wer nur eins von diesen kleinsten Geboten auflöset und lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich.“ Damit ist nicht gesagt, (S. 75) daß die nun etwa ganz unten sitzen sollen, sondern die gehören gar nicht ins Himmelreich. Gal. 3,10.: „Denn die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch. Denn es stehet geschrieben: Verflucht sei jedermann, der nicht bleibet in allem dem, das geschrieben stehet im Buche des Gesetzes, daß er es thue.“ – Sobald Sie einen Menschen zu guten Werken anweisen und geben ihm einen Trost daneben und sprechen: „Du solltest freilich vollkommen sein, aber Gott verlangt nicht, was unmöglich ist. Thue nur so viel du vermagst in deiner Schwachheit, du mußt es nur aufrichtig meinen!“ so ist das eine verdammte Lehre, eine schändliche Verkehrung des Gesetzes. Davon hat Gott auf Sinai kein Wort gesagt. Röm. 7,14.: „Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist: Ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft.“ Das muß ein Prediger um Gotteswillen immer bedenken, wenn er Gesetz predigt, daß das Gesetz geistlich ist, daß das Gesetz auf den Geist wirkt, nicht auf irgend ein Glied, sondern auf den Geist, auf den Willen, aus das Herz, auf die Gesinnung des Menschen. Das ist immer der Fall. Wenn das Gesetz sagt: „Du sollst nicht tödten“, so sieht das aus, als ginge das bloß auf die Hand. Aber nein, es geht auf das Herz. Das sehen wir auch aus dem neunten und zehnten Gebot. Das gehört auch in eine rechte Predigt des Gesetzes von der Kanzel herab. Nicht daß man nur poltert über die schändlichen Laster, die vielleicht in der Gemeinde im Schwange gehen. Das ewige Poltern hilft nichts. Wenn die Leute vielleicht lassen, was gestraft worden ist, in vierzehn Tagen thun sie es wieder. Man muß wohl mit großem Ernst dagegen auftreten, aber man muß auch den Leuten sagen: „Wenn ihr auch das laßt, euer Fluchen und Schwören etc., deswegen seid ihr noch keine Christen, deswegen könnt ihr doch zur Hölle fahren. Gott ist’s darum zu thun, wie euer Herz gesinnt ist.“ Das kann man in der größten Ruhe vorlegen, aber recht klar. Da kann man sagen: „Seht, wenn Gott sagt: „Du sollst nicht tödten“, so ist damit nicht gesagt, daß ihr dann keine Mörder seid, wenn ihr mit der Hand nicht tödtet, wenn ihr niemand anfallt und beraubt und sein Leben dabei gefährdet! Meint nicht, dann hättet ihr schon das fünfte Gebot erfüllt. Nein, das Gesetz geht auf das Herz, geht auf den Geist.“ Wenn Sie das nur vorübergehend erwähnen: „Das Gesetz ist geistlich“, so bemerken das die Leute gar nicht, sondern recht gründlich müssen Sie es vorlegen. Das ist dann, wie wenn Sie ein scharfes Messer nehmen. Das schneidet hinein in das Leben und die Leute gehen nach Hause wie vor den Kopf geschlagen. Das Wort wirkt und die Leute fallen zu Hause auf ihre Kniee und sagen (S. 76) sich: „So bin ich nicht, wie Gott es haben will. Es muß ein anderer Mensch aus mir werden.“ Röm. 3,20.: „Durch das Gesetz kommt Erkenntniß der Sünde.“ – Das Gesetz hat Ihnen Gott nicht in die Hand gegeben, damit Sie die Leute fromm damit machen. Das Gesetz macht keinen fromm, sondern wenn das Gesetz anfängt, recht zu wirken, so fängt der Mensch erst recht an, wider Gott zu toben und zu wüthen. Er haßt den Prediger, der das in sein Herz hineingerufen hat, und er kann es nicht wieder los werden. So hört man auch Leute sagen: „Ach, in die Kirche gehe ich nicht wieder, da wird es einem ja angst und bange. Da gehe ich lieber hin zum Pastor N. N. Da wird es einem so wohl, da sieht man, was für ein guter Mensch man eigentlich ist.“ Ja, die werden sich in der Hölle gern wollen an ihm rächen, wenn sie dann sehen werden, wie dieser falsche Prophet sie in die Hölle gestürzt hat. Auf Sinai war nichts Freundliches, nichts Tröstliches. Schon am Tage vorher sagte Moses dem Volk Israel, Gott werde kommen. Und Gott kam unter Donner und Blitz. Sobald der Morgen graut, steigt ein furchtbares Wetter am Horizont auf. Endlich fängt der Berg an zu beben und das Volk erzittert bei diesem Beben des Berges noch mehr. Der Berg verwandelt sich in einen majestätischen Hochofen. Das Feuer schießt empor bis zum Himmel, Rauch und Dampf und Qualm steigt auf. Und nun beginnt eine große, furchtbare Posaune zu schallen, daß Berg und Thal es hört, daß alles erbebt wie von lauter Donnerkeilen. Und das Allerschrecklichste ist: Die Stimme Jehovas erschallt und sagt ihnen alle die zehn Gebote: „Du sollst! Du sollst! Du sollst!“ Und der Schluß lautet: „Ich bin ein starker eifriger Gott, der die Missethat der Väter heimsucht an den Kindern etc. „Da war in Israel alles aufgelöst in Furcht und Schrecken. Sollte das etwa so zufällig gewesen sein, daß gerade an diesem Tage ein so furchtbares Wetter aufstieg? Schon am Tage vorher macht ja Moses ein Gehege um den Berg herum, damit niemand sich dem Berge nahe, und sagt dem Volk: todt würde der niederfallen, der in dieses Gehege käme, denn es war alles im höchsten Aufruhr; niemand hätte da existiren können. Nur ein Moses konnte hinzutreten, der unter der schützenden Hand Gottes sich befand. – Da hat uns nun Gott gesagt, wie wir das Gesetz predigen sollen. Wir können ja freilich den Donner und Blitz nicht wieder mit anhören, aber geistlich können wir das thun. O wie heilsam ist eine Predigt, wenn man in der Kirche sitzt und der Prediger fängt an mit dem Gesetz in seiner ganzen Schärfe und legt es in seinem geistlichen Sinn aus! Da sitzen dann viele da und denken: „Wenn der Mann recht hat, so bist du verloren!“ „Mancher meint freilich: „Ja, so soll ein evangelischer (S. 77) Prediger doch nicht handeln!“ Ja freilich soll er so handeln, sonst ist er kein evangelischer Prediger. Wenn das Gesetz nicht vorhergeht, so hat das Evangelium keine Wirkung. Erst Moses, dann Christus; oder erst Johannes der Täufer, dann Christus! Da denken die Leute erst: „O wie schrecklich ist das doch!“ Und nun kommt der Prediger mit leuchtenden Augen auf das Evangelium. Nun freuen sich die Leute und sehen, warum der Prediger das hat vorangehen lassen, damit sie nämlich sehen sollten, wie beschmutzt sie seien mit Sünden. Und so müssen Sie es auch mit der Katechese machen. Mischen Sie ja nichts Evangelisches in die Katechese hinein, wenn Sie vom Gesetz handeln, höchstens am Schluß! Denn den kleinen Kindern muß es auch angst und bange werden, die müssen das auch erfahren. Daher kommt es auch, daß so viele denken, sie sind ganz gute Christen, aber sie sind elende Pharisäer, und die Eltern haben sie dazu groß gezogen, ihre Eltern haben sie nicht zu armen Sündern gemacht. Wenn einer auch in die schrecklichsten Sünden gefallen ist, so denkt er doch, wenn er das Gesetz hört: „Du bist doch ein schrecklicher Sünder!“ während jener Pharisäer viel tiefer gesunken ist. Solche Pharisäer können viel schwerer bekehrt werden. Das war vor allem das Hauptverderben der Juden zur Zeit Christi, und das ist das Hauptverderben im Pabstthum bis auf diesen Tag. Die Juden hatten Evangelisches in das Gesetz gebracht, indem sie sagten: „Wenn du nicht mit der Hand tödtest, so bist du kein Mörder! Wenn du nicht in öffentliche Hurerei fällst, so bist du auch kein Ehebrecher!“ Selbst die böse Lust erklärte man für etwas ganz Natürliches. Die Papisten sagen auch dasselbe. Sie müssen freilich gestehen, in Christi Auslegung des Gesetzes werde manches genannt, was man nicht unter die groben Thaten gegen das Gesetz rechnen könne, aber das seien nur gute Rathschläge, die man befolgen könne, wenn man ganz hoch hinauf kommen wollte in den Himmel. Das nennen sie dann überflüssige gute Werke. Luther schreibt zu den Worten: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht tödten“ etc. (W. VII, 640 ff.): „Hier nimmt er nun etliche von den zehn Geboten vor sich, recht zu erklären, und zeigt an, wie sie, die Pharisäer und Schriftgelehrten, nicht anders gelehrt noch weiter getrieben und gedeutet haben, denn wie die bloßen Worte da liegen und lauten, von den äußerlichen, groben Werken. Als, erstlich in diesem fünften Gebot haben sie nicht mehr angesehen denn das Wort „tödten“, daß es heiße, mit der Hand todtschlagen, und die Leute lassen darauf bleiben, als wäre hier nichts weiter verboten; und dazu einen schönen Deckel gemacht, daß sie des Todtschlags nicht schuldig wären (S. 78) obgleich jemand einen andern zum Tode überantwortete, wie sie Christum dem Heiden Pontio Pilato überantworteten, wollten ihre Hände nicht mit Blute besudeln, daß sie rein und heilig blieben, so hoch, daß sie auch nicht in des Richters Haus wollten gehen, und doch allein die waren, so ihn zum Tode brachten, und Pilatum wider seinen Willen dahin drangen, daß er ihn tödten mußte, Joh. 18,28. ff. Noch gingen sie hin, als wären sie ganz rein und unschuldig, daß sie auch die Apostel, Apost. 5,28., darum straften und sprachen: „Ihr wollt dieses Menschen Blut über uns führen.“ Als sollten sie sagen: Haben doch nicht wir, sondern die Heiden ihn getödtet. Also liest man von dem König Saul 1 Sam. 18,25. ff. Der war David gram und hätte ihn gerne umbracht; weil er aber wollte heilig sein, gedachte er, er wollte ihn nicht selbst tödten, sondern unter die Philister schicken, daß er daselbst umkäme, und seine Hand unschuldig wäre an ihm.“ – Nur den groben Wortverstand des fünften Gebots hatten die Juden genommen. „Wenn ihr das und das laßt“, sagten die Lehrer des Volks, „dann seid ihr gute Erfüller des fünften Gebots.“ Diese großen Rühmer des Gesetzes haben das Gesetz selbst ausgeleert und nur die äußere Schale behalten. Das geschieht auch noch jetzt bei den Rationalisten. Solche Rationalisten gehen darauf aus, nur ihr ehrbares Leben zu bewahren, sich nicht in schändliche Laster hineinzustürzen, deren sich jeder Bürger schämen muß. Sie gehen immer darauf aus, nur Ehrbarkeit zu predigen. Das kommt aber auch bei sogenannten christlichen Predigern vor. Auch die Papisten sind darin den Pharisäern gefolgt, und sind diesen so ähnlich wie ein Ei dem andern. Die Papisten sagen auch: „Ecclesia non sitit sanguinem. Es sind wohl viele getödtet worden, welche unsere Feinde waren, welche Ketzer waren, aber das haben wir nicht gethan, das hat die Obrigkeit gethan.“ Aber wenn die Obrigkeit es nicht thun wollte, so wurde sie in den Bann gethan. Sie wollen ihre Hände rein waschen in dem Blut der Märtyrer, aber sie werden sich nicht rein waschen können. Sie werden einst mit diesem Blut, diesem Zeugen, vor Gott erscheinen. So war es auch bei den Juden. Hätten sie erkannt, was der geistliche Sinn des Gesetzes sei, so hätten sie auch erkannt: „Ja wir sind es, die Christum tödteten; denn wir sind es ja, die gerufen haben: Kreuzige, kreuzige ihn.“ – Luther schreibt weiter: „Siehe, das ist die schöne Pharisäerheiligkeit, die sich kann rein machen, und fromm bleiben, wenn sie nur nicht selbst mit der Hand tödtet, obgleich das Herz voll Zorn, Haß und Neids, und heimlicher böser und mördischer Tücke steckt, dazu die Zunge voll Fluchens und Lästerns. Wie auch unserer Papisten Heiligkeit ist, welche sind in diesem Capitel eitel Meister worden. Und daß ihre Heiligkeit nicht gestraft würde, noch Christi Wort sie bände, (S. 79) haben sie ihm fein geholfen und wohl zwölf Räthe draus gezogen, daß Christus solches alles nicht geboten habe als nöthig, sondern zu eines jeglichen Gefallen gesetzt, als einen guten Rath zu halten, wer was Sonderliches vor andern verdienen will; daß es sei ganz eine überflüssige Lehre, deren man wohl möchte entbehren. Fragst du sie aber, aus was Ursach sie solche Räthe draus machen, oder womit sie es beweisen? so sprechen sie: Ei, wenn man also sollte lehren, das hieße nimis onerativum legis christianae, das ist, es wäre die Christenheit zu hoch beschweret, wie die von Paris öffentlich und unverschämt wider mich geschrieben haben. Ja, wahrlich eine schöne Ursache und große Beschwerung, daß ein Christ sollte seinem Nächsten freundlich sein, und nicht lassen in Nöthen, wie ein jeglicher wollte, daß ihm geschähe. Und weil sie es zu schwer dünkt, muß es nicht geboten heißen, sondern in freier Willkür stehen, wer es gerne thun will; wer es aber nicht thun will oder kann, soll nicht damit beschwert sein. So soll man Christo ins Maul greifen, sein Wort meistern, und daraus machen, was uns gefällt. Er wird sich aber nicht so täuschen lassen, noch sein Urtheil widerrufen, das er hier gestellt und gesagt hat: wer nicht eine bessere Frömmigkeit habe, dem soll der Himmel zugeschlossen, und verdammt sein, und, wie hernach folgt, auch der des höllischen Feuers schuldig sei, wer zu seinem Bruder sagt: Du Narr. Aus welchem wohl zu rechnen ist, ob es gerathen oder geboten sei.“ Wenn Christus sagt: „So jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und so dich jemand nöthiget eine Meile, so gehe mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will“, da sagen die Papisten: „Das hat wohl Christus gesagt, aber das sind nur evangelische Rathschläge. Wenn es sich darum handelt, wer in den Himmel kommen soll, so muß man das Gesetz halten; wenn es aber darauf ankommt, wer recht hoch hinaufkommen will in den Himmel, so muß der auch noch diese Rathschläge befolgen.“ Chemnitz zählt diese Rathschläge auf (Loci theol. P. II, fol. 104). Die überflüssigen Werke sind ja der Schatz, wovon der Pabst austheilt. Daraus ertheilt er seinen Ablaß. Es sind im Ganzen zwölf Rathschläge. Erstens: freiwillige Armuth. Wenn nämlich Christus sagt: „Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben“, so sagen sie, das sei bloß ein guter Rath gewesen; die in das Kloster gehen, die haben diesen Rath befolgt. Zweitens: Ehelosigkeit. Das nehmen sie aus Matth. 19,12.: „Denn es sind etliche verschnitten, die sind aus Mutterleibe also geboren; und sind etliche verschnitten, die von Menschen verschnitten sind; und sind etliche verschnitten, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs (S. 80) willen.“ Da sagen sie: „Seht, diese Mönche und Nonnen haben diesen guten Rath befolgt“, oder wie sie sagen: „sie leben in Keuschheit.“ Drittens: Unbedingter Gehorsam dem Ordensherrn gegenüber. Diesen guten Rath haben auch die Mönche und Nonnen befolgt. Viertens: sich nicht rächen. Man sollte nicht glauben, daß jemand in der christlichen Kirche aufstehen könnte und sagen: „Das ist nur ein guter Rath! Man könnte sich wohl rächen, aber wenn man sich nicht rächt, so ist das ein herrliches gutes Werk.“ Fünftens: Beleidigungen geduldig ertragen. Sechstens: Almosen geben. Siebentens: Nicht schwören. Achtens: Die Gelegenheit zur Sünde meiden. Ganz entsetzlich! Man braucht also nicht alle Gelegenheit zur Sünde zu meiden, aber wenn man es thut, so steht man hoch oben. Neuntens: Bei seinen Werken die rechte Absicht haben. Also, wenn du ein gutes Werk thust, so magst du es aus irgend einem Motiv thun, so ist es ein gutes Werk; aber wenn du die rechte Absicht dabei hast, dann bist du ein besonders heiliger Mann. Zehntens: Thun, was Christus sagt Matth. 23,3.: „Sie sagen es wohl und thun es nicht“, und Matth. 7,5.: „Ziehe am ersten den Balken aus deinem Dinge.“ Elftens: Nicht sorgen um das Zeitliche. Das ist auch nur ein guter Rath bei den Papisten! Zwölftens: Den Bruder strafen. Eine eigentliche Pflicht ist es nicht, denn es gehört nicht zum Gesetz! – Sie können sehen, wie greulich hier das Gesetz verderbt ist, ja, wie der eigentliche Geist des Gesetzes herausgenommen ist. Die Papisten meinen, das alles zu befolgen, wäre doch zu viel verlangt, wenn es alle thun sollten. Denn nicht alle können in das Kloster gehen. Wer wollte dann für Brod und Fleisch sorgen? Nein, das wäre zu viel verlangt. Es ist ganz erschrecklich! Als die Jesuiten dann aufgetreten sind, haben sie erklärt: Die arme Christenheit sei bis jetzt zu sehr beschwert gewesen durch die Moral; darum hätten sie sich zusammengeschlossen und der Christenheit die schwerste Moral abgenommen. Das haben sie auch glücklich ausgeführt, so daß der infamste Bube ein guter Christ sein kann nach ihrer Moral. Ihre Moral ist eben ein umgekehrter Dekalog, daß sie alle schrecklichen Greuel thun können, wenn einer eine gute Absicht hat. Da kann man auch seinen Vater vergiften, wenn man nur die gute Absicht hat, ihn zu beerben. Wenn Christus aber sagt: „Wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig! Wer das Gesetz nicht geistlich erfüllt, der ist der Hölle werth“, so stößt er diese ganze Papisten- und Jesuitenmoral um. (S. 81)